Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 22.02.2006, Az.: 11 A 2691/04

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
22.02.2006
Aktenzeichen
11 A 2691/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 44751
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2006:0222.11A2691.04.0A

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen kann sich auch unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung des BVerwG als rechtmäßig erweisen, wenn die Behörde zumindest hilfsweise Ermessen ausgeübt hat und auch im nachfolgenden gerichtlichen Verfahren keine Änderungen zugunsten des Ausländers zu berücksichtigen waren.

  2. 2.

    Bei der Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG muss ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 durch Zugrundelegung der regelmäßigen Frist von 4 Jahren für Ermessensausweisungen berücksichtigt werden.

Tatbestand

1

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und wurde am xx. yy. 1976 als Sohn türkischer Arbeitnehmer in B. geboren. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte er in der Türkei, wo er mehrere Jahre zur Schule ging. Im August 1990 kehrte er nach Deutschland zu seinen Eltern zurück. Er erhielt befristete Aufenthaltserlaubnisse, zuletzt bis zum 16. Mai 1999.

2

Der Kläger war seit September 1991 vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Das Amtsgericht N. verurteilte ihn am 19. Juni 1996 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten wegen versuchten Diebstahls unter Einbeziehung dreier vorangegangener Verurteilungen wegen gemeinschaftlichen Diebstahls, Körperverletzung, versuchten schweren Raubes, gemeinschaftlichen Raubes und Beleidigung. Am 1. Oktober 1998 wurde er durch das Amtsgericht N. wegen gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der Verurteilung vom 29. Juni 1998 wegen Raubes im minderschweren Fall sowie Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Während der Bewährungszeit beging er am 30. März 1999 zusammen mit seinem Bruder einen Ladendiebstahl, für den ihn das Amtsgericht N. am 13. Oktober 1999 zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilte.

3

Der Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 23. November 1999 auf unbefristete Dauer aus und lehnte mit Bescheid vom 2. August 2000 den Antrag des Klägers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ab. Die dagegen erhobenen Widersprüche wies die Bezirksregierung W. mit Widerspruchsbescheid vom 20. November 2001 zurück. Vorläufige Rechtsschutzverfahren blieben erfolglos.

4

Der Kläger wurde bereits am 8. November 2001 in die Türkei abgeschoben. Er wurde am 20. Juli 2002 festgenommen, nachdem er unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist war. Nach Verbüßung der noch ausstehenden Rest-Freiheitsstrafe wurde er am 5. Mai 2003 aus der Strafhaft erneut in die Türkei abgeschoben.

5

Mit Urteil vom 19. März 2003 (11 A 3986/01) wies das erkennende Gericht die Klage des Klägers gegen die Ausweisungsverfügung des Beklagten sowie die Ablehnung der Erteilung einer weiteren Aufenthaltserlaubnis ab. Den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung lehnte das Nds. Oberverwaltungsgericht mit unanfechtbarem Beschluss vom 1. Juli 2003 (11 LA 145/03) ab.

6

Am 29. Mai 2004 hat der Kläger bei dem Beklagten die Befristung der Sperrwirkungen der Ausweisung und der Abschiebungen beantragt. Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 27. Oktober 2004 zudem, die Bescheide des Beklagten vom 23. November 1999 und 2. August 2000 zurückzunehmen und die befristete Aufenthaltserlaubnis zu verlängern. Mit Bescheid vom 3. Februar 2005 lehnte der Beklagte dies ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Eine veränderte Sach- und Rechtslage nach § 51 VwVfG ergäbe sich nicht aus dem Umstand, dass die Vaterschaft des Klägers für das Kind G. festgestellt worden sei. Im Hinblick auf die Vaterschaft könne sich der Kläger nicht auf Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 berufen. Aufgrund des allein vorhandenen telefonischen Kontakts des Klägers zu Mutter und Kind bestehe auch kein Schutz aus Art. 6 GG. Seine Belange könnten im nachrangigen Befristungsverfahren berücksichtigt werden.

