Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 28.02.2001, Az.: 2 A 159/99

Ausweisung eines italienischen Staatsangehörigen; Abschiebung nach Italien aufgrund einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit schwerer räuberischer Erpressung; Besonderer Ausweisungsschutz zugunsten eines mit einer deutschen Staatsangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Ausländers

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
28.02.2001
Aktenzeichen
2 A 159/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 25007
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2001:0228.2A159.99.0A

Fundstellen

  • InfAuslR 2001, 335-338
  • NVwZ 2002, 69-70
  • NVwZ (Beilage) 2002, I-69-I-70 (Volltext mit red. LS)
  • NVwZ (Beilage) 2002, 69-70 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Ausweisung

Prozessführer

Herr ... zur Zeit JVA ...

Prozessgegner

die Stadt ... - 30.14.10-66.99 -

In dem Rechtsstreit
hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 2. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 28. Februar 2001
durch
den Richter am Verwaltungsgericht ... als Einzelrichter
fürRecht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Der Ausweisungsbescheid der Beklagten vom 8. März 1999 und der Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 23. August 1999 werden aufgehoben.

  2. 2.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Der Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er wendet sich gegen seine Ausweisung.

2

Der - nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung - am 9. März 1955 in ... (Sizilien) geborene Kläger reiste im Jahr 1969 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 29. September 1988 heiratete er die deutsche Staatsangehörige ... Mit ihr hat er zwei Söhne im Alter von 16 und 11 Jahren.

3

Nachdem der Kläger von dem Landgericht Kassel mit Urteil vom 2. Juli 1998 wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt worden war, kündigte die Beklagte ihm ihre Absicht an, ihn aus der Bundesrepublik Deutschland auszuweisen. Mit Schreiben vom 11. Dezember 1998 nahmen die Strafverteidiger des Klägers hierzu Stellung und wiesen darauf hin, dass der Kläger im Zuge des Strafverfahrens Ermittlungshilfe geleistet und Angaben über die Täter eines Auftragsmordes gemacht habe. Die Verbindungen der Tätergruppe, aus der einzelne Mitglieder inhaftiert worden seien, reichten bis nach Italien. Eine Abschiebung in seine Heimat werde für den Kläger daher unter Umständen das "Todesurteil" bedeuten. Außerdem lebe er seit Jahrzehnten in Deutschland, sei hier verheiratet und habe zwei Kinder. Nach seiner Haftentlassung werde der Kläger wieder als Kellner in der Gastronomie arbeiten können. Auf Bitten seines Strafverteidigers wandte sich auch die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kassel mit Schreiben vom 18. Dezember 1998 an die Beklagte und wies darauf hin, dass eine Abschiebung des Klägers nach Italien dessen persönliche Gefährdung bedeuten könne, da er hier in einem "Auftragsmord" Hinweise gegeben habe.

4

Mit Bescheid vom 8. März 1999 wies die Beklagte den Kläger dann wie angekündigt aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung nach Italien an. Zur Begründung führte sie aus, aufgrund seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten sei er gemäß § 47 Abs. 1 AuslG aus der Bundesrepublik Deutschland auszuweisen. Dieser Tatbestand der "Isf"-Ausweisung werde zwar gemäß § 48 Abs. 1 Nr. 4 AuslG zu einer "Regel"-Ausweisung herabgestuft, weil er mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet sei und in familiärer Lebensgemeinschaft lebe. Dennoch liege kein atypischer Fall vor, so dass ihr eine Ermessensentscheidung nicht eröffnet sei. Die Abschiebung nach Italien sei auch in Ansehung seines Vertrags, er sei in Italien aufgrund der Mithilfe bei der Aufklärung des Auftragsmordes ... gefährdet, zulässig. Denn diese Gefährdung bestehe sowohl bei einer Abschiebung nach Italien wie auch bei einem Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland. Der Tätergruppe sei es ohne große Probleme möglich, den Aufenthaltsort des Klägers nach seiner Haftentlassung bzw. den Aufenthalt seiner Familie in der Bundesrepublik Deutschland ausfindig zu machen. Im übrigen bestehe für den Kläger die Möglichkeit, nach seiner Abschiebung nach Italien dieses Land wieder zu verlassen und seinen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft zu suchen, in dem er als italienischer Staatsangehöriger Freizügigkeit genieße.

