Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 08.09.2008, Az.: L 13 AS 178/08 ER
Bedeutung der Zulässigkeit der Berufung in der Hauptsache für die Zulässigkeit von Beschwerden in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes; Notwendigkeit des Überschreitens des Schwellenwerts für eine zulassungsfreie Berufung i.H.v. 750,00 EUR durch den streitigen Betrag für eine Zulässigkeit der Beschwerde im einstweiligen Rechtsschutz
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 08.09.2008
- Aktenzeichen
- L 13 AS 178/08 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 22703
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2008:0908.L13AS178.08ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Aurich - 24.06.2008 - AZ: S 35 AS 454/08 ER
Rechtsgrundlagen
- § 144 SGG
- § 145 SGG
- § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG
Redaktioneller Leitsatz
In Verfahren, die eine Geld- oder geldwerte Sach- oder Dienstleistung betreffen, ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die Beschwerde gem. § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. § 144 Abs. 1 Nr. 1 in der ab 1. April 2008 geltenden Fassung lediglich dann noch statthaft, wenn der streitige Betrag den Schwellenwert für eine zulassungsfreie Berufung i.H.v. 750,00 EUR übersteigt oder wenn die Beschwerde wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass möglicherweise vom SG in einem Urteil in einem Hauptsacheverfahren die Berufung zugelassen werden könnte (vgl. § 144 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 SGG) oder dass die Nichtzulassung der Berufung durch das SG mit der Beschwerde nach § 145 SGG angefochten werden könnte. Im Übrigen kann die Regelung in § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG auch nicht erweiternd dahin verstanden werden, der allgemeine Verweis auf die Wertgrenzen der §§ 144 ff. SGG beinhalte auch die Berechtigung des SG, in seiner Entscheidung nach § 86b Abs. 2 SGG die Beschwerde zuzulassen, oder die Möglichkeit des Beschwerdegerichts, in einem Beschwerdeverfahren inzident die Voraussetzungen einer Nichtzulassungsbeschwerde nach § 145 SGG durchprüfen zu können.
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Aurich vom 24. Juli 2008 wird als unzulässig verworfen.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch im Beschwerdeverfahren zu tragen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Höhe der von der Antragsgegnerin zugunsten des Antragstellers zu übernehmenden Kosten der Unterkunft nach § 22 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Während die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 21. Mai 2008 dem Antragsteller für den Bewilligungszeitraum Juni bis November 2008 zu berücksichtigende Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 221,05 EUR zuerkannte, hat der Antragsteller nach erfolglosem Widerspruch vor dem Sozialgericht (SG) Aurich die Verpflichtung der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung begehrt, für Kosten der Unterkunft und Heizung monatlich insgesamt 289,08 EUR zu übernehmen.
Mit Beschluss vom 24. Juli 2008 entsprach das SG diesem Antrag und verpflichtete die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung, vorläufig Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung von Kosten der Unterkunft und Heizung in der Zeitspanne 23. Juni bis 30. November 2008 in Höhe von insgesamt monatlich 289,08 EUR zu gewähren. Zur Begründung hat das SG u.a. ausgeführt, dass es entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht darauf ankomme, dass der Antragsteller zusammen mit Frau S. als Wohngemeinschaft in einer ca. 90 qm großen Wohnung - und damit in einer unangemessen großen Wohnung - wohne. Vielmehr komme es auf die konkrete Angemessenheit der betreffenden Wohnung und den auf den Antragsteller entfallenden Anteil der Unterkunftskosten an, die unter Berücksichtigung des Mietspiegels für die Stadt A. als angemessen anzusehen seien. Am Ende des Beschlusses hat das SG darauf hingewiesen, dass gegen den Beschluss die Beschwerde ausgeschlossen sei.
