Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 22.08.2013, Az.: 6 K 187/13
Erlöschen des Kindergeldanspruchs für ein volljähriges Kind nach dessen Eheschließung bei nachrangiger Unterhaltsverpflichtung der Eltern
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 22.08.2013
- Aktenzeichen
- 6 K 187/13
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2013, 44628
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2013:0822.6K187.13.0A
Rechtsgrundlagen
- § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG
- § 62 EStG
- § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG
Amtlicher Leitsatz
Trotz nachrangiger Unterhaltsverpflichtung der Eltern erlischt der Kindergeldanspruch für ein volljähriges Kind nicht nach dessen Eheschließung.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Festsetzung des Kindergeldes ab Juni 2012 für seine volljährige verheiratete Tochter. Streitig ist insbesondere, ob der Kindergeldanspruch nach der Eheschließung der Tochter entfallen ist, weil ab diesem Zeitpunkt der Kläger nur noch nachrangig unterhaltsverpflichtet ist.
Der Kläger ist der leibliche Vater seiner Tochter A. Diese ist am ... 1992 geboren und seit dem ... Mai 2012 verheiratet. Sie absolvierte nach Abschluss der Realschule im Sommer 2010 im Zeitraum 3. August 2010 bis 8. Juli 2013 eine Ausbildung zur Friseurin.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 13. August 2010 Kindergeld für seine Tochter A. Nachdem die Beklagte Kenntnis von der Heirat der Tochter A erlangt hatte, kam sie zu der Ansicht, dass dem Kläger aufgrund der Heirat und der Höhe der Einkünfte des Ehemannes der Tochter A kein Kindergeld mehr zustehe. Dementsprechend hob die seinerzeit zuständige Familienkasse B mit Bescheid vom 21. Mai 2012 gegenüber dem Kläger das Kindergeld für A ab Juni 2012 nach § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger form- und fristgerecht Einspruch ein. Im Rahmen des Einspruchsverfahrens legte der Kläger Verdienstbescheinigungen seiner Tochter und deren Ehemann vor, nach deren Inhalten die Tochter im Jahr 2012 insgesamt eine Bruttoausbildungsvergütung i.H.v. 5.740,88 EUR sowie ihr Ehemann einen Bruttolohn i.H.v. 30.311,96 EUR erhalten hatten.
Der Einspruch hatte keinen Erfolg; die inzwischen zuständig gewordene Beklagte wies den Einspruch durch Einspruchsbescheid vom 22. Mai 2013 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte die Beklagte aus, die Höhe der Unterhaltsleistungen, die die Tochter A von ihrem Ehegatten beanspruchen könne, schließe einen Kindergeldanspruch nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG aus. Die Beklagte vertrat die Ansicht, nach der Eheschließung sei davon auszugehen, dass die Unterhaltsverpflichtung vorrangig beim Ehepartner liege, so dass ab dem Folgemonat der Eheschließung grundsätzlich kein Kindergeldanspruch der Eltern mehr bestehe. Ein sog. "Mangelfall" liege nicht vor.
Hiergegen hat der Kläger am 5. Juni 2013 Klage erhoben. Zur Begründung vertritt der Kläger die Ansicht, nach Änderung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 vom 1. November 2011 (Bundesgesetzblatt - BGBl - I 2011, 2131) seien die Höhe der Ausbildungsvergütung des Kindes sowie die Höhe eines Unterhaltsanspruchs gegen den Ehepartner für den Kindergeldanspruch irrelevant.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab Juni 2012 vom 21. Mai 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. Mai 2013 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihrer im Einspruchsbescheid vertretenen Rechtsauffassung fest und verweist auf die dortigen Ausführungen.
Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -; Schriftsatz des Klägers vom 17. Juli 2013, Bl. 16 der Gerichtsakte; Schriftsatz der Beklagten vom 5. Juli 2013, Bl. 15 der Gerichtsakte).
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Der angefochtene Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab Juni 2012 vom 21. Mai 2012 in Gestalt des Einspruchsbescheids vom 22. Mai 2013 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Beklagte hat im Rahmen des § 70 Abs. 2 EStG zu Unrecht den Anspruch des Klägers auf Kindergeld für seine Tochter A ab Juni 2012 verneint. Sie ist unzutreffend davon ausgegangen, dass dem Kläger nach der Eheschließung des Kindes kein Anspruch auf Kindergeld zustehe.
1. Die Beklagte war nicht berechtigt, den Bescheid vom 13. August 2010 über die Gewährung von Kindergeld aufzuheben.
a) Nach § 70 Abs. 2 EStG ist die Festsetzung des Kindergeldes mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern, soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten.
b) Diese Voraussetzung liegt im Streitfall nicht vor. Mit der Heirat der Tochter ist keine Änderung eingetreten, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich ist.
Der Kläger hat für den Zeitraum ab Juni 2012 weiterhin Anspruch auf Kindergeld für seine Tochter A.
aa) Gemäß §§ 62, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG besteht Anspruch auf Kindergeld für volljährige Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres, wenn das Kind für einen Beruf ausgebildet wird.
Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben, da die volljährige Tochter A sich im Zeitraum Juni 2012 bis Mai 2013 in einer Berufsausbildung befand und das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.
Die Einschränkung nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der ab 2012 gültigen Fassung, wonach ein Kind nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung und eines Erststudiums nur dann berücksichtigt wird, wenn es keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, greift im Streitfall nicht, da es sich um eine Erstausbildung handelt. Ein vorangegangener Besuch der Realschule erfüllt zwar den Berücksichtigungstatbestand der Berufsausbildung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG, stellt aber keine "erstmalige Berufsausbildung" im Sinne der enger auszulegenden Vorschrift des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG dar (Urteil des FG Münster vom 30. November 2012 4 K 1569/12 Kg, EFG 2013, 298).
bb) Der Kindergeldanspruch scheitert - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht an der Höhe der Unterhaltsleistungen, die die Tochter A von ihrem Ehegatten beanspruchen könnte. Eine solche Einschränkung enthält das Gesetz nicht.