5

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Bezirksregierung Lüneburg mit Bescheid vom 23. August 1999 zurück. Zur Begründung wiederholte sie im wesentlichen die Rechtsausführungen des Ausgangsbescheides zu den Regelungen des Ausländergesetzes zur Möglichkeit einer Ausweisung von Ausländern und dem Vorliegen besonderen Abschiebungsschutzes nach § 48 AuslG und ließ sich zum Inhalt des Urteils des Landgerichts Kassel - fälschlich als Urteil des Amtsgerichts Kassel bezeichnet - aus. Der Umstand, dass der Kläger nach seiner Ausweisung nicht mehr in Deutschland mit seiner Frau und seinen Kindern zusammenleben könne, habe bereits zum Eingreifen des besonderen Ausweisungsschutzes geführt und könne daher einen Ausnahmefall im Sinne dieser Vorschrift nicht begründen. Zur angedrohten Abschiebung nach Italien sei den Ausführungen der Beklagten nichts hinzuzufügen. Die vom Kläger geltend gemachte Gefahr für Leib und Leben bestehe sowohl in Italien als auch in der Bundesrepublik Deutschland.

6

Zur Begründung seiner am 27. September 1999 erhobenen Klage führt der Kläger aus, eine Ausweisung sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht bereits zulässig, wenn lediglich eine entfernte Möglichkeit weiterer Störungen bestehe, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Ausländer seine bisherige Straftat wiederhole. Diesen Maßstab hätten Beklagte und Widerspruchsbehörde offensichtlich verkannt und nicht berücksichtigt, dass nach den Ausführungen im Urteil des Landgerichts Kassel vom 2. Juli 1998 das Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und die Persönlichkeit des Angeklagten vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle des erpresserischen Menschenraubs derart abweiche, dass das Gericht die Anwendung des besonderen Strafrahmens (des minderschweren Falles) für angemessen erachtet habe. Die Strafkammer habe festgestellt, dass bei einer Gesamtwürdigung die mildernden Faktoren deutlich überwögen: Das von Reue geprägte Teilgeständnis müsse sich ebenso zugunsten des Angeklagten auswirken wie auch der Umstand, dass die Entschließung zur Tat durch Dritte hervorgerufen worden sei und sich das Geschehen mit zunehmender Zeit verselbständigt und eine Eigendynamik bekommen habe. Es sei zu berücksichtigen, dass die Tat (im Zeitpunkt des Urteils der Strafkammer) knapp vier Jahre zurückliege und die Angeklagten bis zu ihrer Festnahme im Juni 1997 keine weiteren Straftaten mehr begangen hätten. Schließlich komme strafmildernd hinzu, dass die Angeklagten sich bemüht gezeigt hätten, zur Aufklärung des Tötungsfalles ... beizutragen. Die Bezirksregierung Lüneburg - so der weitere Vortrag des Klägers - werde in ihrem Widerspruchsbescheid vom 23. August 1999 diesen Wertungen der Großen Strafkammer des Landgerichts Kassel nicht gerecht, wenn sie eine "rapide Steigerung" der kriminellen Energie von Geld- und Bewährungsstrafen zu einer hohen Freiheitsstrafe konstatiere. Zwar sei er - der Kläger - im Jahr 1983 bereits zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen Beihilfe zur Brandstiftung verurteilt worden, deren Vollstreckung sei jedoch zur Bewährung ausgesetzt und mit Wirkung vom 31. Januar 1990 erlassen worden. Bei den weiteren Delikten (fahrlässige Trunkenheit im Verkehr, Verstoß gegen das Ausländergesetz) handele es sich um Bagatelldelikte, deretwegen er zwei Mal zu einer Geldstrafe von 20 bzw. 30 Tagessätzen verurteilt worden sei. Nicht ausreichend berücksichtigt hätten Beklagte und Widerspruchsbehörde auch, dass er seit 29 Jahren in Deutschland lebe, seit über 10 Jahren mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet sei und mit ihr zwei Kinder habe. Seine Kinder sprächen kaum, seine Ehefrau kein italienisch. Zu seinen in Italien lebenden Geschwistern habe er keinen Kontakt, dagegen ein sehr gutes Verhältnis zu seinen beiden in Deutschland lebenden Geschwistern. Hinzu komme, dass er bei einer Rückkehr nach Italien aufgrund der den deutschen Strafverfolgungsbehörden geleisteten Ermittlungshilfe akut gefährdet sei, wie auch die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kassel mit Schreiben vom 18. Dezember 1998 bestätigt habe. In Italien verfüge erüber keine sozialen Kontakte, zudem stammten die "Köpfe der Tätergruppe" aus Italien. In Deutschland verfüge er hingegenüber ein soziales Netz. Außerdem bestehe in Deutschland die Möglichkeit zu seinem Schutz aufgrund der gegebenen Zeugenschutzmaßnahmen.

