Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 18.01.2006, Az.: 5 A 2739/04

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
18.01.2006
Aktenzeichen
5 A 2739/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 44745
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2006:0118.5A2739.04.0A

Fundstellen

  • ANA-ZAR 2006, 25 (Kurzinformation)
  • ZAR 2006, 25

In der Verwaltungsrechtssache

der Frau A.

Staatsangehörigkeit: türkisch,

Klägerin,

g e g e n

die Bundesrepublik Deutschland,

Beklagte,

beteiligt:

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten,

Streitgegenstand: Asylrecht, Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung

hat das Verwaltungsgericht Oldenburg - 5. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2006 und ohne weitere mündliche Verhandlung durch den Richter am Verwaltungsgericht Keiser als Einzelrichter

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat.

    Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG für die Klägerin vorliegen. Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 21. Juni 2004 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

    Die Beklagte trägt 1/3, die Klägerin 2/3 der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

    Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1

I.

Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit.

2

Sie stammt aus dem Dorf D. in der Provinz E. und reiste nach eigenen Angaben am 8. März 2004 mit dem Flugzeug in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 15. März 2004 stellte sie den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte. Zur Begründung trug sie vor:

3

Sie sei Yezidin und Analphabetin. Ihre Familie sei von religiösen Fanatikern (Moslems) verfolgt worden. Ihr Onkel sei schon 1991 von den Moslems getötet worden. Die Familie sei daher auseinandergerissen worden und sie - die Klägerin - sei zu einem anderen älteren Onkel nach D. geschickt worden. Auch dort seien sie unterdrückt und bedroht worden. Im Dorf habe es drei yezidische Familien gegeben, die allerdings untereinander keine Kontakte gepflegt hätten. Ihren Sheik habe sie nie gesehen. Etwa drei Monate vor der Ausreise habe sie Essen aufs Feld zu ihrem Onkel bringen sollen. Dabei sei sie von drei moslemischen Männern abgefangen und vergewaltigt worden.

4

Sie sei dadurch schwanger geworden. Ihr Onkel habe ihr aufgrund seines hohen Alters nicht helfen können.

5

Mit Bescheid vom 21. Juni 2004 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag der Klägerin als unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen von § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen und forderte die Klägerin unter Androhung der Abschiebung ab, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen.

6

Die Klägerin hat am 29. Juni 2004 Klage erhoben, mit der sie zunächst ihre Anerkennung als Asylberechtigte und die Feststellung der Voraussetzungen von § 51 Abs. 1 AuslG sowie die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG begehrte.

7

Zur Begründung der Klage wiederholt und vertieft sie die bereits im Verwaltungsverfahren vorgetragenen Umstände. Ergänzend trägt sie vor, dass sie unter posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund der erlebten Ereignisse leide und sich deshalb in ärztlicher Behandlung durch den Facharzt Dr. Aycha befinde.

8

Mit Beschluss vom 4. Mai 2005 hat das Gericht über die Frage, ob die Klägerin unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, ggf. wodurch diese Erkrankung verursacht bzw. ausgelöst worden ist und ob im Falle einer Rückkehr der Klägerin in die Türkei mit einer Retraumatisierung und damit verbunden mit einer lebensbedrohlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu rechnen ist, Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens der TraumaTransformConsult GmbH vertreten durch den Dipl.-Psychologen Thomas Weber. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Gutachten der Dipl.-Psychologin Schuh der TraumaTransformConsult GmbH vom 23. September 2005 und 8. März 2006 (Bl. 76 ff. und Bl. 208 ff. der Gerichtsakte) Bezug genommen.

9

Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vom 18. Januar 2006 die auf Anerkennung als Asylberechtigte und Feststellung der Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 AufenthG (früher § 51 Abs. 1 AuslG) gerichtete Klage zurückgenommen.