7

Bereits am 24. Juni 2004 hat der Kläger wegen seines Antrages auf Befristung der Sperrwirkungen der Ausweisung und Abschiebungen Klage erhoben. Am 25. Februar 2005 hat der Kläger seine Klage im Hinblick auf den Bescheid des Beklagten vom 3. Februar 2005 erweitert. Er trägt im Wesentlichen vor: Der Beklagte habe über seinen Antrag auf nachträgliche Befristung der Sperrwirkung der Ausweisung und der Abschiebungen grundlos nicht entschieden. Die mit dem Ausweisungsbescheid ausgesprochene lebenslängliche Sperrfrist sei europarechtswidrig, da der Kläger unter den ARB 1/80 falle. In seinen Entscheidungen vom 29. April 2004 habe der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass sowohl eine unbefristete als auch die Ist-Ausweisung unzulässig seien. Das Bundesverwaltungsgericht habe seine Rechtsprechung seitdem geändert. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage sei der der gerichtlichen Entscheidung, nicht jedoch der Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung. Dies habe das erkennende Gericht nicht beachtet. Der Beklagte hätte zudem die Sperrfrist von Amts wegen verkürzen müssen. Das Amtsgericht B. habe im Übrigen festgestellt, dass der Kläger der Vater der am 20. März 2003 geborenen deutschen Staatsangehörigen G. sei. Die Bescheide vom 23. November 1999 und 2. August 2000 seien von Anfang an rechtswidrig gewesen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dürften auch türkische Staatsangehörige, die unter den ARB 1/80 fielen, nicht unbefristet und ohne Berücksichtigung ihrer Sozialprognose im Zeitpunkt einer gerichtlichen Entscheidung ausgewiesen werden. Dies hätten das erkennende Gericht und das Nds. Oberverwaltungsgericht falsch beurteilt.

8

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 3. Februar 2005 zu verpflichten, über seinen Antrag auf Aufhebung der Bescheide des Beklagten vom 23. November 1999 und 2. August 2000 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden,

9

sinngemäß hilfsweise,

10

den Beklagten zu verpflichten, über seinen Antrag auf nachträgliche Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebungen zu entscheiden.

11

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

12

Er erwidert im Wesentlichen: Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (betr. Calfa) sei in dem Ausweisungsbescheid vom 23. November 1999 und in dem Widerspruchsbescheid vom 20. November 2001 beachtet worden. Es sei keine automatische Ausweisung erfolgt, sondern das persönliche Verhalten des Kläger bewertet und eine Prognose der von ihm ausgehenden Gefährdung angestellt worden. Die Wirkungen der Ausweisung seien in der Regel auf zwölf Jahre zu befristen. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass der Kläger quasi während seines gesamten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland straffällig gewesen sei. Es müsse noch durch Vorlage eines türkischen Führungszeugnisses geklärt werden, ob der Kläger auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland straffällig geworden sei. Der Kläger sei mit der Mutter seiner Tochter nicht verheiratet; diese habe auch das alleinige Sorgerecht für das Kind. Eine endgültige Entscheidung über die Befristung sei erst möglich, wenn über den Antrag auf Rücknahme der Ausweisung befunden worden sei.

13

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie auf die Gerichtsakten der Verfahren 11 B 1402/00, 11 B 3594/00, 11 B 3603/01 und 11 A 3986/01 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

14

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).

15

Die Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen unbegründet.

16

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine erneute Entscheidung über seinen Antrag auf Rücknahme der Bescheide des Beklagten vom 23. November 1999 und vom 2. August 2000. Nach § 48 Abs. 1 VwVfG i. V. m. § 1 Nds.VwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Die Vorschrift setzt voraus, dass der zurückzunehmende Verwaltungsakt im maßgeblichen Zeitpunkt rechtswidrig gewesen ist (Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Auflage, § 48 Rdnr. 59 m. w. N.). Dies vermag die Kammer jedoch nicht festzustellen. Das erkennende Gericht hat die Klage des Klägers mit Urteil vom 19. März 2003 (11 A 3986/01) jedenfalls im Ergebnis zu Recht als unbegründet abgewiesen.

