Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 04.12.2002, Az.: 2 K 442/98
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 04.12.2002
- Aktenzeichen
- 2 K 442/98
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 36210
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2002:1204.2K442.98.0A
Tatbestand
Streitig ist, ob in der Bilanz der - inzwischen erloschenen - Viehhandelsgesellschaft ... (V) bereits im Streitjahr 1991 eine Rückstellung für eventuelle Rückforderungsansprüche der Zollverwaltung gebildet werden durfte.
Die V betrieb einen Handel mit Schlacht- und Zuchtvieh. Die Kläger waren die einzigen Kommanditisten dieser inzwischen liquidierten Gesellschaft.
Die V exportierte in den Jahren 1990 und bis zum 1991 zahlreiche Rinder, die sie u.a. von früheren Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) erworben hatte, nach Polen. Die Tiere wurden zu relativ niedrigen Preisen gehandelt und häufig direkt zu Schlachthöfen in Polen geliefert. Die V beantragte und erhielt für diese Exporte EU-Exporterstattungen, die für Schlachtvieh rund 1,30 DM je Kilo und für reinrassiges Zuchtvieh rund 2,26 DM je Kilo betrugen. Die Exporterstattungen an die V wurden vom Hauptzollamt (HZA) Hamburg-Jonas gewährt und erreichten im Streitjahr insgesamt rund ... Mio. DM und davon rund 17 Mio. DM für Exporte von "reinrassigen Zuchtrindern" nach Polen. Wirtschaftlich besonders attraktiv war der Export von Zuchttieren; diese Tiere konnten zudem - nach polnischem Recht - zollfrei importiert werden.
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands entstand jedoch - für die Zwecke der Bemessung der vorgenannten Exporterstattungen - ein Rechtsproblem bei Exporten aus Viehbeständen aus dem Gebiet der ehemaligen DDR. Diese Tiere mussten entweder als Zucht- oder Schlachttiere klassifiziert werden. In der DDR hatte jedoch kein Herdbuch nach Maßstäben der alten Bundesländer existiert, das u.a. den Stammbaum (Pedigree) der Zuchttiere mit den Namen der Großeltern der Tiere enthielt. Vielmehr wurden nur so genannte "Stallkarten" verwendet, die jedoch u.a. keine Angaben über die Großeltern der Tiere enthielten. Auch trugen Zucht- u Schlachttiere nicht, wie in den alten Bundesländern, unterschiedliche Ohrmarken. Die Tiere in den Herden aus den Beständen der LPG waren überdies in der Regel mit der "enzootischen Rinderleukose" (eRL) infiziert, die der Leukämie beim Menschen ähnelt.
Bei der zolltechnischen Abfertigung verfuhren die Zolldienststellen bei der Einordnung der exportierten Tiere als "reinrassige Zuchttiere" zunächst sehr großzügig. Sie ließen die Stallkarten i.V.m. mit einem allgemeinen amtstierärztlichen Attest ausreichen. Spezielle Veterinärbescheinigungen für Zuchttiere, die auch Angaben zum Leukose-Status erfordert hätten, mussten bei der zolltechnischen Abwicklung nicht vorgelegt werden. Der Export von "reinrassigen Zuchttieren" bzw. das Volumen der Ausfuhrerstattungen nach Polen nahm große Ausmaße an und verdreifachte sich bis Oktober 1991 gegenüber dem Vorjahr (1990). Zudem tauchten im September 1991 Berichte über "kranke Kühe aus Deutschland" in der polnischen Presse auf.
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (BML) steuerte deshalb - offenbar nach einer Intervention der EU - gegen und machte unter dem 14. Oktober 1991 bekannt, welche Mindestvoraussetzungen für die Gewährung von Ausfuhrerstattungen für reinrassige Zuchtrinder vorliegen müssen (Bundesanzeiger 194 vom 17. Oktober 1991).