Gegen den ihr am 25. Juli 2008 zugestellten Beschluss führt die Antragsgegnerin am 7. August 2008 Beschwerde. Sie macht geltend: Die Beschwerde sei zulässig, denn bei der dem Beschluss zugrunde liegenden Rechtsfrage handele es sich um eine Angelegenheit von grundsätzlicher Bedeutung i. S. von § 144 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Es sei eine weit über dem Einzelfall hinausreichende Frage, ob beim Zusammenleben eines Hilfesuchenden in einer Wohngemeinschaft, deren übrige Mitglieder Nichthilfeempfänger seien, ein Abschlag von der für einen Ein-Personen-Haushalt geltenden maximalen Wohnfläche vorzunehmen sei, so dass bei Wohngemeinschaften Wohnfläche als angemessener Wohnraum für den Hilfesuchenden allenfalls eine Wohnfläche von 40 qm anzuerkennen sei. Jedenfalls habe in dieser Richtung das Hessische LSG mit Beschluss vom 19. Mai 2008 - L 9 AS 91/08 B ER - und damit abweichend vom Beschluss des 9. Senats des erkennenden Gerichts vom 13. April 2006 - L 9 AS 131/06 ER - entschieden.
Der Antragsteller ist der Beschwerde entgegengetreten und macht geltend, dass sie unzulässig sei.
II.
Die Beschwerde ist als unzulässig zu verwerfen (§ 202 SGG i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG in der Fassung des am 1. April 2008 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 444 ff) sind Beschwerden in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur dann noch zulässig, wenn in der Hauptsache die Berufung zulässig wäre. In Verfahren, die eine Geld- oder geldwerte Sach- oder Dienstleistung betreffen, ist danach in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Beschwerde gem. § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. § 144 Abs. 1 Nr. 1 in der ab 1. April 2008 geltenden Fassung lediglich dann noch statthaft, wenn der streitige Betrag den Schwellenwert für eine zulassungsfreie Berufung i. H. v. 750,00 EUR übersteigt oder wenn die Beschwerde wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
Diese Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Beschwerde sind vorliegend nicht erfüllt. Denn für den sechsmonatigen Bewilligungszeitraum, der mit dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 21. Mai 2008 geregelt und welcher vom Beschluss des SG vom 24. Juli 2008 erfasst wurde, wurden Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich zunächst 221,05 und später 250,05 EUR erfasst, so dass bei dem hier zuletzt streitigen Differenzbetrag von monatlich 38,84 EUR der maßgebliche Schwellenwert nicht erreicht wird.
Die Belastung der Antragsgegnerin liegt damit wertmäßig unter dem Schwellenwert von 750,00 EUR, bei dessen Erreichen nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG erst eine Berufung ohne Zulassung erhoben werden kann. Daraus folgt, dass auch die Beschwerde im Eilverfahren ausgeschlossen ist.
Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ergibt sich auch nichts anderes daraus, dass möglicherweise vom SG in einem Urteil in einem Hauptsacheverfahren die Berufung zugelassen werden könnte (vgl. § 144 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 SGG) oder dass die Nichtzulassung der Berufung durch das SG mit der Beschwerde nach § 145 SGG angefochten werden könnte. Denn nach dem Wortlaut der Regelung in § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ist es erforderlich, dass die Berufung "zulässig" ist. Dies wäre aber nach dem Wortlaut auch im Falle einer Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG nicht der Fall. Denn nach dieser Norm wäre die Berufung nicht "zulässig", sondern "zuzulassen". Daher spricht schon der Wortlaut der hier in Rede stehenden Norm dafür, nicht auf eventuelle Zulassungsgründe eines Hauptsacheverfahrens wegen grundsätzlicher Bedeutung oder auf eine hypothetische Nichtzulassungsbeschwerde nach § 145 SGG abzustellen (vgl. dazu: Beschluss des Senats vom 17. Juli 2008 - L 13 AS 140/08 ER -; Beschluss des 9. Senats des erkennenden Gerichts vom 28. Juli 2008 - L 9 AS 426/08 ER -; OVG Bremen, Beschluss vom 7. Juli 2008 - S 2 B 245/08 -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Juni 2008 L 28 B 919/08 AS ER - Rdn. 3, zitiert nach [...]).
Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin kann die Regelung in § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG auch nicht erweiternd dahin verstanden werden, der allgemeine Verweis auf die Wertgrenzen der §§ 144 ff. SGG beinhalte auch die Berechtigung des SG, in seiner Entscheidung nach § 86 b Abs. 2 SGG die Beschwerde zuzulassen, oder die Möglichkeit des Beschwerdegerichts, in einem Beschwerdeverfahren inzident die Voraussetzungen einer Nichtzulassungsbeschwerde nach § 145 SGG durchprüfen zu können. Denn ein derartiges Verständnis würde dem Sinn und Zweck der neu eingeführten Regelung zuwider laufen. Die Norm beabsichtigt nämlich in erster Linie in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Entlastung der Landessozialgerichte zu erreichen, die bei Zulassung der Beschwerde (sei es durch das SG, sei es in einem inzidenten Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren) wieder unterlaufen würde (vgl. zur beabsichtigten Entlastung: BT-Drs. 16/7716, S. 22 und 32 - dort zu Nr. 29 Buchstabe b, abgedruckt auch auf S. 106 bei Paulat/Sonnemann, Sozialgerichtsgesetz, Textausgabe mit Erläuterungen und Materialien, Stuttgart 2008). Ferner sollen durch die Neuregelung die Rechtsschutzmöglichkeiten im Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, in denen in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre, gegenüber den Rechtsschutzmöglichkeiten im Hauptsacheverfahren nicht privilegiert werden (vgl. dazu: BR-Drs. 820/07, S. 28/29).
Hinzu kommt, dass ein anderes Verständnis der Norm in dem Sinne, die Möglichkeit der gerichtlichen Zulassung der Beschwerde im Ausgangsverfahren durch das SG sei erlaubt, nicht hinreichend berücksichtigt, dass nicht jedem Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zwingend ein Hauptsacheverfahren bei Gericht nachfolgen muss. Hinzu kommt, dass auch sonst rein hypothetische Überlegungen angestellt werden müssten, die in einem späteren Hauptsacheverfahren keineswegs das dann entscheidende Gericht hinsichtlich der Zulassung der Berufung binden könnten (vgl. auch dazu: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10. April 2008 - L 9 B 74/08 AS ER -). Schließlich hätte es sonst beim Gesetzgebungsverfahren nahe gelegen, bei der Neuformulierung von § 172 Abs. 3 SGG auch eine entsprechende Anwendung von § 144 SGG einzufügen, was aber unterblieben ist. Vielmehr kommt in der Neufassung der allgemeine gesetzgeberische Gedanke zum Ausdruck, es möglichst unterhalb einer bestimmten Wertgrenze - hier dem Schwellenwert von 750,00 EUR oder einer länger als ein Jahr bezogenen Leistung - in Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes es bei einer erstinstanzlichen Entscheidung bewenden zu lassen, die ohnehin ihrer Rechtsnatur nach nur vorläufig sein kann. Die Antragsgegnerin hat es als die zur Leistung verpflichtete Behörde ohnehin in der Hand, später in einem Hauptsacheverfahren ihren Rechtsstandpunkt deutlich zu machen. Erfolgt dann in einem nach Erlass des Eilbeschlusses ergehenden Urteil in der Hauptsache eine Zulassung der Berufung, kommt allenfalls ein Abänderungsbeschluss nach § 86 b Abs. 1 Satz 4 SGG analog in Betracht, soweit er sich nicht ohnehin durch eine zeitliche Befristung in der einstweiligen Anordnung erledigt hat (vgl. Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Aufl. Baden-Baden 2008, Rdn. 49, S. 35). Dabei verkennt der Senat nicht, dass gerade im Bereich der Streitigkeiten um Leistungen nach dem SGB II durchaus nicht selten der Fall eintreten kann, dass in Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes der Schwellenwert nicht erreicht wird, so dass allgemeine interessierende Rechtsfragen - wie sie im vorliegenden Verfahren durch die Antragsgegnerin angesprochen werden - möglicherweise nur in einem zeitlich wesentlich später liegenden Hauptsacheverfahren einer zweitinstanzlichen Klärung zugeführt werden können. Dieser "Nachteil" wird aber durchaus aufgewogen durch den "Vorteil", dass bei Streitgegenständen, die unterhalb des Schwellenwertes liegen, im einstweiligen Verfahren durch erstinstanzliche Entscheidungen schnell eine Klärung herbeigeführt werden kann. Der Umstand, dass möglicherweise für einen gewissen Zeitraum zu bestimmten Rechtsfragen divergierende Beschlüsse verschiedener Sozialgerichte vorliegen können, ist demgegenüber vom Gesetzgeber im Interesse einer zügigen Abwicklung der Eilverfahren und der Entlastung der Landessozialgerichte hingenommen worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gem. § 177 SGG unanfechtbar.