17

Entgegen der Ansicht des Klägers verstößt die Ausweisungsverfügung des Beklagten vom 23. November 1999 auch nicht gegen Gemeinschaftsrecht. In Ansehung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 29. April 2004 (Rs. C-482/01 und C-493/01 - Orfanopoulos und Oliveri) hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 3. August 2004 (-1 C 29.02- BVerwGE 121, 315) seine bisherige Rechtsprechung zur Ausweisung der von Art. 6 und 7 ARB 1/80 erfassten türkischen Staatsangehörigen zwar geändert, jedoch erweist sich die Ausweisung des Klägers auch an den geänderten Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts gemessen als rechtmäßig.

18

In seinem Urteil vom 3. August 2004 (a. a. O.) hat das Bundesverwaltungsgericht u.a. entschieden, dass türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nur noch auf der Grundlage einer an Art. 14 ARB 1/80 orientierten ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung, bei der generalpräventive Gesichtspunkte unberücksichtigt bleiben müssen, gem. §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden dürfen. Für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen türkischer Staatsangehöriger, die nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigt sind, ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen.

19

Diesen Anforderungen genügt der Ausweisungsbescheid des Beklagten vom 23. November 1999.

20

Zwar besaß der Kläger bei Erlass des Bescheides ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 1. Juli 2003, a.a.O.; Stellungnahme der EU-Kommission vom 12. März 2003, S. 3). Die Ausweisungsentscheidung des Beklagten ist jedoch nicht tragend auf generalpräventive, sondern auf spezialpräventive Erwägungen gestützt worden. So wurde - entsprechend den Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 - u.a. festgestellt, dass das persönliche Verhalten des Klägers, das den strafgerichtlichen Verurteilungen zugrunde lag, eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. Seite 4 f. der Ausweisungsverfügung des Beklagten), welche auch die Grundinteressen der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland berührt (vgl. Seite 4 ff. des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung W. vom 20. November 2001). Dies ist zudem in dem Urteil der erkennenden Kammer vom 19. Mai 2003 (- 11 A 3986/01 - S. 6 ff.) im Einzelnen dargelegt worden. Der Beklagte hat diese Erwägungen durch den Antrag auf Ablehnung des Zulassungsantrages beim Nds. OVG (Schriftsatz vom 10. Juni 2003) in Bezug genommen (vgl. auch Beschluss des Nds. OVG vom 10. Juli 2003 - 11 LA 145/03 - S. 3 ff.). Des Weiteren ist auch - zumindest hilfsweise - eine behördliche Ermessensentscheidung über die Ausweisung des Klägers getroffen worden. So enthält der Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung W. vom 20. November 2001 (vgl. dort Seite 11 f.) die insoweit erforderliche Interessenabwägung, die nach einer Gegenüberstellung des Für und Wider in nicht zu beanstandender Weise zum eindeutigen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Ausweisung des Klägers gelangt. Dass die Widerspruchsbehörde dabei auch auf § 10 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG 1965 abgestellt hat, ist rechtlich ohne Belang, zumal sie - wie vom Bundesverwaltungsgericht nach dessen geänderter Rechtsprechung gefordert - u. a. Art und Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten, die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland, seine familiäre Situation und das Ausmaß möglicher Schwierigkeiten in der Türkei im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt hat. Auch hat sie die Zeit, die seit Begehung der Straftaten verstrichen ist, nicht außer Acht gelassen, gleichwohl aber eine Wiederholungsgefahr gesehen und eine günstige Sozialprognose aufgrund des Strafurteils des Amtsgerichts N. vom 13. Oktober 1999 nicht stellen können (vgl. Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung W., Seite 7).

