Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 08.02.2019, Az.: 10 B 575/19

Familienangehöriger; Familieneinheit; maßgeblicher Zeitpunkt; Spanien; Stattgabe

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
08.02.2019
Aktenzeichen
10 B 575/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69477
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 25. Januar 2019 gegen die in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. Januar 2019 ausgesprochene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Dem Antragsteller wird unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. Prozesskostenhilfe mit der Maßgabe beigeordnet, dass die Vergütung nur in dem Umfang erstattungsfähig ist, wie sie bei einer im Bezirk des Gerichts oder am Wohnsitz des Antragstellers ortsansässigen Anwältin anfallen würde.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung seiner Abschiebung nach Spanien im Rahmen eines sog. Dublin-III-Verfahrens.

Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben 1990 geboren und guineischer Staatsangehöriger. Er reiste ebenfalls nach eigenen Angaben am 8. Oktober 2018 von Spanien kommend auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein stellte hier am 9. November 2018 einen förmlichen Asylantrag.

In seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 15. November 2018 erklärte der Antragsteller, dass sich seine traditionell verheiratete Ehefrau, die 2017 im Bundesgebiet geborene gemeinsame Tochter und seine 2005 geborene, minderjährige Schwester ebenfalls im Bundesgebiet aufhielten.

Der Antragsteller ist ausweislich einer Bestallung vom 11. Dezember 2018 zum Vormund für seine jüngere Schwester bestellt, der mit Bescheid vom 11. Januar 2019 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde.

Die Überprüfung der Fingerabdrücke des Antragstellers im EURODAC-System ergab am 9. November 2018, dass er am 29. Oktober 2018 in Spanien wegen illegalen Grenzübertritts erkennungsdienstlich behandelt worden war. Das Bundesamt richtete daher unter dem 20. November 2018 ein Aufnahmeersuchen an Spanien, auf das die spanischen Behörden keine fristgerechte Antwort übermittelten.

Am 3. Dezember 2018 ließ der Antragsteller anwaltlich vertreten mitteilen, dass er sein Schutzgesuch als Antrag auf Familienasyl im Sinne des § 26 AsylG zu verstehen bitte und verwies auf die Zuerkennung von internationalem Schutz zugunsten seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter. Eine Anerkennung der Vaterschaft werde nachgereicht.

Mit Bescheid vom 17. Januar 2019 wurde der Antragsteller im Wege der Zuweisung aufgefordert, sich am 24. Januar 2019 zur Stadt A-Stadt zu begeben. Seit 24. Januar 2019 lebt er dort gemeinsam mit seiner Ehefrau, der gemeinsamen Tochter und seiner Schwester in einem Haushalt.

Mit Bescheid vom 22. Januar 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab, ordnete seine Abschiebung nach Spanien an und befristete das gesetzliche Wiedereinreiseverbot auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung wird ausgeführt, dass der Antragstelle keine Eheurkunde als Nachweis vorgelegt habe. Die Trennung unverheirateter Lebensgefährten sei nach der Dublin-Verordnung zulässig. Der Bescheid wurde dem Antragsteller am 25. Januar 2019 über seine Bevollmächtigte zugestellt.

Am 25. Januar 2019 hat der Antragsteller Klage erhoben – 10 A 573/19 – und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung seiner Klage und des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz macht er geltend, dass zur Wahrung der Familieneinheit die Beklagte für die Prüfung seines Schutzgesuchs zuständig sei. Die Anerkennung der Vaterschaft begegne formalen Hürden, er habe aber einen Termin für einen medizinischen Abstammungstest.

Er beantragt sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage – 10 A 573/19 – gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. Januar 2019 anzuordnen, soweit darin die Abschiebung nach Spanien angeordnet ist.

Die Antragsgegnerin hat beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

1. Die Entscheidung ergeht aufgrund von § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.

2. Der Antrag ist zulässig, insbesondere innerhalb der Wochenfrist erhoben. Er ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Abschiebungsanordnung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem gesetzlich angeordneten Vollzug der Abschiebungsandrohung überwiegt. Hier überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Denn nach der im vorliegenden Verfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angeordneten Abschiebung des Antragstellers nach Spanien.

Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidungen auf § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34 a Abs. 1 AsylG. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von EU-Recht oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Da der Antragsteller seinen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes nach dem 1. Januar 2014 gestellt hat, sind nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (vom 29.6.2013, Abl. L 180) – Dublin III-VO – die Vorschriften dieser Verordnung anzuwenden.

Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Diese Voraussetzungen sind hier voraussichtlich nicht gegeben, weil schon die Zuständigkeit Spaniens nicht eröffnet ist. Spanien wäre zwar gem. Art. 13 Abs. 1, Art. 22 Abs. 7 bzw. 25 Abs. 2 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, weil der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Grenze Spaniens überquert hat.

Diesem Zuständigkeitskriterium geht in der Rangfolge (vgl. Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO) allerdings Art. 9 Dublin III-VO vor. Danach ist, wenn der Antragsteller einen Familienangehörigen hat, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes aufenthaltsberechtigt ist, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.

Es spricht derzeit überwiegendes dafür, dass diese vorrangige Zuständigkeit der Antragsgegnerin eröffnet ist. Eine Familienangehörige im Sinne von Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO ist zum einen die minderjährige Schwester des Antragstellers, für die der Antragsteller als bestallter Vormund im Sinne dieser Vorschrift ein nach dem Recht des Mitgliedsstaats verantwortlicher Erwachsener ist. Auch die Tochter des Antragstellers ist als minderjähriges Kind schutzberechtigte Familienangehörige im Sinne des Art. 2 Buchst. 6 Dublin III-VO.

Der Antragsteller hat – im Hinblick auf seine Ehegattin und die gemeinsame Tochter ausdrücklich schriftlich, im Hinblick auf seine jüngere Schwester durch die gegengezeichnete Niederschrift der Anhörung der Schriftform genügend – auch den Wunsch kundgetan, dass die Antragsgegnerin sein Schutzgesuch in eigener Zuständigkeit prüft.

Der Zuständigkeit der Antragsgegnerin steht schließlich auch nicht entgegen, dass der Antragsteller weder über die die (traditionelle) Eheschließung mit seiner Ehefrau noch über seine Vaterschaft bisher Beweis erbracht hat. Maßgeblich im Sinne von Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO ist insoweit die tatsächliche Sachlage, also das Bestehen der Vaterschaft im Zeitpunkt der Asylantragstellung durch den Antragsteller. Der Beweis der Vaterschaft kann dagegen noch während des Verwaltungsverfahren oder während des gerichtlichen Verfahrens erbracht werden. Das gilt umso mehr, wenn ein Nachweis, wie hier geltend gemacht, zeitnah zu erreichen ist und auch weitere Indizien wie die tatsächliche Lebensgemeinschaft für die Vaterschaft sprechen. Auch falls der Ehefrau und der Tochter des Antragstellers die Flüchtlingseigenschaft erst zuerkennt worden wäre, nach dem er seinen eigenen Asylantrag gestellt hat – was angesichts des Ausstellungsdatums von deren Aufenthaltstitel nicht der Fall sein dürfte –, stünde das der Zuständigkeit der Antragsgegnerin nicht entgegen, weil die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht konstitutiv ab dem Zeitpunkt der Zuerkennung erfolgt, sondern deklaratorisch.

Nachdem jedenfalls die Frage, ob die Vaterschaft des Antragstellers hinreichend nachgewiesen ist, der Aufklärung im Hauptsacheverfahren bedarf, kann hier auch offen bleiben, ob auch die Bestallung des Antragstellers als Vormund seiner minderjährigen Schwester hier ausnahmsweise zu berücksichtigen ist, obwohl sie erst erfolgt ist, nachdem der Antragsteller seinen Asylantrag gestellt hat, und erst ab diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen des Art. 9 Dublin III-VO vorgelegen haben. Für die Berücksichtigung dieses Umstandes streitet dabei, dass nach Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO das Wohl des Kindes in allen Verfahren nach der Dublin III-VO vorrangig zu beachten ist und das Kindeswohl der minderjährigen Schwester des Antragstellers auch für dessen Verfahren zu seinen Gunsten Reflexwirkung entfalten könnte.

Selbst wenn Art. 9 Dublin III-VO hier gänzlich unanwendbar und die Antragsgegnerin zutreffend von der Zuständigkeit Spaniens aufgrund von Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO ausgegangen wäre, wäre die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen, weil nicht feststeht, dass die Abschiebung des Antragstellers durchgeführt werden kann. Insofern steht sowohl im Hinblick auf die Tochter des Antragstellers als auch im Hinblick auf dessen Schwester ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis aufgrund von Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK absehbar im Raum, dessen Vorliegen im Hauptsacheverfahren zu klären sein wird.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.

4. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen und – wie sich aus vorstehenden Ausführungen ergibt – hinreichende Erfolgsaussichten sind gegeben.