Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.06.2006, Az.: 12 K 274/02
Anerkennung von in Zusammenhang mit dem Schulbesuch eines an Entwicklungsstörungen leidenden Kindes entstandenen Fahrtkosten als außergewöhnliche Belastung; Rechtsprechungsgrundsätze zur Berücksichtigung von für den Besuch einer Sonderschule aufgewendete Krankheitskosten
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 28.06.2006
- Aktenzeichen
- 12 K 274/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 23627
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2006:0628.12K274.02.0A
Rechtsgrundlagen
- § 33 EStG
- § 33a EStG
Fundstellen
- DStR 2006, X Heft 38 (amtl. Leitsatz)
- DStRE 2006, 1459-1460 (Volltext mit amtl. LS)
- EFG 2006, 1842-1844 (Volltext mit amtl. LS)
- NWB direkt 2006, 5
- Jurion-Abstract 2006, 228629 (Zusammenfassung)
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Fahrtkosten für ein an Entwicklungsstörungen leidendes Kind anlässlich eines Schulwechsels sind nicht als außergewöhnliche Belastung abzugsfähig. Bei den Aufwendungen handelt es sich dem Grunde nach um Berufsausbildungskosten, die mit dem Kinderfreibetrag/Kindergeld abgegolten sind.
- 2.
Ein Abzug als außergewöhnliche Belastung kommt nur in Betracht, wenn die Fahrtkosten krankheitsbedingt waren, d.h. wenn der erforderliche Schulwechsel medizinisch indiziert gewesen wäre.
Tatbestand
Streitig ist die Anerkennung von Fahrtkosten in Zusammenhang mit dem Schulbesuch eines an Entwicklungsstörungen leidenden Kindes als außergewöhnliche Belastung im Sinne von § 33 Einkommensteuergesetz (EStG).
Die Kläger sind Eheleute, die für das Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden.
Am 16. September 1999 stellte die Klägerin ihre Tochter J., geboren am 20. Juli 1988, in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vor, weil sie unter Hemmungen, Ängsten, Konzentrationsstörungen, Lese- und Rechtschreibstörungen und ab und zu unter Einnässen litt. Der leitende Arzt kam in dem Befundbericht zu dem Ergebnis, dass bei J. nach ihrer extremen Frühgeborenheit und langer intensiver Behandlung sowie den Krampfanfällen im ersten Lebensjahr eine deutliche psychointellektuelle Entwicklungsstörung vorlag. Da J. nach seiner Auffassung einer besonderen schulischen Betreuung bedurfte, empfahl er die Einschulung in eine Körperbehindertenschule. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf den "Kinderpsychiatrischen Befundbericht" vom 16. September 1999 Bezug genommen.
Im Rahmen der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs erstellte das Gesundheitsamt des Landkreises V. (Kinder- und Jugendgesundheitsdienst) am 20. Dezember 1999 ein schulärztliches Gutachten. Auf dem kinderpsychiatrischen Befundbericht aufbauend, kam auch das Gesundheitsamt zu der Einschätzung, dass eine weitere Förderung des Kindes in einer Schulform mit kleinen Lerngruppen unbedingt notwendig sei. Wörtlich wird in dem Gutachten ausgeführt, dass "aus ärztlicher Sicht keine Bedenken gegen eine Aufnahme in einer Schule für Körperbehinderte bestehen". Nach Auffassung des Schularztes sollte bei der sonderpädagogischen Überprüfung geprüft werden, ob eine Beschulung nach den Rahmenrichtlinien für Lernhilfe oder für geistig Behinderte notwendig erscheint. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf dass schulärztliche Gutachten vom 20. Dezember 1999 Bezug genommen.
Am 25. Januar 2000 erstellte die Schule für Körperbehinderte in O. ein Beratungsgutachten zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass J. mit den Anforderungen der Grundschule überfordert sei und an der Schule für Körperbehinderte gefördert werden sollte. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 25. Januar 2000 verwiesen.
Mit Bescheid vom 31. Januar 2000 stellte die Bezirksregierung W. fest, dass bei J. ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt und wies sie hinsichtlich des weiteren Schulbesuches der Schule für Körperbehinderte O. zu. Die Einweisung erfolgte unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Kläger, die zu diesem Zeitpunkt in V. lebten, im Sommer 2000 nach W. umziehen mussten und auf diese Weise dem Kind die Auswirkungen eines zusätzlichen Schulwechsels erspart werden sollten.
Eine Körperbehinderung wurde bei J. nicht festgestellt. Nach eigenen Angaben haben die Kläger auf die Beantragung eines Schwerbehindertenausweises wegen der für das Kind belastenden Untersuchungen verzichtet.