Am 11. November 1991 wurde in einer Ressortbesprechung zwischen dem BML und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) vereinbart, mögliche Unregelmäßigkeiten bei der Ausfuhrerstattung für reinrassige Zuchtrinder nach Polen durch die Zollfahndung oder Staatsanwaltschaften untersuchen zu lassen. Das BML vertrat dabei die Auffassung, dass auch den Marktbeteiligten bekannt gewesen sein dürfte, dass in Polen eine Nachfrage nach 40.000 Zuchttieren (Stand der Exporte zum Ende September 1991) nicht bestand. Am gleichen Tag (11. November 1991) äußerte auch das BMF in einem Telefax an das HZA Hamburg-Jonas die Vermutung, dass Rinder als "reinrassige Zuchttiere" nach Polen abgefertigt wurden, obwohl es sich tatsächlich um Nutz- oder Schlachttiere handelte. Im gleichen Telefax ordnete das BMF durch seinen Referatsleiter, den Zeugen A, gegenüber dem HZA Hamburg-Jonas an, "ab sofort für Ausfuhren sog. reinrassiger Zuchtrinder nach Polen ... vorerst keine Ausfuhrerstattungen mehr zu zahlen". Eine Abschrift dieses Erlasses erhielt u.a. ein bundesweit tätiger Interessenverband von Viehhändlern (V-Verband) kurze Zeit später zur Kenntnisnahme.
Das (damalige) Zollkriminalinstitut informierte sofort die Zollfahndungsämter und führte am 13. November 1991 eine Besprechung mit den Zollfahndungsämtern in Köln durch. Die Zollfahndungsämter wurden aufgefordert, eilig Ermittlungen wegen Subventionsbetrugs (§ 264 StGB) aufzunehmen. Unter dem 14. November 1991 forderte das Zollfahndungsamt beim HZA Hamburg-Jonas die "Bescheid-Datei-Listen" u.a. für die V an. Die Listen wurden unter dem 2. Dezember 1991 übersandt und enthielten eine Auflistung der konkret von der V beantragten und ihr gewährten Exporterstattungen für "reinrassige Zuchtrinder" nach Polen.
Anfang Dezember 1991 fragten Rechtsanwälte der V bei den Zollfahndungsstellen an, ob ein Ermittlungsverfahren gegen die V eingeleitet sei. Am 10. Dezember 1991 sprach der Kläger zu 1) als Kommanditist der V, mit dem Geschäftsführer der Komplementärin der V, seinem Rechtsanwalt und dem Geschäftsführer des V-Verbandes beim parlamentarischen Staatssekretär des BML vor und erklärte u.a., sich durch die Kontrollmaßnahmen der Bundesfinanzverwaltung beschwert zu fühlen. Es ging insbesondere um die Forderung des HZA Hamburg-Jonas, für bereits getätigte Ausfuhren nachträglich Nachweise auf der Grundlage der Bekanntmachung vom 14. Oktober 1991 zu fordern. Insbesondere sollte, so die Vertreter der Viehwirtschaft, ein selbst entworfenes "Veterinär-Zertifikat" ohne Angaben zum Leukose-Status als ausreichend anerkannt werden.
Die V beantragte nach der Veröffentlichung der Bekanntmachung vom 14. Oktober 1991 keine Exporterstattungen für reinrassige Zuchtrinder mehr. Zuvor abgewickelte Exporte von reinrassigen Zuchtrindern durch die V hatten zum Teil diesen Kriterien nicht genügt.
In ihrer (ursprünglichen) Bilanz für das Streitjahr 1991 wies die V die Ausfuhrerstattungen i.H.v. insgesamt rund ... Mio. DM (davon rund 17 Mio. DM für "reinrassige Zuchtrinder" nach Polen) als Betriebseinnahmen aus. Rückstellungen für eventuelle Rückforderungen der Zollverwaltung bildete die V zunächst nicht. Das FA erließ einen Feststellungsbescheid, der im Wesentlichen der Feststellungserklärung entsprach. Mit ihrem Einspruch machte die V geltend, der erklärte Gewinn könne sich wegen möglicher Rückforderung von Exporterstattungen mindern. Sie habe erhebliche Exporterstattungen erhalten. Die Zollverwaltung überprüfe derzeit die "Höhe und Bemessungsgrundlage der Erstattungen". Da das Verfahren voraussichtlich längere Zeit in Anspruch nehme, beantragte die V zugleich, das Einspruchsverfahren bis zum Abschluss der zollrechtlichen Ermittlungen zunächst ruhen zu lassen. Das FA entsprach diesem Antrag.