21

Etwas Anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass das Bundesverwaltungsgericht (a. a. O.) für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen türkischer Staatsangehöriger, die nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigt sind, nunmehr auf die Sach- und Rechtslage der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abstellt. In dem danach maßgeblichen Beschluss vom 1. Juli 2003 hat das Nds. Oberverwaltungsgericht nicht nur die Würdigung der persönlichen Verhältnisse des Klägers im Hinblick auf die Störung der öffentlichen Ordnung und die Berührung eines Grundinteresses der Gesellschaft durch das Verwaltungsgericht Oldenburg gebilligt, sondern darüber hinaus selbst eine negative Sozialprognose erstellt, weil gegen den Kläger nach seiner illegalen Einreise im Laufe des Jahres 2002 trotz seines relativ kurzen Aufenthalts im Bundesgebiet, während dessen er auch eine Zeit lang inhaftiert war, insgesamt vier Strafverfahren (wegen Urkundenfälschung, Diebstahls, Betrugs und Verstoßes gegen das AuslG) anhängig waren (vgl. Seite 4 f. d. BA). Hieraus wird deutlich, dass sich aus dem Gesichtspunkt des Zeitablaufes nach der letzten Verurteilung kein günstigeres Ergebnis für den Kläger ergeben konnte, zumal auch andere für ihn sprechende Umstände nicht ersichtlich waren. Insbesondere konnte deshalb auch nicht angenommen werden, dass sein Leben nun "in geordneten Bahnen" verlief, wie er mit Schriftsatz vom 5. Mai 2003 an das Nds. Oberverwaltungsgericht noch vorgetragen hat. Angesichts der weiteren Ermittlungsverfahren konnte ihm auch unter Berücksichtigung seiner Ausbildung und (kurzen) Berufstätigkeit sowie seiner beanstandungsfreien Führung in der JVA N. eine günstigere Sozialprognose zu diesem Zeitpunkt nicht gestellt werden, so dass es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass der Beklagte seine bisherige Einschätzung hinsichtlich der gegenwärtigen und hinreichend schweren Gefährdung durch den Kläger überprüfen musste. Davon ist offensichtlich auch das Niedersächsische Innenministerium noch im September 2003 ausgegangen, denn wegen des Verhaltens des Klägers hat es in diesem Einzelfall ausnahmsweise die Zustimmung zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vor der abschließenden Beratung der vom Kläger eingereichten Petition erteilt.

22

Bereits im ursprünglichen Verfahren ist geklärt worden, dass die Ausweisung des Klägers letztlich nicht unbefristet erfolgte, weil er einen Antrag auf nachträgliche Befristung der Wirkungen der Ausweisung stellen konnte (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 1. Juli 2003, a.a.O., S. 5). Angesichts der obigen Ausführungen bestand unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR (zuletzt: Urteil vom 27. Oktober 2005 - 32231/02 - InfAuslR 2006, 3 f. [EGMR 27.10.2005 - 32231/02]) auch keine Verpflichtung, eine Befristung bereits in der Ausweisungsverfügung selbst auszusprechen.

23

Die Rechtmäßigkeit des Bescheides des Beklagten vom 2. August 2000, mit welchem dem Kläger die erneute Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis versagt wurde, wird durch die geänderte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht in Frage gestellt, denn die Entscheidung (a. a. O.) verhält sich nicht zu den Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels, sondern betrifft die Voraussetzungen einer Ausweisungsentscheidung. Da die Ausweisung - wie ausgeführt - rechtmäßig war, stand der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zudem die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG entgegen.

24

Ein Anspruch des Klägers auf Neubescheidung seines Antrages auf Aufhebung der Bescheide des Beklagten vom 23. November 1999 und 2. August 2000 ergibt sich schließlich auch nicht aus § 49 Abs. 1 VwVfG (Widerruf eines rechtmäßigen belastenden Verwaltungsaktes) oder aus § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (Wiederaufgreifen des Verfahrens wegen nachträglicher Änderung der Sach- und Rechtslage zu Gunsten des Betroffenen). Die Anwendung dieser Vorschriften ist nämlich durch die spezielle Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, wonach die Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung auf Antrag in der Regel befristet werden, ausgeschlossen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11. März 1999 - 13 S 2208/97 - zur gleichlautenden Vorgängervorschrift des § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG). Im Übrigen stellt ein Wandel in der Rechtsauffassung aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung ohnehin keine Änderung der Sach- und Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar, auch nicht bei Entscheidungen von besonders herausragender Bedeutung (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, a. a. O. § 51, Rdnr. 106 ff. m. w. N.).

