Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 29.09.2008, Az.: L 8 SO 80/08 ER
Anspruch auf Grundsicherungsleistungen aufgrund einer Erkrankung an Diabetes mellitus Typ II a; Grundsicherungsleistungen unter Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen krankheitsbedingter kostenaufwendiger Ernährung; Zulässigkeit einer Beschwerde im einstweiligen Rechtsschutzverfahren
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 29.09.2008
- Aktenzeichen
- L 8 SO 80/08 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 29630
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2008:0929.L8SO80.08ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 27.03.2008 - AZ: S 51 SO 64/08 ER
Rechtsgrundlagen
- § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG
- § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG
- § 44 Abs. 1 SGB XII
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Eine Änderung des Verfahrensrechts erfasst grundsätzlich auch anhängige Rechtsstreitigkeiten.
- 2.
Die Regelung des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ist dahingehend zu verstehen, dass die Beschwerde dann ausgeschlossen ist, wenn die Berufung in der Hauptsache nicht kraft Gesetzes ohne Weiteres zulässig wäre, sondern erst noch der Zulassung bedürfte.
Tenor:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 27. März 2008 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der unter anderem durch einen Diabetes mellitus Typ II a in seiner Gesundheit beeinträchtigte und seit dem 1. Januar 2006 von der Antragsgegnerin Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII beziehende Antragsteller begehrt, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihm die Grundsicherungsleistungen unter Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen krankheitsbedingter kostenaufwändiger Ernährung gemäß § 30 Abs. 5 SGB XII in Höhe von 55,06 EUR monatlich ab dem 1. September 2007 (hilfsweise ab Februar 2008) zu gewähren. Seinen entsprechenden Antrag hat das Sozialgericht Hannover (SG) mit Beschluss vom 27. März 2008 im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht, weil nach der u.a. auf das "Rationalisierungsschema 2004" des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner e.V. gestützten Rechtsprechung des 6. Senats des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 26. Februar 2007 - L 6 AS 71/07 ER ) bei einer Erkrankung an Diabetes mellitus - gleich welchen Typs - eine kostenaufwändige spezifische Ernährung nicht erforderlich sei. Gegen diesen ihm am 1. April 2008 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 2. Mai 2008 Beschwerde eingelegt.
II.
Die Beschwerde ist unzulässig und als solche zu verwerfen (§ 202 SGG i.V.m. § 572 Abs. 2 Satz 2 ZPO).
Die Beschwerde ist gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG in seiner ab 1. April 2008 geltenden Fassung (Artikel 1 Nr. 29 Buchstabe b des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 - BGBl. I S. 444) unzulässig. Nach dieser Vorschrift ist die Beschwerde in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschlossen, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre. Diese neue ohne Übergangsregelung am 1. April 2008 in Kraft getretene Beschwerdeausschlussregelung ist anwendbar. Nach dem allgemeinen Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts erfasst eine Änderung des Verfahrensrechts grundsätzlich auch anhängige Rechtsstreitigkeiten (BVerfGE 87, 48). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz aus Gründen des Vertrauensschutzes ist anerkannt, wenn eine nachträgliche Beschränkung von Rechtsmitteln zum Fortfall der Statthaftigkeit eines bereits eingelegten Rechtsmittels führen würde (BVerfG, a.a.O.). Eine solche Ausnahme liegt hier nicht vor, weil der Antragsteller erst am 2. Mai 2008 Beschwerde eingelegt hat. Vertrauensschutz bestand auch nicht dergestalt, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der Rechtsänderung noch im Vertrauen auf die dem angegriffenen Beschluss des SG vom 27. März 2008 nach alten Recht beigefügte Rechtsmittelbelehrung rechtzeitig unter der Geltung des alten Rechts hätte Beschwerde einlegen können (zu einer solchen - durchaus fraglichen - Ausnahme vgl.: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Juni 2008, L 32 B 758/08 AS, [...]). Denn der Beschluss des SG wurde ihm erst am 1. April 2008, als das neue Recht bereits in Kraft war, zugestellt.
Die nach ihrem Wortlaut und ihrer Systematik nicht eindeutige neue Regelung des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ist dahingehend zu verstehen, dass die Beschwerde dann ausgeschlossen - unzulässig - ist, wenn die Berufung in der Hauptsache nicht kraft Gesetzes ohne weiteres zulässig wäre, sondern erst noch der Zulassung bedürfte (so auch: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 10. April 2008 - L 9 B 74/08 AS ER - und vom 2. Juli 2008 - L 7 B 192/08 AS ER ; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11. August 2008 - L 7 AS 213/08 B ER ; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 8. September 2008 - L 13 AS 178/08 ER ; Landessozialgericht Hamburg, Beschluss vom 1. September 2008 - L 5 AS 70/08 NZB ; im Ergebnis auch: Landessozialgericht Berlin- Brandenburg, Beschlüsse vom 2. Juni 2008 - L 28 B 919/08 AS - und vom 26. Juni 2008 - L 25 B 938/08 AS , sämtlich veröffentlicht in [...]; Burkiczak, Die Änderungen des Sozialgerichtsgesetzes im Jahre 2008, ZFSH/SGB 2008, 323, 330 li).
Der Senat teilt zwar nicht die Auffassung, dass der Wortlaut des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ein solches Verständnis der Vorschrift nahe legt. Diese Auffassung wird damit begründet, der Wortlaut verdeutliche, dass die Beschwerde in einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur dann zulässig sein solle, wenn in der Hauptsache die Berufung zulässig "wäre". Dies spreche eher dafür, dass lediglich Verfahren gemeint seien, in denen die Zulässigkeit schon kraft Gesetzes mangels eines der Ausschlussgründe des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG und nicht erst nach ausdrücklicher Zulassung gegeben sei (LSG NRW, LSG Hamburg und LSG Niedersachsen-Bremen - 13. Senat , jeweils a.a.O.). Diese Begründung überzeugt deshalb nicht, weil sie nicht von dem Wortlaut "wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre" ausgeht, sondern die Bedeutung der Vorschrift ins Positive wendet und in "wenn in der Sache die Berufung zulässig wäre" umformuliert. Der tatsächliche Wortlaut "wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre" erfasst Fälle der Zulassungsbedürftigkeit nach § 144 Abs. 1 SGG eher nicht. Denn in diesen Fällen ist die Berufung anders als nach § 144 Abs. 4 SGG bei einer auf die Kosten des Verfahrens bezogenen Berufung nicht unzulässig ("ausgeschlossen"), sondern (lediglich) zulassungsbedürftig. Die gesetzgeberische Anknüpfung an die (Un-) Zulässigkeit der Berufung ist nicht eindeutig, weil sie nicht berücksichtigt, dass die Berufung dann, wenn sie zulassungsbedürftig ist, weder zulässig noch unzulässig ist, sondern sich quasi in einem gerichtlich in die eine oder andere Richtung zu klärenden Zwischenstadium befindet.
Für das oben genannte Verständnis des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG spricht aber zunächst systematisch, dass die Regelung nicht auf die die Zulassungsbedürftigkeit der Berufung und die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde regelnden §§ 144 und 145 SGG verweist. Weiterhin sprechen Sinn und Zweck der Norm für die genannte Auslegung der neuen Beschwerdeausschlussvorschrift (vgl auch Landessozialgericht Hamburg und Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen 13. Senat , a.a.O.). Sie soll die Landessozialgerichte von Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entlasten (BT-Drs 16/7716 S. 22 und 32 - zu Artikel 1 Nr. 29 Buchstabe b -; BR-Drs 820/07 S. 13). Diesem Entlastungszweck liefe es zuwider, die §§ 144, 145 SGG trotz fehlender Verweisung auf diese Vorschriften entsprechend anzuwenden und die Möglichkeit der Zulassung der Beschwerde durch das SG zu eröffnen oder auf eine Beschwerde die inzidente Überprüfung der Voraussetzungen einer Nichtzulassungsbeschwerde (§ 145 SGG) durch das LSG zu ermöglichen.