Die Zollfahndung überprüfte währenddessen die Viehankäufe der V (und anderer Viehhändler) vor Ort und teilte die Ermittlungsergebnisse dem für evtl. Rückforderungen zuständigen HZA Hamburg-Jonas nach Fahndungsfortschritt (überprüfte Betriebe) in insgesamt drei Berichten mit. Das HZA Hamburg-Jonas erließ sodann folgende Rückforderungsbescheide, da es sich nach den Feststellungen der Zollfahndung bei den exportierten Rindern um "zuchtuntaugliche Schlachtrinder" gehandelt habe:
18.11.1993 ... DM (Bd. 7, Bl. 4 der Ermittlungsakten)
10.05.1995 ... DM (Bd. 8, Bl. 82 der Ermittlungsakten)
14.10.1996 ... DM (Bd. 8, Bl. 69 der Ermittlungsakten)
rund 14,5 Mio. DM
Gegen die Kläger wurde parallel dazu durch die Staatsanwaltschaft Stade - Zentralstelle für Wirtschaftsstrafsachen - wegen Subventionsbetrugs ermittelt. Die Ermittlungs-/Strafverfahren gegen die Kläger wurden später nach § 170 Abs. 2 StPO bzw. § 153a StPO gegen Zahlung von ... DM eingestellt. Nur der Geschäftsführer der V wurde schließlich wegen leichtfertigen Subventionsbetrugs verurteilt.
Bereits im September 1996 war das Konkursverfahren über das Vermögen der V eröffnet worden. Während des Konkursverfahrens nahm der Konkursverwalter das Einspruchsverfahren wieder auf und legte mit Schriftsatz vom 6. November 1997 eine (berichtigte) Bilanz für das Streitjahr 1991 vor. Diese Bilanz wies eine Rückstellung für zu Unrecht erhaltene Exporterstattungen i.H.v. rund 6,7 Mio. DM aus. Das FA lehnte es ab, die Rückstellung zuzulassen, da der mögliche Erstattungsanspruch dem HZA im Streitjahr 1991 noch nicht bekannt gewesen sei und die V daher im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung (5. März 1992) mit einer Inanspruchnahme noch nicht ernsthaft habe rechnen müssen. Dagegen richtet sich die Klage.
Die Kläger sind der Ansicht, die Voraussetzungen für die Bildung einer Rückstellung habe bereits im Streitjahr - und zwar vor Ablauf des Jahres - vorgelegen. Das BMF habe frühzeitig u.a. den V-Verband, wovon der Kläger zu 1) Kenntnis erlangt habe, über die Vermutung unterrichtet, dass vor dem 14. Oktober 1991 Nutz- und Schlachtrinder als "reinrassige Zuchttiere" exportiert worden seien und das HZA Hamburg-Jonas angewiesen worden sei, vorerst für Ausfuhren keine Erstattungen mehr auszuzahlen. Dies sei im Übrigen auch Gegenstand einer Besprechung des Klägers zu 1), anderer Vertreter der V und des V-Verbandes beim Staatssekretär im BML im Dezember 1991 gewesen. Insbesondere sei damals die Forderung des HZA Hamburg-Jonas kritisiert worden, auch rückwirkend die Kriterien und Nachweiserfordernisse der Bekanntmachung vom 14. Oktober 1991 anlegen zu wollen. Es sei innerhalb der V bereits damals klar gewesen, dass solche Forderungen nicht würden erfüllt werden können. Auch hätte die V keine Veterinärzeugnisse über die Leukosefreiheit der als "reinrassige Zuchtrinder" exportierten Tiere erbringen können. Daher sei zu befürchten gewesen, dass ein wesentlicher Teil der vereinnahmten Exporterstattungen zurückgefordert werden würden. Auch habe die Zollfahndung ihre Ermittlungen konkret gegen die V gerichtet. Deshalb habe der damalige steuerliche Berater sofort Einspruch gegen den Feststellungsbescheid eingelegt und das Ruhen des Verfahrens beantragt. Auf diese Weise habe eine Änderung der Bilanz und des Gewinns ermöglicht werden sollen.