In der Einkommensteuererklärung 2000 machten die Kläger für ihre Tochter Fahrtkosten zur Schule für Körperbehinderte nach Oldenburg in Höhe von 7.300,80 DM (135 Tage x 52 km x 1,04 DM) als außergewöhnliche Belastungen geltend. Im Einkommensteuerbescheid für 2000 erkannte das beklagte Finanzamt diese Aufwendungen jedoch nicht an, da der Grad der Behinderung des Kindes nicht nachgewiesen sei. Gegen den Einkommensteuerbescheid vom 6. Dezember 2001 legten die Kläger fristgerecht Einspruch ein, der jedoch erfolglos blieb.
Mit der vorliegenden Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren aus dem Einspruchsverfahren weiter. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen Folgendes vor: Den Klägern seien zwangsläufig (Bescheid einer Behörde) größere Aufwendungen für ihre Tochter entstanden, die einer Mehrzahl der anderen Steuerpflichtigen mit schulpflichtigen Kindern nicht entstehen würden. Für die Anerkennung der Fahrtkosten als außergewöhnliche Belastungen sei ausreichend, dass die Bezirksregierung unter Mitwirkung des Gesundheitsamtes die Einweisung der Tochter veranlasst habe.
Die Kläger beantragen,
den Betrag von 7.301 DM als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen und die Einkommensteuer für das Streitjahr entsprechend herabzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Fahrtkosten seien nicht aus außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen, da für J. weder ein entsprechender Nachweis für eine Körperbehinderung vorliege noch die Fahrtkosten unmittelbare Krankheitskosten darstellten. Die Unterbringung des Kindes in der betreffenden Schule sei wesentlich durch schulische bzw. private Zwecke (Umzug) veranlasst worden und diente nicht der Behandlung oder Linderung ihrer Krankheit. Diese Kosten stellten vielmehr Ausbildungskosten dar, die im Streitjahr durch die Gewährung von Kindergeld abgegolten seien. Zum weiteren Vorbringen wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
Gründe
1.
Die Klage ist unbegründet.
Die geltend gemachten Fahrtkosten sind nicht als außergewöhnliche Belastungen abzugsfähig, da es sich nicht um unmittelbare Krankheitskosten handelt.
a.
Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen.
aa)
Bei den von den Klägern geltend gemachten Aufwendungen handelt es sich dem Grunde nach um Berufsausbildungskosten, die mit dem Kinderfreibetrag/Kindergeld abgegolten sind, sofern nicht die Voraussetzungen des § 33a Absatz 2 EStG in der für das Streitjahr geltenden Fassung vorliegen. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass nur in Ausnahmefällen durch außergewöhnliche Umstände anfallende zusätzliche besondere Aufwendungen nicht durch den Kinderfreibetrag/Kindergeld oder die Pauschalregelung in § 33a Abs. 2 EStG abgegolten werden. Eine solche Ausnahme stellen insbesondere unmittelbare Krankheitskosten dar, die einem unterhaltsverpflichteten Dritten beispielsweise für den krankheitsbedingten Besuch eines Schulinternats entstehen (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 22. Dezember 2004 III B 169/03, BFH/NV 2005, 699).
Der BFH hat in ständiger Rechtsprechung den Abzug von Krankheitskosten - auch für den Besuch einer (Sonder-)Schule oder einer sozialtherapeutischen Wohngruppe - aber nur dann als zwangsläufig i.S. von § 33 EStG anerkannt, wenn diese zum Zwecke der Heilung einer Krankheit oder mit dem Ziel, diese erträglicher zu machen, getätigt werden. Es muss sich um unmittelbare Krankheitskosten handeln (vgl. BFH-Urteil vom 21. April 2005 III R 45/03 , BStBl. II 2005, 602; BFH-Urteil vom 30. Juni 1998 III R 110/93, BFH/NV 1998, 1480). In einem solchen Fall können auch die mit einer notwendigen Behandlung in adäquatem Zusammenhang stehenden Fahrtkosten außergewöhnliche Belastungen sein (vgl. BFH-Urteil vom 3. Dezember 1998 III R 5/98, BStBl. II 1999, 227).