Die Höhe der Ausbildungsvergütung der Tochter ist für den Kindergeldanspruch nicht maßgeblich, da die in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der bis zum 31. Dezember 2011 gültigen Fassung (EStG a. F.) enthaltene Regelung zum 1. Januar 2012 entfallen ist (Art. 1 Nr. 17 Buchst. a, Art. 18 Abs. 1 des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 vom 1. November 2011, BGBl I 2011, 2131). Gleiches gilt für den Unterhaltsanspruch der Tochter gegen ihren Ehemann nach §§ 1608 Satz 1, 1360, 1360a des Bürgerlichen Gesetzbuches, der bis 2011 zu den maßgeblichen Einkünften und Bezügen gehörte (vgl. BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2011 III R 8/08, BStBl II 2012, 340).
Die Einkünfte des Ehemannes der Tochter sind für den Kindergeldanspruch des Klägers ebenfalls nicht von Bedeutung. Ob ein sog. "Mangelfall" vorliegt, ist unerheblich, weil der Umstand, dass die Tochter verheiratet ist, dem Kindergeldanspruch nicht entgegensteht. Für verheiratete Kinder sieht das Gesetz keinerlei Einschränkungen vor. Der Kindergeldanspruch setzt entgegen der früheren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) keine "typische Unterhaltssituation" voraus. Nach diesem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal war ein Kindergeldanspruch nicht gegeben, wenn ein Kind verheiratet war und kein sog. "Mangelfall" vorlag (BFH-Urteile vom 19. April 2007 III R 65/06, BStBl II 2008, 756) oder das Kind einer Vollzeitbeschäftigung nachging (BFH-Urteile vom 20. Juli 2006 III R 78/04, BFH/NV 2006, 2248 und III R 58/05, BFH/NV 2006, 2249 [BFH 20.07.2006 - III R 58/05]).
Das Erfordernis des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der "typischen Unterhaltssituation" hat der BFH in seiner neueren Rechtsprechung - jedenfalls für die Fälle der Vollzeitbeschäftigung - ausdrücklich aufgegeben (BFH-Urteile vom 17. Juni 2010 III R 34/09, BStBl II 2010, 982; vom 27. Januar 2011 III R 57/10, BFH/NV 2011, 1316; vom 22. Dezember 2011 III R 64/10, BFH/NV 2012, 927 [BFH 22.12.2011 - III R 64/10]; III R 65/10, BFH/NV 2012, 929 [BFH 22.12.2011 - III R 65/10]; III R 67/10, BFH/NV 2012, 930 [BFH 22.12.2011 - III R 67/10]; III R 93/10, BFH/NV 2012, 932 [BFH 22.12.2011 - III R 93/10] und III [BFH 05.09.2011 - X B 144/10] R 66/10, BFH/NV 2012, 1301 [BFH 22.12.2011 - III R 66/10]). Zur Begründung führt der BFH aus, dass eine typische Unterhaltssituation kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Berücksichtigungstatbestände sei. Die Frage, ob ein Kind typischerweise nicht auf Unterhaltsleistungen seiner Eltern angewiesen ist, sei nach der gesetzlichen Regelung erst im Rahmen der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a. F.) zu prüfen.
Der Senat schließt sich der geänderten Rechtsprechung an. Mangels gesetzlicher Regelung kann das Fehlen einer typischen Unterhaltssituation einen nach dem Gesetz bestehenden Kindergeldanspruch nicht ausschließen. Daran hat sich mit dem Wegfall der Prüfung der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes zum 1. Januar 2012 nichts geändert. Nach der gesetzgeberischen Entscheidung ist Kindergeld nunmehr bei Vorliegen eines Berücksichtigungstatbestandes unabhängig von der Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes zu gewähren. Dabei hat der Gesetzgeber eine Ausweitung der Begünstigungsfälle bewusst in Kauf genommen. Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs soll diese Ausweitung den Umfang der begünstigten Fälle nicht wesentlich erweitern. Der Wegfall des Grenzbetrages soll vielmehr zu einer erheblichen Entlastung von Eltern, volljährigen Kindern, Familienkassen und Finanzämtern führen (Bundestags-Drucksache 17/5125, 41). Das Erfordernis einer typischen Unterhaltssituation, die sich durch die Höhe des eigenen Einkommens des Kindes ausdrückt, ist bereits nicht mehr gesetzliche Voraussetzung. Dieser gesetzgeberischen Entscheidung liefe das Erfordernis eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals "typische Unterhaltssituation" zuwider. Hätte der Gesetzgeber den Kindergeldanspruch für verheiratete Kinder ausschließen wollen, hätte er einen entsprechenden Ausschlusstatbestand eingeführt (für alles Urteil des FG Münster vom 30. November 2012 4 K 1569/12 Kg, EFG 2013, 298; so auch Sächsisches FG, Urteile vom 13. Juni 2013 2 K 458/13 (Kg), [...], und vom 3. Juli 2013 8 K 1201/12 (Kg), [...]).
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
4. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage der Kindergeldberechtigung für verheiratete Kinder nach Wegfall des Grenzbetrags zuzulassen (§ 115 Abs. 2 FGO). Zudem widerspricht die Entscheidung einer bundesweit geltenden Verwaltungsanweisung (DA 31.2.2 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienlastenausgleichs vom 16. Juli 2012, BStBl I 2012, 733).