Das FA hält daran fest, dass eine Rückstellung jedenfalls noch nicht im Streitjahr habe gebildet werden dürfen, da der Rückforderungsanspruch sich im Zeitpunkt der Aufstellung der Bilanz noch nicht hinreichend konkretisiert habe.
Für die V wurde das Konkursverfahren schließlich nach Abhaltung des Schlusstermins aufgehoben. Die Gesellschaft wurden im Handelsregister gelöscht.
Das Gericht hat die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft ..., die Bescheidakten des HZA Hamburg-Jonas und die Akte des BMF zur damaligen Entwicklung beigezogen.
In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht zudem den damals zuständigen Referatsleiter im BMF und einen damals tätigen Zollfahnder vernommen. Der Referatsleiter hat u.a. ausgesagt, dass zunächst der Export der Rinderbestände aus der ehemaligen DDR nach Polen begrüßt worden sei, damit der Fleischmarkt der EU entlastet werde. Über finanzielle Konsequenzen auch im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der EU sei zunächst nicht nachgedacht worden. Er selbst sei stets der Auffassung gewesen, bereits ausgezahlte Exporterstattungen dürften rückwirkend nicht zurückgefordert werden. Der Zollfahnder hat angegeben, dass die Ermittlungen bereits im Jahre 1991 begonnen hätten.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Die V durfte gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 249 Abs. 1 Satz 1 des Handelsgesetzbuchs (HGB) die Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten gegenüber der Zollverwaltung in der beantragten Höhe von ... DM bilden. Die Pflicht zur Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten setzt nach der Rechtsprechung (BFH-Urteile vom 11. Dezember 2001, VIII R 34/99, BFH/NV 2002, 486; vom 19. Oktober 1993, VIII R 14/92, BStBl II 1993, 891) allgemein voraus
a) das Bestehen oder die Wahrscheinlichkeit des künftigen Entstehens einer Verbindlichkeit dem Grunde und/oder der Höhe nach (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 12. Dezember 1990, I R 153/86, BStBl II 1991, 479, unter II. 6., m.w.N.),
b) die wirtschaftliche Verursachung der Verbindlichkeit in der Zeit vor dem Bilanzstichtag (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 19. Mai 1987, VIII R 327/83, BStBl II 1987, 848, m.w.N.) und,
c) dass der Schuldner mit seiner Inanspruchnahme ernsthaft rechnen muss. Die bloße Möglichkeit des Bestehens oder Entstehens einer Verbindlichkeit reicht zur Bildung einer Rückstellung nicht aus (vgl. auch z.B. BFH-Urteil vom 22. November 1988, VIII R 62/85, BStBl II 1989, 359).
Danach setzt jede (ungewisse) Verbindlichkeit, gleichviel ob sie im privaten oder im öffentlichen Recht wurzelt, eine Verpflichtung gegenüber einem anderen - einem Gläubiger - voraus (vgl. § 241 des Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB -). Darüber hinaus muss dieser Gläubiger grundsätzlich seinen Anspruch gegen den Schuldner (Steuerpflichtigen) kennen. Deshalb hat der BFH bei Schadenersatzansprüchen eine Inanspruchnahme des Schuldners erst dann für wahrscheinlich und damit für passivierbar gehalten, wenn die den Anspruch begründenden Tatsachen entdeckt und dem Geschädigten bekannt geworden sind oder dies doch unmittelbar bevorsteht (vgl. auch BFH-Urteile vom 3. Juli 1991, X R 163-164/87, BStBl II 1991, 802 [unter 2.]; vom 2. Oktober 1992, III R 54/91, BStBl II 1993, 153; vom 27. November 2001, VIII R 36/00, BStBl II 2002, 731 und vom 11. Dezember 2001, VIII R 34/99, a.a.O.).Denn erst von diesem Zeitpunkt an muss der Schädiger trotz der bereits abstrakt bestehenden rechtlichen Verpflichtung ernsthaft mit einer Inanspruchnahme rechnen. Erst von diesem Zeitpunkt an besteht deshalb auch eine inhaltlich und zeitlich hinreichend konkretisierte wirtschaftliche Last (BFH-Urteil vom 19. Oktober 1993, VIII R 14/92, a.a.O.).