bb)
Zum Nachweis der medizinischen Notwendigkeit bedarf es dabei eines vor Einleitung der Maßnahme erstellten amtsärztlichen Attestes. Nur ausnahmsweise genügen auch Bescheinigungen bestimmter weiterer amtlicher Stellen, wie solche des medizinischen Dienstes einer öffentlichen Krankenversicherung, einer Versicherungsanstalt oder einer behördlichen Beihilfestelle. Diesen qualifizierten Nachweis verlangt der BFH in langjähriger Rechtsprechung, um die Inanspruchnahme ungerechtfertigter steuerlicher Vorteile zu verhindern, mit der in besonderem Maße bei Aufwendungen zu rechnen ist, die ihrer Art nach nicht stets eindeutig unmittelbar der Heilung oder Linderung einer Krankheit dienen, sondern mitunter auch aus anderen Erwägungen getätigt werden, z.B. um die sprachliche, soziale, psychologische oder pädagogische Entwicklung eines Kindes zu fördern und zu unterstützen (BFH-Beschluß vom 25. Februar 2005 III B 13/04 , BFH/NV 2005, 1065 ; BFH-Urteil vom 7. Juni 2000 III R 54/98, BStBl II 2001, 94 , m.w.N.). Denn Kosten, die um der schulischen Förderung des Kindes willen aufgewandt werden und in diesem Zusammenhang allenfalls mittelbare (Folge-) Kosten einer Krankheit sind, werden nicht nach § 33 EStG anerkannt (BFH-Beschluß vom 22. Dezember 2004 III B 169/03 , BFH/NV 2005, 699).
Lediglich in wenigen Fällen kann eine Ausnahme von den strengen Nachweisanforderungen zugelassen werden, nämlich insbesondere dann, wenn sich die medizinische Notwendigkeit der Maßnahme bereits aus anderen amtlichen Unterlagen offensichtlich ergibt (vgl. BFH-Urteile vom 23. Oktober 1987 III R 64/85, BFH/NV 1988, 149 , und vom 29. Oktober 1992 III R 232/90 , BFH/NV 1993, 231, 232).
b.
Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechungsgrundsätze, denen der Senat folgt, stellen die Fahrtkosten im Streitfall keine unmittelbaren Krankheitskosten dar.
Der Schulwechsel zu der Schule für Körperbehinderte in O. war zwar aus schulischen Gründen zur Förderung der sprachlichen, psychologischen und pädagogischen Entwicklung von J. notwendig. Eine für den Abzug als außergewöhnliche Belastungen erforderliche medizinische Indizierung des Schulwechsels konnte das Gericht jedoch nicht feststellen.
Aus dem schulärztlichen Gutachten des Gesundheitsamtes vom 20. Dezember 1999 ist eine medizinische Notwendigkeit des Besuchs der Schule für Körperbehinderte nicht zu entnehmen. Der Schularzt hat keine körperlichen Krankheiten oder Schäden festgestellt. Er übernimmt im Übrigen die Einschätzung des Kinderpsychologen, der eine Intelligenzminderung im Bereich der Debilität, eine deutliche Entwicklungsstörung sowie den Verdacht einer hirnorganischen Funktionsstörung festgestellt hatte und empfiehlt darauf aufbauend eine weitere Förderung des Kindes in einer Schulform mit kleinen Lerngruppen. Er äußert in diesem Zusammenhang zwar keine Bedenken gegen die Aufnahme in eine Schule für Körperbehinderte. Das Gutachten lässt aber nicht erkennen, dass bei J. die Intelligenzminderung bzw. die Entwicklungsstörungen eine Krankheit darstellen und aufgrund dessen der Schulwechsel in die Schule für Körperbehinderte objektiv medizinisch indiziert ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem kinderpsychiatrischen Befundbericht vom 16. September 1999, der kein amtsärztliches Attest darstellt und für sich betrachtet die Nachweisanforderungen nicht erfüllt. Ungeachtet dessen stellt der leitende Arzt auch hier nur fest, dass J. aufgrund der extremen Frühgeborenheit und einer langen medizinischen Behandlung eine psychointellektuelle Entwicklungsstörung aufweist und deshalb eine besondere schulische Förderung bedarf. Es wird auch hier keine Krankheit diagnostiziert, sondern ein Gesundheits- bzw. Entwicklungszustand festgestellt, der eine besondere schulische Förderung als mittelbare Folge dessen notwendig macht.
Unabhängig von der fehlenden Feststellung einer Krankheit diente der Schuldbesuch in Oldenburg auch nicht unmittelbar der Heilung oder Linderung einer Krankheit, sondern vielmehr einer der festgestellten Entwicklungsstörung angemessenen Beschulung. Daran ändert auch die Teilnahme an der angebotenen Krankengymnastik und dem Schwimmen in der Schule nichts. Diese Maßnahmen dienen im Wesentlichen der Unterstützung der schulischen Leistungen durch Verbesserung der motorischen Fähigkeiten.
Bei dieser Sachlage konnte eine Anerkennung der Fahrtkosten als außergewöhnliche Krankheitskosten nicht erfolgen.
2.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung.