Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 06.02.2013, Az.: 11 A 4259/12

Anspruch auf eine Abschiebung nach Polen nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
06.02.2013
Aktenzeichen
11 A 4259/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 38426
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2013:0206.11A4259.12.0A

Fundstelle

  • AUAS 2013, 53-55

In der Verwaltungsrechtssache
des Herrn Z.,
....................,
Kläger,
Proz.-Bev.: Rechtsanwältin Franz,
Stadtwaldgürtel 7, 50935 Köln,
gegen
den Landkreis Ammerland, vertreten durch den Landrat,
Ammerlandallee 12, 26655 Westerstede, - ............. -
Beklagter,
Streitgegenstand: Abschiebung
hat das Verwaltungsgericht Oldenburg - 11. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 6. Februar 2013 durch ...sowie die ehrenamtlichen Richter ................. und ...........
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger verlangt vom Beklagten, nach Polen abgeschoben zu werden. Er ist polnischer Staatsbürger und reiste im Jahre 2006 nach Deutschland ein, wo er zunächst in K. lebte.

Am 7. Januar 2008 stach er unter dem Einfluss von Wahnvorstellungen, die auf eine paranoid-halluzinatorische Psychose zurückgehen, im ICE von H. nach H. eine Zugbegleiterin ohne Anlass nieder. Das Landgericht Lüneburg qualifizierte diese Tat in seinem Urteil vom 2. Juli 2008 - 27 Ks 4/08 - als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, sprach den Kläger jedoch wegen Schuldunfähigkeit frei. Weil vom Kläger aufgrund seiner Krankheit auch in Zukunft weitere schwere Straftaten zu erwarten seien, ordnete es die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung nach § 63 StGB an. Der Bundesgerichtshof wies die Revision des Klägers mit Beschluss vom 16. Dezember 2008 - 3 StR 480/08 - zurück. Die Unterbringungsanordnung wurde seither mehrfach verlängert, zuletzt vom Landgericht Oldenburg mit Beschluss vom 27. November 2012 - 51 StVK 52/12 -.

Mit Bescheid vom 3. August 2009 stellte die Stadt Lüneburg den Verlust des Freizügigkeitsrechts des Klägers gem. § 6 Abs. 1 FreizügG/EU aus Gründen der öffentlichen Sicherheit fest. Dem Kläger wurde eine Ausreisefrist von einem Monat gesetzt und die Abschiebung nach Polen angedroht. Die Klage gegen die Verlustfeststellung blieb erfolglos (vgl. VG Lüneburg, Urteil vom 28. Januar 2011 - 3 A 176/09).

Am 8. April 2010 lieferte die Generalstaatsanwaltschaft Celle den Kläger aufgrund eines Europäischen Haftbefehls nach Polen aus, mit der Maßgabe, dass er nach dem Abschluss des dortigen Strafverfahrens wieder zur weiteren Vollstreckung der vom Landgericht Lüneburg angeordneten Maßregel nach Deutschland zurücküberstellt wird. Der Kläger wurde am 30. Juni 2010 in Polen wegen Körperverletzung und Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Am 13. Oktober 2010 wurde er zurück nach Deutschland überstellt. Seither wird die Maßregel im Gebiet des Beklagten in der K. vollzogen.

Der Beklagte fragte unter dem 11. November 2011 bei der Staatsanwaltschaft Lüneburg an, wann mit einer Entlassung des Klägers zu rechnen sei und kündigte an, ihn danach abzuschieben. Die Staatsanwaltschaft teilte am 9. Dezember 2011 mit, dass das Landgericht Oldenburg die Fortdauer der Unterbringung angeordnet habe. Auf eine weitere Nachfrage des Beklagten vom 15. März 2012 teilte die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 29. März 2012 mit, dass eine Unterbringung nach § 63 StGB grundsätzlich unbefristet und ihr Ende daher ungewiss sei. Da der Kläger aber nach wie vor als gefährlich eingeschätzt werde, sei eine Entlassung in nächster Zeit nicht zu erwarten.

Mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 5. April 2012 wies der Kläger den Beklagten darauf hin, dass ihm nach der bestandskräftigen Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts kein Aufenthaltsrecht mehr zustehe. Er sei mit einer Abschiebung nach Polen inzwischen auch einverstanden. Der Beklagte antwortete daraufhin mit Schreiben vom 25. April 2012, dass die Abschiebung erst nach Verbüßung der "Strafhaft" vorgesehen sei. Dieser Zeitpunkt sei noch nicht absehbar. Mit Schreiben vom 30. April 2012 wies die Prozessbevollmächtigte des Klägers darauf hin, dass ihr Mandant sich nicht in Strafhaft befinde, sondern in einer psychiatrischen Klinik untergebracht sei. Nach einem handschriftlichen Vermerk des Beklagten in der Ausländerakte vom 3. Juli 2012 soll der Kläger erst abgeschoben werden, "wenn OVG Lüneburg Mitteilung sendet, dass [er] entlassen wird." Mit Schreiben vom 10. Juli 2012 wies die Prozessbevollmächtigte des Klägers den Beklagten erneut auf den Unterschied zwischen einer Strafhaft und der Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung hin. Das Verhalten des Beklagten widerspreche den Intentionen der früher zuständigen Ausländerbehörde, die die Verlustfeststellung gerade erlassen habe, damit der Kläger nach Polen abgeschoben wird.