Nach diesen Maßstäben durfte die streitige Rückstellung wegen öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen gegenüber dem HZA Hamburg-Jonas bereits im Streitjahr 1991 gebildet werden.
a) Der V war bereits am Bilanzstichtag sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach bekannt, dass gegenüber dem HZA Hamburg-Jonas eine Verbindlichkeit (Rückforderungsansprüche) für zu Unrecht erhaltene Ausfuhrerstattungen für Nutz- und Schlachttiere, die von der V als "reinrassige Zuchttiere" exportiert worden waren und die weder aus leukosefreien Beständen kamen noch im Einzelfall die Leukosefreiheit nachweisbar war, bestand bzw. zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit bestehen würde. Der Kläger zu 1) kannte die Anordnung des BMF vom 11. November 1991. Darin hatte der BMF das HZA Hamburg-Jonas angewiesen, die Auszahlung von Erstattungen auch für Ausfuhren vor dem 18. Oktober 1991 (dem Tag nach der Veröffentlichung der Bekanntmachung des BML vom 14. Oktober 1991 im Bundesanzeiger) von den Voraussetzungen nach dem Inhalt dieser Bekanntmachung abhängig zu machen. Dies wird durch den Schriftwechsel zwischen den Rechtsanwälten der V und dem HZA Hamburg-Jonas bestätigt. Das HZA Hamburg-Jonas hatte die V bereits durch Schreiben vom 18. Dezember 1991 für vier Anträge auf Ausfuhrerstattungen konkret aufgefordert, nachträglich die Nachweise/Beweise für Lieferungen zu erbringen, die vor dem 18. Oktober 1991 abgewickelt worden waren. Dies war auch Inhalt des Gesprächs der Vertreter der V mit dem Staatssekretär im BML am 10. Dezember 1991 sowie nachfolgend des Antwortschreibens des BML an die Rechtsanwälte der V vom 20. Dezember 1991. Insbesondere hat das BML in vorgenannten Schreiben unter dem Punkt "enzootischer Rinderleukose" ausdrücklich auf die Beschaffenheit von "Zuchtrindern", wie sie vom polnischen Veterinärdienst verlangt wurde, hingewiesen. Danach mussten die Tiere aus einem Rinderbestand stammen, der in den letzten drei Jahren amtlich frei von eRL war, und das einzelne Tier müsste selbst in den letzten 30 Tagen vor dem Versand einem "Agargel-Immunodiffusionstest" auf eRL mit negativem Ergebnis unterzogen worden sein.
Auch der Höhe nach durfte die Rückstellung im erkannten Umfang gebildet werden. Den Beteiligten war bereits vor dem Bilanzstichtag eindeutig erkennbar, dass für die exportierten rund 18.900 "reinrassigen Zuchtrinder" ganz überwiegend keine Nachweise zur Leukosefreiheit zu erbringen sein würden, da die Tiere - wie allgemein in der Branche bekannt war und hier im Verfahren auch unstreitig ist - aus infizierten Beständen der ehemaligen DDR stammten. Dies entspricht einer Rückstellung für rund 16.500 Tiere mit einem durchschnittlichen Gewicht von 395 V bei einer Ausfuhrerstattung von rund 2,26 DM/kg.
b) Die Verbindlichkeit war bereits vor dem Bilanzstichtag wirtschaftlich verursacht, weil die einzelnen Exporte im Zeitraum von Januar 1991 bis Oktober 1991 abgewickelt worden waren.