10

Die Klägerin beantragt nunmehr,

11

die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach §§ 60 Abs. 2 - 5 und 7 AufenthG vorliegen und den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 21. Juni 2004 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

12

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

13

Sie verweist auf die Gründe des angefochtenen Bescheides sowie darauf, dass eine posttraumatische Belastungsstörung grundsätzlich auch in der Türkei behandelbar sei.

14

Der beteiligte Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten stellt keinen Antrag und lässt sich auch sonst nicht zur Sache ein.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge verwiesen.

16

Weiter wird verwiesen auf Auskünfte, Gutachten, Stellungnahmen und Presseberichte, die den Beteiligten bekannt gegeben wurden und die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

17

II.

Das Verfahren war gemäß § 92 Abs. 1 und 3 VwGO einzustellen, soweit die Klägerin mit Einverständnis der Beklagten im Termin der mündlichen Verhandlung die Klage zurückgenommen hat.

18

Im Übrigen ist die Klage, über die gemäß § 101 Abs. 2 VwGO im Einverständnis mit den Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entschieden werden konnte, zulässig und begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Der insoweit entgegenstehende Bescheid des Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 21. Juni 2004 ist daher teilweise rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

19

Nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat dann abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dieser Tatbestand kann u.a. dann erfüllt sein, wenn aus gesundheitlichen Gründen eine Verletzung der in § 60 Abs. 7 AufenthG genannten Rechtsgüter droht. Erheblich in diesem Sinne ist dabei die Gefahr, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Konkret wäre eine derartige Gefahr, wenn der Ausländer alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat der Abschiebung in diese Lage geriete, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte. Die Gefahren der beschriebenen Art müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, so dass die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden, nicht genügt. Die Voraussetzung, dass der Ausländer alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat der Abschiebung in die beschriebene Lage geriete, bedeutet das unmittelbare Bevorstehen der Gefahr bei einer gedachten Abschiebung.

20

Unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Maßstäbe sowie nach dem Ergebnis der nachvollziehbaren und schlüssigen Feststellungen der Dipl.-Psychologin Schuh in den beiden Gutachten vom 23. September 2005 und 8. März 2006 ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass im Falle der Klägerin die Voraussetzungen für eine Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG unter dem Gesichtspunkt einer schweren Erkrankung vorliegen.

21

Die Gutachterin kommt in ihrem Gutachten vom 23. September 2005 zu der Feststellung, dass die Klägerin gegenwärtig unter einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) und einer leichten depressiven Episode (ICD-10: F 32.0) leidet, welche sich in introsivem Erleben, Angst- und Vermeidungsverhalten und Übererregung äußert (S. 66 des Gutachtens/S. 140 der Gerichtsakte). Diese posttraumatische Belastungsstörung ist nach Einschätzung der Gutachterin mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die im Heimatland erlittenen Erlebnisse zurückzuführen (S. 72 des Gutachtens/S. 146 der Gerichtsakte). Im Falle einer Rückkehr in die Türkei wäre daher mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Retraumatisierung zu rechnen, mit der Folge, dass sich der psychische und körperliche Zustand der Klägerin weiter erheblich verschlechtern und die posttraumatischen Beschwerden erheblich zunehmen würden (Ergänzungsgutachten vom 8. März 2006 S. 210 ff. der Gerichtsakte). Dabei ist auch mit einer lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands zu rechnen, weil in diesem Fall ein psychotischer Zusammenbruch und damit einhergehende suizidale Handlungen nicht auszuschließen seien (Ergänzungsgutachten S. 9/S. 216 ff. der Gerichtsakte).

22

Nach alledem ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin unmittelbar nach ihrer Rückkehr in die Türkei wegen der fehlenden Möglichkeit einer ausreichenden und sachgerechten Behandlung ihrer Krankheit und insbesondere der drohenden Retraumatisierung und Dekompensation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsste, alsbald in eine lebensbedrohliche, menschenunwürdige Lage zu geraten. Mithin war die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 21. Juni 2004 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 AufenthG für die Klägerin vorliegen.

23

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

24

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11 ZPO.