7

Der Kläger beantragt,

die Ausweisungsverfügung der Beklagten vom 8. März 1999 und den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 23. August 1999 aufzuheben.

8

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Zur Begründung hat sie ausgeführt, aufgrund der Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten seien die Voraussetzungen für seine Ausweisung erfüllt. Zwar führe das Bestehen einer Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen zu einer Herabstufung der "Ist-Ausweisung zu einer "Regel"-Ausweisung, jedoch sei kein atypischer Ausnahmefall gegeben. Für die kriminelle Energie des Klägers sprächen dessen frühere Vorstrafen und auch die Umstände der Begehung der Tat, deretwegen er verurteilt worden sei. Die mit der Ausweisung verbundenen wirtschaftlichen und persönlichen Probleme für seine Ehefrau und seine Familie seien Folgen, die der Kläger bei der Begehung seiner Straftat in Kauf genommen habe. Dabei sei zu berücksichtigen, dass auch die bestehende Ehe ihn nicht davon abgehalten habe, eine derart schwerwiegende Straftat zu begehen. Soweit der Kläger geltend mache, dass seine Ehefrau und seine Kinder kein bzw. kaum italienisch sprächen, sei dem entgegenzuhalten, dass zu Italien ein Gebiet mit deutschsprachiger Bevölkerung (gemeint: Südtirol) gehöre.

10

Wegen der Einzelheiten und des weiteren Vorbringens wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Bezirksregierung Lüneburg verwiesen.

Entscheidungsgründe

11

Die Klage hat Erfolg.

12

Der angefochtene Ausweisungsbescheid der Beklagten vom 8. März 1999 und der Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 23. August 1999 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

13

1.

Nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG wird ein Ausländer ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Abweichend von diesem Tatbestand der "Ist"-Ausweisung genießt nach § 48 Abs. 1 Nr. 4 AuslG ein Ausländer besonderen Ausweisungsschutz, der mit einem deutschen Staatsangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Er kann nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden, die in der Regel in den Fällen des § 47 Abs. 1 AuslG vorliegen. Liegt ein solcher Regelfall vor, so hat die Behörde kein Ermessen, von der Ausweisungsermächtigung Gebrauch zu machen oder nicht; vielmehr hat sie die Ausweisung zu verfügen, es sei denn, dass ein Ausnahmefall vorliegt (BVerwG, Urt. v. 19.11.1996 - 1 C 25/94 -, InfAuslR 1997, 152). Die Beurteilung der Ausländerbehörde, ob ein Regel- oder ein Ausnahmefall vorliegt, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung, freilich bezogen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides (BVerwG, a.a.O.).

