Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 14.11.2013, Az.: L 10 VE 46/12

Soziales Entschädigungsrecht; Gewalttat gegen körperliche Unversehrtheit; Bedrohung mit Kapitalverbrechen; Erpressung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
14.11.2013
Aktenzeichen
L 10 VE 46/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 52349
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2013:1114.L10VE46.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - S 12 VE 34/11 3 - 10.07.2012

Fundstellen

  • FStBW 2014, 783-784
  • FStHe 2014, 626-627
  • FStNds 2014, 710-711
  • GV/RP 2014, 245-246
  • NZS 2014, 6
  • br 2014, 109-111

Redaktioneller Leitsatz

1. Ein tätlicher Angriff i.S.v. § 1 Abs. 1 OEG ist grundsätzlich nur bei einer gegen die körperliche Unversehrtheit einer anderen Person gerichteten Kraftentfaltung anzunehmen. Die psychisch wirkende Gewaltandrohung wie etwa für zukünftige Kapitalverbrechen (Tötung des Opfers und dessen Kinder, Drohung mit Brandstiftung und Vergiftung) genügt daher nicht.

2. Dass derartige Handlungen des Straftäters womöglich geeignet sein könnten, psychische Folgen beim Opfer zu hinterlassen, genügt für die Annahme eines tätlichen Angriffs mit der regelmäßigen Rechtsprechung des BSG ebenso wenig.

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 10. Juli 2012 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zustehen.

Die 1968 geborene Klägerin ist als selbständige Apothekerin tätig und hat im Jahr 2010 mit ihrem Ehemann und ihren beiden 2002 bzw. 2005 geborenen Kinder in einem Haus in I. gewohnt. Der in ihrer Nachbarschaft wohnhafte J. (im Folgenden: Täter) hat sich in der Zeit zwischen dem 25. Februar und 18. März 2010 nacheinander mit fünf Erpresserschreiben an die Klägerin gewandt. Eines der Schreiben war an der Terrassentür des Privathauses der Klägerin befestigt, zwei wurden in den Briefkasten ihrer Apotheke eingeworfen, eines hinter den Scheibenwischer ihres Pkw geklemmt und ein weiteres in den Briefkasten eines Nachbarn eingeworfen. Hierin wurden Forderungen in Höhe von zunächst 8.500,00 EUR, später 9.000,00 EUR erhoben. Für den Fall der Nichtzahlung wurden in den Schreiben mit drastischen Worten die Tötung der Kinder der Klägerin sowie die Tötung der Klägerin angekündigt. Darüber hinaus wurde angedroht, ihr Haus in Brand zu stecken, Gift in Lebensmittelgeschäften auszubringen sowie Attentate auf fahrende Autos zu verüben. Die Klägerin wandte sich von Anfang an an die Polizei. Unter deren Mitwirkung hinterlegte sie mehrfach Geldpakete an den von dem Täter bestimmten Orten, die dieser jedoch aus Angst vor Entdeckung jeweils nicht abholte. Die Erpressungen endeten mit einer am 18. März 2010 bei dem Täter durchgeführten polizeilichen Durchsuchung.

Im November 2010 beantragte die Klägerin Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz und gab zur Begründung an, sie leide unter massiven psychischen Schäden. Bei ihr bestünden Angstzustände, Schlafstörungen und eine posttraumatische Belastungsstörung.

Der Beklagte lehnte die Gewährung von Versorgung mit Bescheid vom 23. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2011 ab. Versorgung nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes werde für Folgen eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gewährt. Ein tätlicher Angriff setze eine unmittelbar auf die körperliche Integrität in feindlicher Absicht abzielende Aktion voraus. Eine solche habe nicht vorgelegen. Insbesondere stelle das Drohen mit künftigen Gewalttaten keinen Angriff i.S. der maßgeblichen Vorschriften dar.

Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Braunschweig erhoben und den Anspruch auf Leistungen weiter verfolgt. Zur Begründung hat sie geltend gemacht, sie sei Opfer einer Gewalttat geworden. Das Sozialgericht hat die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Braunschweig beigezogen und die Klage dann mit Urteil vom 10. Juli 2012 als unbegründet abgewiesen. Die Annahme einer Gewalttat setze grundsätzlich eine Kraftentfaltung gegenüber einer Person voraus. Nicht entschädigungspflichtig seien solche Taten, die allein durch eine intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung geschähen.

Gegen das ihr am 22. August 2012 zugestellte Urteil wendet sich die am 31. August 2012 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung der Klägerin, mit der sie den Anspruch weiter verfolgt. Nach ihrer Auffassung hat das Sozialgericht verkannt, dass die Handlungen des Täters massive seelische Gewalthandlungen gewesen seien, welche sie erheblich psychisch geschädigt hätten. Über einen längeren Zeitraum hin seien mehrere massive Bedrohungen und Erpressungsversuche durchgeführt worden. Es habe Tötungsdrohungen gegenüber den Kindern und der Klägerin gegeben. Der Täter habe sich auch mehrfach auf das Grundstück der Familie der Klägerin begeben und damit erheblich in ihre Privatsphäre eingegriffen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts genüge für die Annahme einer Gewalttat bereits eine Drohung, wenn damit eine objektiv hohe Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Integrität des Opfers verbunden sei. Eine solche habe durch die ständige Präsenz des Täters auf dem Grundstück und am Arbeitsplatz der Klägerin bestanden.