Der Kläger hat am 27. August 2012 Klage erhoben.

Zur Begründung weist er darauf hin, dass es die vom Beklagten geforderte "Verbüßung" einer Strafe nicht geben könne, da gegen ihn keine Freiheitsstrafe, sondern eine Maßregel der Besserung und Sicherung verhängt worden sei. Die Ausländerbehörde in Lüneburg und das dortige Verwaltungsgericht hätten im Verlustfeststellungsverfahren zurecht darauf hingewiesen, dass es in der Verantwortung seines Heimatlandes liege, wie sich die Dinge nach einer Abschiebung entwickeln.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, ihn nach Polen abzuschieben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er wiederholt, dass die Abschiebung erst erfolgen werde, wenn der Kläger aus der Psychiatrie entlassen werde. Nach den Beschlüssen des Landgerichts Oldenburg über die Fortdauer der Unterbringung gehe vom Kläger nach wie vor ein hohes Risiko aus. Bis zum erfolgreichen Abschluss der Therapie sei die Vollstreckung der Maßregel fortzusetzen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage zulässig.

Es handelt sich vorliegend um eine allgemeine Leistungsklage und nicht um eine Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO. Die vom Kläger begehrte Abschiebung nach Polen, d.h. der rein tatsächliche Vorgang des Verbringens seiner Person dorthin, ist kein Verwaltungsakt (vgl. § 35 VwVfG), sondern ein Realakt (vgl. Funke-Kaiser, GK-AufenthG, Stand: September 2012, § 58 Rn. 67).

Die auch bei allgemeinen Leistungsklagen analog § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis (vgl. Kopp/ Schenke, VwGO, 17. Aufl., § 42 Rn. 62) besitzt der Kläger. Denn es besteht die Möglichkeit, dass er durch die Weigerung des Beklagten, ihn derzeit nach Polen abzuschieben, in seinen eigenen subjektiven Rechten verletzt sein könnte. Zwar dient das Instrument der Abschiebung in erster Linie der Durchsetzung des Aufenthaltsrechts im öffentlichen Interesse. Jedenfalls bei inhaftierten oder in anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen untergebrachten Ausländern ist es aber nicht ausgeschlossen, dass ihnen ein subjektiver Rechtsanspruch gegen die Ausländerbehörde auf unverzügliche Abschiebung zusteht (so stillschweigend auch VGH München, Beschluss vom 3. November 2006 - 19 CE 06.1687 -, [...], wo einem entsprechenden Antrag eines Ausländers nach § 123 VwGO stattgegeben wurde). Denn die Abschiebung ist für diesen Personenkreis die einzige Möglichkeit, die gesetzliche Ausreisepflicht zu erfüllen. Hat die Staatsanwaltschaft gem. § 456a Abs. 1 StPO erklärt, dass im Falle einer Abschiebung von der weiteren Vollstreckung der Freiheitsentziehung abgesehen werde, ist sie auch der einzige Weg für den Betroffenen, seine Freiheit alsbald wiederzuerlangen,

Das erforderliche allgemeine Rechtsschutzbedürfnis besteht ebenfalls. Der Beklagte hat durch sein Schreiben vom 30. April 2012 und den Vermerk vom 3. Juli 2012 deutlich gemacht, dass er den Kläger derzeit nicht abschieben will. Daher ist die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes erforderlich, wenn der Kläger sein Ziel weiter verfolgen will.

Die Klage ist aber unbegründet. Der Kläger hat derzeit keinen Anspruch gegen den Beklagten, nach Polen abgeschoben zu werden.

Die Voraussetzungen für eine Abschiebung nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. §§ 58 ff. AufenthG liegen derzeit nicht vor. Denn die Abschiebung des Klägers nach Polen ist derzeit aus rechtlichen Gründen unmöglich, so dass er in Deutschland geduldet werden muss (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG).

Der Kläger ist nach § 63 StGB in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht. Eine solche Unterbringung gehört nach § 61 Nr. 1 StGB zu den Maßregeln der Sicherung und Besserung. Der Regelung des § 456a StPO kann mittelbar entnommen werden, dass ein Ausländer, gegen den eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung vollstreckt wird, von der Ausländerbehörde nur abgeschoben werden darf, wenn die Vollstreckungsbehörde von der weiteren Vollstreckung absieht (vgl. Gutmann, in: GK-AufenthG, § 72 Rn. 40; OVG Hamburg, Beschluss vom 4. Februar 2005 - 4 Bs 518/04 -, InfAuslR 2005, 198 ff. - zit. nach [...] Rn. 25; vgl. ferner VG München, Beschluss vom 12. September 2006 - M 10 E 06.2717 - [...] Rn. 18 f.; VG Braunschweig, Beschluss vom 16. Februar 2006 - 5 B 623/05 -, [...] Rn. 26, wo die fehlende Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 456a StPO als der Abschiebung entgegenstehendes Hindernis bezeichnet wird). Vor dem Absehen von der Vollstreckung nach § 456a StPO hindert der staatliche Vollstreckungsanspruch objektiv-rechtlich die Abschiebung (VGH Kassel, Beschluss vom 11. Oktober 2007 - 7 TG 1849/07 -, [...] Rn. 3; vgl. auch VG Augsburg, Urteil vom 31. Oktober 2011 - Au 6 K 10.1896 -, [...] Rn. 24, wonach eine Inhaftierung einen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG begründen kann). Zwar sind die vorstehend zitierten Gerichtsentscheidungen zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen ergangen, jedoch gelten sie in gleicher Weise für die Vollstreckung der Unterbringung in einer Psychiatrie nach § 63 StGB. Denn § 456a Abs. 1 StPO bezieht sich nach seinem ausdrücklichen Wortlaut unterschiedslos sowohl auf Freiheitsstrafe als auch auf Maßregeln der Sicherung und Besserung (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 25. November 2005 - 2 BvR 1368/05 - [...] Rn. 7; OLG Oldenburg, Beschluss vom 29. Juni 2000 - 1 Ws 316/00, StV 2001, 25 f.).

Der Kläger müsste also zunächst auf eine Beseitigung des derzeit aus § 456a StPO folgenden Abschiebungshindernisses hinwirken, in dem er bei der zuständigen Staatsanwaltschaft das Absehen von der Vollstreckung der Maßregel nach dieser Norm beantragt (vgl. zur Antragsbefugnis des Betroffenen etwa KG, Beschluss vom 9. März 2012 - 4 VAs 10/12 u.a. -, [...] Rn. 1; Appl, Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 456a Rn. 3a). Wird der Antrag abgelehnt, stünde ihm dagegen der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten nach §§ 23 ff. EGGVG offen (vgl. KG, Beschluss vom 9. März 2012 - 4 VAs 10/12 u.a. -, [...] Rn. 2; Appl, aaO., § 456a Rn. 5).

Erst wenn die Staatsanwaltschaft (gegebenenfalls nach Verpflichtung durch das Oberlandesgericht) von der Vollstreckung der Maßregel gem. § 456a StPO mit Wirkung zum Zeitpunkt der Abschiebung absieht, hat der Kläger - das Vorliegen der übrigen Abschiebungsvoraussetzungen unterstellt - einen verwaltungsgerichtlich durchsetzbaren Anspruch gegen die Ausländerbehörde, unverzüglich abgeschoben zu werden (vgl. VGH München, Beschluss vom 3. November 2011 - 19 CE 06.1687 - [...]). Denn dies ist für ihn dann der einzige Weg, seine gesetzliche Ausreisepflicht zu erfüllen sowie in den Genuss des von der Staatsanwaltschaft gewährten Absehens von der Vollstreckung zu kommen. Im Hinblick auf mögliche zukünftige Streitigkeiten weist die Kammer darauf hin, dass die für Unionsbürger faktisch bestehende Möglichkeit zur illegalen Rückkehr nach Deutschland für die Ausländerbehörde kein Grund sein kann, die gesetzlich zwingend vorgeschriebene Abschiebung (vgl. § 11 Abs. 2 FreizügG/ EU; § 58 AufenthG - "ist abzu-schieben") trotz einer positiven Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 456a StPO nicht durchzuführen (vgl. VGH München, aaO., [...] Rn. 22). Gleiches gilt für die Gefahr weiterer Rechtsgutsverletzungen in Polen, denn es ist gerade das Wesen ausländerrechtlicher Ordnungsmaßnahmen, die vom Ausländer ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit sowie die Verantwortlichkeit für deren Bekämpfung in den Heimatstaat des Ausländers zu verlagern (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 16. Januar 2004 - 1 K 560/02 - [...] Rn. 16). Die vorgenannten Aspekte können allerdings von der Staatsanwaltschaft bzw. den Strafvollstreckungsgerichten bei ihrer Entscheidung, ob ein Absehen von der weiteren Vollstreckung der Maßregel verantwortbar ist, berücksichtigt werden (vgl. KG, Beschluss vom 9. März 2012 - 4 VAs 10/12 u.a. -, [...] Rn. 7; bezogen auf § 67d Abs. 2 StGB auch OLG Celle, Beschluss vom 25. Juli 1989 - 1 Ws 183/89 -, NStZ 1989, 589 f. - [...] Rn. 6).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11 ZPO.