14

a)

Bei dem Tatbestandsmerkmal "in der Regel" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der im Ausländergesetz selbst nicht näher umschrieben ist. Wie das Bundesverwaltungsgericht zur Auslegung dieser Gesetzesformulierung in ständiger Rechtsprechung ausführt, bezieht sich die Wendung "in der Regel" auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleichliegender Fälle unterscheiden (BVerwG, Beschl. v. 05.02.1997 - 1 B 16/97 -, Buchholz 402.240. § 47 AuslG 1990 Nr. 13; Beschl. v. 27.06.1997 - 1 B 123/97 -, Buchholz 402.240, § 47 AuslG 1990 Nr. 15). Den Gegensatz bilden Ausnahmefälle, die durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet sind, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt. Dabei sind alle Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung und die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen zu berücksichtigen, wie sie in§ 45 Abs. 2 AuslG näher umschrieben werden (vgl. BVerwG. a.a.O., sowie Beschlüsse vom 17.10.1995 - 1 B 238.94 -, Buchholz 402.240, § 47 AuslG 1990 Nr. 8 und 15.01.1997 - 1 B 256.96 -, juris). Allerdings bleibt der Rechtsbegriff des "Regelfalles" i.S.d. Ausweisungsvorschriften auch nach diesen Näherungsversuchen weitgehend konturenlos. Nicht ohne Grund hat das Bundesverwaltungsgericht den Ausländerbehörden in seiner Entscheidung vom 19. November 1996 nahegelegt, sich dieser Problematik zu entziehen und sich jedenfalls hilfsweise auf eine Ermessensentscheidung zu stützen (vgl. BVerwG, Urt. V. 19.11.1996 - 1 C 25/94 -, Buchholz 402.240§ 47 AuslG 1990 Nr. 11).

15

b)

Immerhin wird deutlich, dass die - freilich nicht immer widerspruchsfreie (vgl. einerseits BVerwG, Beschl. 15.01.1995 - 1 B 256/96 -, Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 12 und Beschl. 27.61997 - 1 B 123/97 - Bucholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 15 andererseits) - Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine tragfähige Stütze für die von der Beklagten und der Widerspruchsbehörde unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 28. April 1999 (Az.: 9 TG 660/99 -, InfAuslR 1999, 405) vertretene Annahme bildet, das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit deutschen Staatsangehörigen oder aber bestimmte Umstände der Tatbegehung seien aus der Betrachtung, ob ein Regel- oder ein Ausnahmefall vorliege, von vornherein auszuklammern, weil sie bereits Grundlage des gesetzlichen Tatbestandes des § 48 AuslG oder aber im Strafurteil (strafmindernd) berücksichtigt worden und damit gleichsam "verbraucht" seien.

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c)

Freilich ist einzuräumen, dass nicht jedes individuelle Merkmal in den Umständen der Begehung der Straftat und den Lebensverhältnissen des Ausländers eine Besonderheit begründet, die die Annahme eines von der Regel abweichende Ausnahmefalles rechtfertigt. Das gilt etwa für typischerweise in den Fällen der§§ 47, 48 AuslG vorliegende Umstände, wie Fremdheit mit den Lebensverhältnissen der früheren Heimat aufgrund des langjährigen Aufenthaltes in Deutschland, mangelnde soziale Kontakte im Land der Staatsangehörigkeit oder geringe Kenntnisse der Heimatsprache. Jede andere Beurteilung würde - entgegen der Absicht des Gesetzgebers - den Ausnahmefall zur Regel und den Regelfall zur Ausnahme machen. Auch ist gegenüber einer Gesetzesauslegung Zurückhaltung geboten, die die Behörden in den Möglichkeiten der Ausweisung straffällig gewordener Ausländer zu sehr einschränkt und sie damit dieser Form der Kriminalitätsprävention benimmt. Denn die Ausweisung straffällig gewordener Ausländer dient dem präventiven Schutz potentieller weiterer Opfer, deren Anspruch auf Wahrung der Integrität ihrer Rechtsgüter sich letztlich ebenfalls aus dem Grundgesetz herleitet. Wie das Bundesverwaltungsgericht an anderer Stelle zudem zutreffend ausgeführt hat (Beschl. v. 30.12.1993 - 1 B 185/93 -, NVwZ 1994, 584) muss ein Ausländer, der wegen der wiederholten Begehung von Straftaten aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wird, sich entgegenhalten lassen, dass er für eigenes Verhalten einzustehen hat. Die Vorschriften des Ausländergesetzes über die Ausweisung bei Straffälligkeit bedeuten einen Appell an alle Ausländer, keine Straftaten in Deutschland zu begehen. Ein Ausländer, der sich trotzdem von der Begehung schwerer Straftaten nicht abhalten lässt, setzt selbst die Voraussetzungen für seine Ausweisung. Er begründet durch sein Verhalten die Befürchtung künftiger neuer Verfehlungen (BVerwG, a.a.O.).

17

2.

Bei Zugrundelegung der dargestellten Maßstäbe sind Beklagte und Widerspruchsbehörde im Fall des Klägers zu Unrecht davon ausgegangen, das ein Regelfall und kein Ausnahmefall gegeben sei.

18

Dabei kann offenbleiben, ob bereits das Vorhandensein von Kindern mit eigenen schulischen und sozialen Bindungen vor dem Hintergrund von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK die Annahme eines Ausnahmefalles gebietet, weil allein dies die Möglichkeit der Abwägungüberhaupt eröffnet. Eine atypische Fallgestaltung ist im vorliegenden Fall jedenfalls wegen der dem Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland Italien dort drohenden persönlichen Gefährdung unter Einbeziehung seiner familiären Situation anzunehmen:

19

a)

Der Kläger hat in der Untersuchungshaft den deutschen Strafverfolgungsbehörden Ermittlungshilfe bei der Aufklärung des Auftragsmordes ... geleistet. Der Autohändler ... wurde am 30. März 1995 in seiner Lackiererei in Kassel mit drei Kopfschüssen von einem unbekannten Täter schwer verletzt und starb am folgenden Tag an seinen Schussverletzungen. Wie der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, sind im Rahmen der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Kassel die Hintermänner der Tat aufgrund auch der Hinweise des Klägers inhaftiert und zu hohen Strafen - u.a. fünf Mal lebenslänglich - verurteilt worden. Die unmittelbar tatausführenden Täter seien demgegenüber nach wie vor flüchtig. Es handele sich um aus Italien stammende Auftragsmörder. Der Kläger hat auf Befragen in der mündlichen Verhandlung angegeben, die Person der Auftragsmörder sei ihm bekannt, er habe diese in Deutschland gesehen; umgekehrt sei diesen auch seine Person bekannt. Seine daraus resultierende Befürchtung, dass er aufgrund dieser Umstände bei einer Rückkehr nach Italien in einer besonderen Weise persönlich gefährdet wäre, wird ersichtlich von der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kassel geteilt, wie sich aus deren Schreiben vom 18. Dezember 1998 an die Beklagte ergibt.

20

b)