Die Klägerin beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 10. Juli 2012 und den Bescheid des Beklagten vom 23. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2011 aufzuheben,

2. den Beklagten zu verurteilen, ihr Versorgung in rentenberechtigender Höhe nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes wegen der Ereignisse im Februar/März 2010 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 10. Juli 2012 zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil und seine mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend. Insbesondere auch im Licht der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts stelle die gegenüber der Klägerin verübte Erpressung keinen tätlichen Angriff i.S. des Opferentschädigungsgesetzes dar.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte des Beklagten, der Akte der Staatsanwaltschaft Braunschweig, Az.: NZS 121 JS 32099/10 VRS sowie die Akten der ruhenden Verfahren der Familienangehörigen der Klägerin, Az.: L 10 VE 47/12, L 10 VE 48/12 und L 10 VE 49/12, jeweils nebst Verwaltungsakten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet.

Das Sozialgericht hat zutreffend festgestellt, dass die angefochtenen Bescheide des Beklagten nicht rechtswidrig sind und die Klägerin demzufolge nicht in ihren Rechten verletzen. Auch nach Auffassung des Senats hat die Klägerin keinen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz wegen der ihr gegenüber im Februar und März 2010 verübten Erpressungsversuche. Hierbei ist das Sozialgericht zutreffend davon ausgegangen, dass diese Taten nicht einen "tätlichen Angriff" darstellen. Ein solcher ist aber unabdingbare Voraussetzung aller nach dem Opferentschädigungsgesetz etwa in Betracht kommenden Ansprüche. Das Sozialgericht hat hierbei richtig erkannt, dass auch nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. nur Urteil vom 7. April 2011, Az.: B 9 VG 2/10 R, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18) ein tätlicher Angriff i.S.v. § 1 Abs. 1 OEG grundsätzlich nur bei einer gegen die körperliche Unversehrtheit einer anderen Person gerichteten Kraftentfaltung anzunehmen ist. An einer solchen hat es im vorliegenden Fall zweifelsfrei gefehlt. Die Klägerin hat nicht einmal behauptet, dass sie dem Täter im Zusammenhang mit den Erpressungsversuchen jemals unmittelbar begegnet wäre.

Jedenfalls im vorliegenden Fall ist ein tätlicher Angriff auch nicht im Hinblick auf die Bedrohung der Klägerin mit Gewalt anzunehmen. Hierbei lässt der Senat ausdrücklich dahingestellt, ob eine Bedrohung in Fällen wie dem vorliegenden überhaupt zu der Annahme eines tätlichen Angriffs führen kann. Die Vorschrift des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG knüpft hinsichtlich der unmittelbaren Ursache der gesundheitlichen Schädigungen an zwei alternative Umstände an: einmal an den tätlichen Angriff als solchen, andererseits an die rechtmäßige Abwehr eines solchen Angriffs. Als rechtmäßige Abwehr kommt einerseits ein Ausweichen vor dem Angriff, möglicherweise auch in der Form einer Flucht, in Betracht oder eine Gegenwehr. Sind die rechtmäßige Gegenwehr oder das Ausweichen erfolgreich, so kommt es gar nicht mehr zu dem beabsichtigten Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Ein tätlicher Angriff liegt damit an sich nicht vor. Um eine Entschädigung für etwa im Zusammenhang mit dem Ausweichen oder der Gegenwehr erlittenen gesundheitlichen Schädigungen zu gewährleisten, besteht deshalb ein durchaus nachvollziehbares Bedürfnis, bereits eine akute Drohung mit einer Gewalttat als Anknüpfungspunkt eines Versorgungsanspruchs ausreichen zu lassen.

Das Bundessozialgericht hat die Frage des Ausreichens einer Bedrohung als tätlichen Angriffs i.S. des Opferentschädigungsgesetzes bisher nur im Zusammenhang mit durch Flucht oder Abwehr erlittenen körperlichen Gesundheitsschäden diskutiert (vgl. Urteil vom 28. März 1984, Az.: 9 a RVG 1/83, SozR 3800 § 1 Nr. 4; Urteil vom 10. September 1997, Az.: 9 RVG 1/96, SozR 3-3800 § 1 Nr. 11; Urteil vom 24. Juli 2002, Az.: B 9 VG 4/01 R, SozR 3-3800 § 1 Nr. 22). Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 2. Oktober 2008 (Az.: B 9 VG 2/07 R) setzt sich nur scheinbar mit der Fragestellung auseinander, ob eine durch Drohung auf psychischem Wege verursachte Gesundheitsstörung im Wege des Opferentschädigungsgesetzes entschädigungsfähig sein kann. Wie sich aber aus der Begründung der Entscheidung ergibt, hatte das Landessozialgericht in der vorangegangenen Instanz ausdrücklich ausgeführt, dass eine den Maßstäben des Urteils des Bundessozialgerichts vom 24. Juli 2002 entsprechende Drohung nicht vorgelegen hatte. Eine etwa durch eine Drohung verursachte psychische Gesundheitsstörung war deshalb weder von dem Landessozialgericht noch von dem Bundessozialgericht zu diskutieren.