Darüber hinaus sind die auf Hauptsacheverfahren zugeschnittenen Zulassungsgründe des § 144 Abs. 2 SGG auf das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht oder nur mit großen Unsicherheiten übertragbar (vgl hierzu im Einzelnen LSG Hamburg, a.a.O., Rdnrn 7, 8). Die Beschwerde gegen eine Entscheidung des SG im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch bei Vorliegen einer dieser Zulassungsgründe nicht als durch § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen anzusehen, würde zu zahlreichen Unsicherheiten und Problemen sowie insgesamt zu einer nicht ausreichenden Kontur der Beschwerde führen. Wenn der Gesetzgeber die Beschwerde in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entgegen dem von ihm verfolgten Zweck in den Fällen als zulässig bestimmen will, in denen eine Berufung in der Hauptsache gemäß § 144 Abs. 1 SGG der Zulassung bedarf und einer der Zulassungsgründe des § 144 Abs. 2 SGG vorliegt, muss er eine dem Gebot der Rechtsmittelklarheit entsprechende klare Regelung schaffen (vgl auch LSG Hamburg, a.a.O., Rdnr 9 m.w.N.).
Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG in der ab 1. April 2008 geltenden Fassung ist die Berufung zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR übersteigt. Das gilt nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft. Beides ist hier nicht der Fall. Der Wert des Beschwerdegegenstandes - der sich danach bestimmt, was das SG dem Antragsteller versagt hat - liegt unter 750,00 EUR. In zeitlicher Hinsicht betrifft der geltend gemachte Anspruch einen Zeitraum von nicht mehr als einem Jahr. Zwar hat der Antragsteller seinen Antrag zeitlich offen dahingehend formuliert, dass er die Anerkennung des streitigen Mehrbedarfs ab dem 1. September 2007 begehrt. Selbst wenn man den streitigen Zeitraum hier nicht auf denjenigen vom 1. September 2007 bis zum Ende des bei der Beantragung des Mehrbedarfs bei der Antragsgegnerin im September 2007 laufenden 12-monatigen Bewilligungszeitraums der (übrigen) Grundsicherungsleistungen am 31. Dezember 2007 (also auf vier Monate x 55,06 EUR = 220,24 EUR) eingegrenzt ansieht, ist der Antrag doch jedenfalls auf den gemäß § 44 Abs. 1 SGB XII regelmäßig höchstmöglichen 12-monatigen Bewilligungszeitraum einzuschränken, so dass sich lediglich ein Wert des Beschwerdegegenstandes in Höhe von 660,27 EUR (12 Monate x 55,06 EUR) ergibt.
Der Senat hat auch nicht - wie der Antragsteller hilfsweise geltend macht - gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG als Gericht der Hauptsache in der Sache zu entscheiden. Denn im Sinne dieser Vorschrift ist nicht "die Hauptsache" bei dem Senat anhängig. Die dem vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entsprechende Hauptsache ist - wie der Antragsteller selbst zutreffend vorgetragen hat - seit der am 10. März 2008 erhobenen Klage (ablehnender Bescheid vom 7. Dezember 2007, Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2008) bei dem SG unter dem Az S 51 SO 109/08 anhängig. Die bei dem Senat im Berufungsverfahren L 8 SO 100/07 anhängige Hauptsache ist eine andere, weil sie die Anerkennung des streitigen Mehrbedarfs für den Zeitraum vom 1. Januar bis 20. März 2006 zum Gegenstand hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Da die Beschwerde des Antragstellers nicht erfolgreich war, sind seine außergerichtlichen Kosten nicht zu erstatten.
Gerichtskosten werden in Sozialhilfeverfahren dieser Art nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.