25

2. Die Klage ist mit dem Hilfsantrag zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass über seinen Antrag auf Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung und Abschiebungen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts entschieden wird (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

26

Nach § 75 Satz 1 VwGO ist die Klage abweichend von § 68 VwGO zulässig, wenn über einen Widerspruch oder über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist.

27

Am 29. Mai 2004 erhielt der Beklagte ein Schreiben des Klägers, mit welchem dieser beantragte, die gegen ihn "verhängte Einreisesperre aufzuheben". Es handelt sich dabei um einen Antrag auf Befristung der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebungen des Klägers nach § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG; seit dem 1. Januar 2005 findet sich diese Regelung in § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG.

28

Über dieses Begehren hat der Beklagte auch nach ca. 1 ? Jahren - bezogen auf das letztgenannte Schreiben - nicht entschieden. Eine solche Zeitspanne ist auch angesichts der Regelung des § 75 Satz 2 VwGO nicht angemessen. Für die Verzögerung ist ein zureichender Grund auf Seiten des Beklagten nicht ersichtlich. Zwar ist das von ihm mit Schreiben vom 5. Oktober 2004 angeforderte türkische Führungszeugnis nebst beglaubigter amtlicher Übersetzung offenbar noch nicht eingereicht und sind möglicherweise auch die Abschiebungskosten noch nicht beglichen worden. Keiner dieser Umstände stellt jedoch einen zureichenden Grund im Sinne des § 75 Satz 1 VwGO dar. Einen Verstoß des Klägers gegen bestehende Mitwirkungspflichten gem. § 82 Abs. 1 AufenthG, wie er etwa in der Nichtvorlage des angeforderten türkischen Führungszeugnisses zu sehen wäre, und gegen Zahlungspflichten könnte der Beklagte im Rahmen seiner Ermessensentscheidung über die Fristbestimmung zu dessen Lasten berücksichtigen. Die Absicht des Beklagten, die Befristungsentscheidung bis zum Abschluss des Aufhebungsverfahrens zurückzustellen, rechtfertigt eine Verzögerung nicht; ein Antrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung ist sogar schon vor Unanfechtbarkeit der Ausweisungsverfügung möglich (Vormeier in: GK-AuslR, § 8, Rdnr. 71 f.).

29

Bei der nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu treffenden Ermessensentscheidung über die Befristung wird der Beklagte vor allem in Rechnung stellen müssen, dass im Hinblick auf das Aufenthaltsrecht des Klägers nach dem ARB 1/80 dessen Ausweisung nur als Ermessensentscheidung rechtmäßig war, so dass von einer regelmäßigen Frist von vier Jahren und nicht von zwölf Jahren wie bei Ist - Ausweisungen auszugehen wäre (vgl. auch Ziffer 11.1.5.1 der Vorl. Nds. VV-AufenthG), die je nach den Umständen des Einzelfalls verkürzt oder verlängert werden kann. Das Gemeinschaftsrecht muss insoweit trotz der Unanfechtbarkeit der Ausweisungsverfügung angemessen beachtet werden (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004 - Rs C-453/00 - InfAuslR2004, 139 f.). Zu Ungunsten des Klägers wird jedenfalls zu berücksichtigen sein, dass er zweimal in die Türkei abgeschoben worden ist. Im Hinblick auf die zu der deutschen Staatsangehörigen G. festgestellte Vaterschaft ist dem Schutz aus Art. 6 GG kein starkes Gewicht beizumessen, weil eine insoweit erforderliche familiäre Lebensgemeinschaft nicht besteht und allenfalls ein Umgangskontakt geplant ist.

30

Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.