Nach Auffassung des Senats bestehen erhebliche Bedenken, ob die für die Annahme eines entschädigungsrechtlichen Haftungsgrundes bereits vor dem eigentlichen rechtsfeindlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit im Fall der zweiten Alternative des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sprechenden Gesichtspunkte auch im Fall der ersten Alternative des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG Anwendung finden sollten. Auch in der Entscheidung vom 7. April 2011 (aaO.) hat das Bundessozialgericht sich dazu nicht eindeutig erklärt.

Diesen Bedenken muss der Senat jedoch nicht weiter nachgehen. Denn wie in dem mit dem Urteil vom 2. Oktober 2008 (aaO.) entschiedenen Sachverhalt haben auch im vorliegenden Fall die sich aus dem Urteil vom 24. Juli 2002 (aaO.) ergebenden strengen Voraussetzungen für die Annahme einer haftungsauslösenden Bedrohung nicht vorgelegen. Hierbei lässt der Senat ausdrücklich dahingestellt, ob überhaupt ausreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Drohungen des Täters ernstgemeint gewesen sind und er überhaupt über die Mittel zu deren Umsetzung verfügt hat. Dagegen spricht immerhin der Umstand, dass er den fehlgeschlagenen Übergaben des Geldes in vier Fällen keinerlei Gewalttat, sondern nur erneute Erpressungsschreiben folgen ließ. Unabhängig davon ist das Risiko der Klägerin auf Beeinträchtigung ihrer körperlichen Unversehrtheit durch den Täter zu keinem Zeitpunkt so akut gewesen, wie dies bei einer Bedrohung mit einer scharf geladenen, entsicherten Schusswaffe unter Anwesenden gewesen wäre. Den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts folgend hat der Senat bereits mit Beschluss vom 8. Juni 2012 (Az.: L 10 VE 20/12 B) das bloße Vorzeigen eines Messers aus einer Entfernung von 1,5 m nicht als tätlichen Angriff qualifiziert. Das Risiko der Klägerin, einen körperlichen Schaden zu erleiden, hat nach Auffassung des Senats auch bei - insoweit weder behaupteter noch bewiesener - gleichzeitiger Anwesenheit der Klägerin und des Täters auf dem Hausgrundstück der Klägerin nicht einmal dasjenige Maß erreicht, das bei einem derart vorgezeigten Messer bestanden haben würde. Erst recht war das Risiko nicht annähernd so akut, wie dies in dem gedachten Fall gewesen wäre, dass der Täter eine geladene und entsicherte scharfe Schusswaffe unmittelbar auf die Klägerin gerichtet hätte.

Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Handlungen des Täters womöglich geeignet sein könnten, psychische Folgen bei der Klägerin zu hinterlassen. Das alleine genügt für die Annahme eines tätlichen Angriffs nicht (vgl. BSG, Urteil vom 14. Februar 2001, Az.: B 9 VG 4/00 R, SozR 3 3800 § 1 Nr. 18). In der genannten Entscheidung hat das Bundessozialgericht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nicht jedes gesellschaftlich missbilligte Verhalten Grundlage eines Anspruchs nach § 1 OEG sein muss.

Ein für die Klägerin günstigeres Ergebnis ergibt sich schließlich auch nicht unter Berücksichtigung der Grundsätze über den sogenannten Schockschaden (vgl. dazu grundlegend BSG, Urteil vom 7. November 1979, Az.: 9 RV 1/78, SozR 3800 § 1 Nr. 1). Das Bundessozialgericht hat in der Entscheidung vom 7. April 2011 (aaO.) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch bei den Fällen des sogenannten Schockschadens von dem Erfordernis eines tätlichen Angriffs gegen eine Person keine Ausnahme gemacht wird. Ausreichend ist insoweit lediglich, dass der tätliche Angriff gegenüber einer anderen als der letztlich geschädigten Person ausgeführt worden ist. Sind aber die Handlungen des Täters auch gegenüber den Familienangehörigen der Klägerin nicht von grundsätzlich anderer Qualität gewesen, so fehlt es auch ihnen gegenüber an einem tätlichen Angriff, so dass der Senat der auch von der Klägerin bisher nicht thematisierten Frage nicht nachgehen muss, ob sie etwa durch die gegen ihre Angehörigen gerichteten Drohungen einen Gesundheitsschaden erlitten hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.