c) Die V musste mit ihrer Inanspruchnahme ernsthaft rechnen. § 249 Abs. 1 Satz 1 Handelsgesetzbuch (HGB) (i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG) verlangt für Verbindlichkeitsrückstellungen lediglich, dass eine ernsthafte Gefahr - d.h. eine (überwiegende) Wahrscheinlichkeit - der Inanspruchnahme des Schuldners gegeben sein muss. Ob dies zutrifft, kann nur mithilfe einer Prognose anhand der am Bilanzstichtag erkennbaren und bis zur Bilanzaufstellung nach den Grundsätzen der Wertaufhellung zu berücksichtigenden tatsächlichen Verhältnisse beurteilt werden. Eine ernsthafte (überwiegend wahrscheinliche) Inanspruchnahme des Schuldners droht nach der BFH-Rechtsprechung zur Bildung von Altlastenrückstellungen solange nicht, als der Gläubiger, die zuständige Fachbehörde, sie nicht kennt. Die Kenntnis der zuständigen Fachbehörde stellt umgekehrt eine - wenn auch gewichtige und daher nur schwer zu widerlegende - tatsächliche Vermutung dafür dar, dass eine Inanspruchnahme droht (BFH-Urteil vom 11. Dezember 2001, VIII R 34/99, unter 2. a der Gründe m.w.N.).
Auch diese Voraussetzungen (oben c) sind im Streitfall erfüllt, da wegen der positiven Kenntnis der zuständigen Fachbehörden von Unregelmäßigkeiten - insbesondere auch durch die V - bei der Ausfuhr von Rindern, die als "reinrassige Zuchtrinder" deklariert waren, die vom FA nicht widerlegte tatsächliche Vermutung für eine drohende Inanspruchnahme der V sprach.
So war dem HZA Hamburg-Jonas, BML, dem BMF und dem Zollkriminalinstitut bereits im Oktober/November 1991 die ungewöhnlich hohe Steigerung der Exporte von angeblichen "reinrassigen Zuchtrindern" u.a. nach Polen bekannt. Von Januar 1991 bis Anfang Oktober 1991 waren rund 40.000 solcher Tiere allein nach Polen exportiert worden. Diese Tiere wurden nach Erkenntnissen der Behörden sogar überwiegend direkt zu Schlachthöfen in Polen transportiert. Nach - letztlich zutreffender - Ansicht der zuständigen Behörden sprach dies bereits gegen die Einordnung der Tiere als "reinrassige Zuchttiere". Wertvolle Zuchttiere wären nicht überwiegend sofort geschlachtet worden. Auch bestand - worauf das BML in seinem Vermerk über die Besprechung mit dem BMF am 11. November 1991 ebenfalls bereits hingewiesen hatte - in Polen keine Nachfrage nach rund 40.000 weiteren Zuchttieren allein im Jahre 1991. Dies war sowohl den Marktbeteiligten als auch den Behörden bekannt. Jedenfalls anfänglich ist dies im BMF als vorgesetzter Dienstbehörde für das HZA Hamburg-Jonas möglicherweise bewusst in Kauf genommen worden, weil das Überangebot an Rindern und Rindfleisch aus dem Beitrittsgebiet aus deutscher Sicht den bereits angespannten EU-Fleischmarkt zusätzlich belastete. Das hat der Zeuge A als damaliger Referatsleiter im BMF bestätigt. Nach der Intervention der EU angesichts der gestiegenen Ausgaben aus dem entsprechenden EU-Etat für Ausfuhrerstattungen haben die beteiligten Bundesministerien (BML und BMF) jedenfalls der bisherigen großzügigen Praxis durch die Bekanntmachung vom 14. Oktober 1991 den Boden entzogen. In der gemeinsamen Besprechung der beiden Ministerien im November 1991 ist zudem bereits der Auftrag an die Strafverfolgungsbehörden ergangen, wegen dieser Exporte Ermittlungen wegen Subventionsbetrug aufzunehmen. Diese Ermittlungen sind noch vor dem Jahresande 1991 durch die Zollfahndungsämter aufgenommen worden. Der Zeuge B hat selbst an der Zusammenkunft beim Zollkriminalinstitut in Köln teilgenommen und bestätigt, noch im Jahre 1991 die Ermittlungen aufgenommen zu haben.
Dem steht auch nicht entgegen, dass nach den Angaben des Zeugen B im BMF trotz der Kenntnis von Unregelmäßigkeiten beim Export der vermeintlich "reinrassigen Zuchtrinder" noch unterschiedliche Rechtsauffassungen zu der Frage bestanden haben mögen, ob bereits gezahlte Ausfuhrerstattungen - wegen Vertrauensschutzes - nach verwaltungsrechtlichen Grundsätzen zurückgefordert werden sollen und dürfen. Nach der Beweisaufnahme steht keineswegs fest, dass trotz der Kenntnis der Ministerien Rückforderungen des HZA Hamburg-Jonas - auch gegenüber der V - vom BMF niemals in Betracht gezogen worden sind. Nur dann wäre trotz der Kenntnis der Fachbehörde um den Tatbestand mit einer Inanspruchnahme aller Exporteure generell nicht zu rechnen gewesen und eine Rückstellung nicht in Betracht gekommen.
Im Gegenteil, der Zeuge B hat damals selbst angeordnet, dass noch nicht ausgezahlte Ausfuhrerstattungen zunächst zurückgehalten werden sollten, solange die Voraussetzungen der Bekanntmachung vom 14. Oktober 1991 nicht nachgewiesen seien (Erlass des BMF vom 11. November 1991, III B 3 - M 3500 - 224/91). Dieser Erlass des BMF war nach dem Wortlaut ausdrücklich auch - rückwirkend - für Ausfuhren, die vor dem 14. Oktober 1991 getätigt worden waren, anzuwenden. Soweit der Zeuge eine solche rückwirkende Anwendung in dem Erlass heute nicht erblicken wollte, ist dies mit dem Wortlaut nicht zu vereinbaren und entsprach danach auch nicht der Praxis. Die Anweisung bezog sich nämlich gerade auch auf Ausfuhren, die "vor dem 18. Oktober 1991" erfolgt waren. Gegenüber der V wurden für solche Exporte vom HZA Hamburg-Jonas nachträglich solche Nachweise gefordert. Es ist nicht auszuschließen, dass der Zeuge sich an den Vorgang nicht mehr genau erinnern kann, weil sich die damals wie heute vertretenen möglichen Rechtsansichten in seiner Erinnerung vermengt haben können. Es mag auch sein, dass der Zeuge damals wie heute nur persönlich die Auffassung vertritt, der Vertrauensschutz stehe solchen Rückforderungen entgegen und er eine eventuelle gegenteilige Rechtsposition der Ministerien in seiner Erinnerung verdrängt hat. Diese persönlichen Ansichten des Zeugen sind nicht maßgebend. Entscheidend ist nur, welche Position offiziell von den beteiligten Ministerien damals eingenommen wurde. Dazu konnte der Zeuge keine genauen Angaben mehr machen. Der Erlass des BMF, der vom Zeugen unterzeichnet war, spricht dafür, dass sich das BMF die Möglichkeit offen halten wollte, entsprechende Rückforderungen geltend zu machen und wie bei noch nicht abgerechneten Anträgen auf Ausfuhrerstattungen den Inhalt der Bekanntmachung vom 14. Oktober 1991 als Maßstab anzulegen, da diese Bekanntmachung - so eine vertretbare Auffassung - nicht neues Recht gesetzt, sondern nur bestehendes Recht klargestellt habe. Auch die eilig angeordnete Aufnahme der Ermittlungen gegen die Exporteure ist ein Indiz für die Absicht, gegebenenfalls Rückforderungsbescheide durch das HZA Hamburg-Jonas veranlassen zu wollen. Ansonsten wären die umfangreichen Ermittlungen überflüssig gewesen. In den Akten findet sich vor allem an keiner Stelle ein Hinweis, dass die Ministerien Rückforderungsansprüche gegenüber den Exporteuren von vornherein ausgeschlossen haben, da sie etwa nach der Rechtsansicht in den Ministerien rechtlich nicht zu begründen und durchzusetzen wären. Es wäre im Übrigen Sache des FA gewesen, die tatsächliche Vermutung, dass eine in Kenntnis gesetzte Fachbehörde entsprechend ihrer rechtlich vertretbaren Möglichkeiten tätig wird und einen finanziellen Schaden für die Bundesrepublik Deutschland durch Geltendmachung ihrer Ansprüche abwendet, zu widerlegen.
Im Übrigen hat sich die damalige Meinungsbildung innerhalb der beiden beteiligten Bundesministerien und ihrer Dienststellen nicht weiter aufklären lassen, da die anderen an entscheidender Stelle beteiligten Bediensteten nicht mehr als Zeugen zur Verfügung standen. Der damalige Referatsleiter C aus dem BML, der die Bekanntmachung vom 14. Oktober 1991 verantwortet hatte, ist verstorben. Der beim Zollkriminalinstituit tätige und die Ermittlungen begleitende Referatsleiter D befindet sich im Ruhestand und hat aufgrund einer Erkrankung keine Erinnerung mehr.
Nicht entscheidend ist für die Frage der Kenntnis der Fachbehörde und damit der Voraussetzungen der Bildung einer Rückstellung, ob die Fachbehörde im Streitfall evtl. auf die Rückforderungsansprüche ganz verzichtet hätte, wenn die EU die Verwaltungspraxis nicht gerügt und kein so genanntes Rechnungsabschlussverfahren eingeleitet hätte. Im maßgeblichen Zeitraum (Streitjahr 1991) gab es dafür keine objektiven Anhaltspunkte.
Die Kenntnis der Fachbehörden von möglichen "Unregelmäßigkeiten" bezog sich im Streitfall konkret auch auf die V. Dies wird durch die Einleitung von (Vor-) Ermittlungen gegenüber der V durch das Zollfahndungsamt Hannover bestätigt. Das Zollfahndungsamt hat insbesondere die "Bescheid-Datei-Listen" auch für die V vom HZA Hamburg angefordert und noch im Jahre 1991 zur weiteren Prüfung und Auswertung erhalten. Dazu bestand Anlass, da die V eine der Hauptexporteure solcher "reinrassigen Zuchtrinder" war. Von den insgesamt aus der Bundesrepublik exportieren "Zuchtrindern" stammte ein ganz wesentlicher Teil aus Exporten der V. Bis Ende September 1991 waren insgesamt 40.473 Tiere und bis Ende Oktober 1991 insgesamt 51.247 "Zuchtrinder" exportiert worden (vgl. Auswertung aus den Daten des Statistischen Bundesamtes). Allein auf die V entfielen davon 18.879 Tiere oder rund 37%. Den Gesellschaftern der V war dieser Sachverhalt bekannt, denn sie versuchten bereits im Dezember 1991 durch das Gespräch beim parlamentarischen Staatssekretär im BML - zwar letztlich erfolglos - die Kriterien, die an die nachträglich vorzulegenden Veterinärzeugnisse gestellt worden waren, entscheidenden Punkt herabsetzen zu lassen. Das offiziell vom V-Verband vorgelegte Muster eines "Veterinär-Zertifikats für lebende Rinder", das keine Angaben zum Leukosestatus der Tiere enthielt, fand jedoch von Anfang an keine Unterstützung im BML als "ähnliche Bescheinigung" im Sinne des EU-Rechts. Diese Haltung der Fachbehörden manifestierte sich zusätzlich in den Rückfragen des HZA Hamburg-Jonas zu den noch nicht abgerechneten Exporten der V.
Von diesem Zeitpunkt an mussten der V-Verband, seine Mitglieder (Viehhändler) und insbesondere auch die V von bevorstehenden Rückforderungen ausgehen, zumal der V-Verband im Gespräch beim parlamentarischen Staatssekretär im BML geltend gemacht hatte, dass sich seine Mitglieder durch die vorgesehenen Prüfmaßstäbe "beschwert fühlten". Sie wußten, dass sie die erforderlichen Veterinärzeugnisse mit Angaben zur Leukosefreiheit sowohl der Herde, aus der das Tier stammte, als auch des Tieres selbst nicht erbringen könnten. Unter diesen Umständen war die Prognose der V, die von einer ernsthaften Gefahr - d.h. einer (überwiegende) Wahrscheinlichkeit - der Inanspruchnahme auszugehen, sachgerecht und für die Bildung einer Rückstellung ausreichend. Insbesondere musste die V nicht abwarten, ob und ggf. wann nach Abschluss der Ermittlungen Rückforderungsbescheide ergehen würden.