Das Ausmaß dieser persönlichen Gefährdung kann nicht bagatellisiert oder mit dem Hinweis relativiert werden, der Kläger und seine Familie seien in der Bundesrepublik Deutschland in gleicher Weise gefährdet. Wie Beklagte und Widerspruchsbehörde ohne nähere Kenntnis der strafrechtlichen Sachverhalte und ohne weitere Sachaufklärung, insbesondere auch ohne Erkundigungen bei der ermittelnden Staatsanwaltschaft Kassel oder den zuständigen Dienststellen der Kriminalpolizei eingezogen zu haben, zu dieser Einschätzung gelangen wollen, ist nicht nachvollziehbar. Zwar hat die Ehefrau des Klägers im Zuge der Aussage ihres Mannes im Verfahrens ... Morddrohungen ihr gegenüber berichtet und zur Anzeige gebracht, was Beleg für eine auch im Bundesgebiet bestehende Gefährdung sein mag. Bei unvoreingenommener Betrachtung kann aber kaum ein Zweifel bestehen, dass die bundesdeutschen Behörden allein schon aufgrund ihrer Kenntnis der Sachlage und der daraus resultierenden Gefährdung des Klägers sehr viel schneller bereit wären, ihm in einem konkreten Fall Schutz zu gewähren, als die italienischen Behörden, denen entsprechende Kenntnisse über die Ermittlungshilfe des Klägers nicht vorliegen oder gar die Behörden anderer EU-Staaten, in denen Wohnsitz zu suchen Beklagte und Widerspruchsbehörde den Kläger für den Fall verweisen, dass er nach der Ausweisung aufgrund seiner persönlichen Gefährdung nicht in Italien verbleiben wolle.

21

c)

Nicht genügend berücksichtigt haben Beklagte und Bezirksregierung Lüneburg in diesem Zusammenhang vor allem auch die Situation der Familie des Klägers, d.h. seiner Ehefrau und der beiden 15 und 10 Jahre alten Söhne. Ob eine Übersiedlung der Familie nach Italien im Hinblick auf die persönliche Gefährdung des Klägers in Betracht kommt, erscheint nach dem oben Gesagten zweifelhaft. Jedenfalls aber würden die beiden Kinder ihre Bindungen in Deutschland verlieren und in ein Land verpflanzt, dessen Sprache sie nicht sprechen. Allein schon die schulische Umstellung lässt für sie gravierende Probleme erwarten. Verschärft würden diese Probleme, wenn man - wie Beklagte und Bezirksregierung Lüneburg es dem Kläger nahe legen - unterstellt, dass die Familie nicht nach Italien, sondern in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union übersiedeln würde. Es erscheint zunächst zweifelhaft, ob der Kläger hierfür überhaupt die Freizügigkeit für EU-Angehörige in Anspruch nehmen könnte. Denn entgegen der offenbar bei der Beklagten und der Widerspruchsbehörde herrschenden - unzutreffenden - Auffassung ist die Freizügigkeit in der Europäischen Union keineswegs voraussetzungslos eröffnet, sondern lediglich für bestimmte Personengruppen bzw. Aufenthaltszwecke, wie z.B. den der Arbeitsaufnahme. Gelingt eine solche Arbeitsaufnahme dauerhaft nicht - und dies muss man im Hinblick auf das Alter des Klägers und seine mangelnden Sprachkenntnisse als reale Möglichkeit einschätzen -, verliert die Familie auch ihren Aufenthaltsstatus in dem betreffenden Staat. Damit besteht letztlich das Risiko, dass der Kläger und seine Angehörigen zu einem "Vagabundendasein" gezwungen werden, wenn sie nicht in der Lage sind, in einem anderen EU-Staat die Voraussetzungen für einen dauerhaften Aufenthalt zu schaffen und ihnen die Möglichkeit einer Ansiedlung in den beiden Ländern, in denen dies aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit sonst ohne weitere Voraussetzungen möglich wäre - Italien und Deutschland -, aufgrund der Ausweisung (Deutschland) bzw. wegen der persönlichen Gefährdung des Klägers (Italien) versagt bleibt.

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d)

Beklagte und Widerspruchsbehörde müssen sich entgegenhalten lassen, dass sie die besonderen Umstände des Falles, die im Vorhandensein von Kindern und in der persönlichen Gefährdung des Klägers aufgrund seiner Ermittlungshilfe für die deutschen Strafverfolgungsbehörden gegeben sind, nicht hinreichend berücksichtigt und das sich aus dem Gesamtbild der Umstände ergebende Vorliegen eines atypischen Falles verkannt haben. Aufgrund dieser unzureichenden Ermittlung und Durchdringung des Sachverhalts haben sie sich auch der Möglichkeit begeben, die Entscheidung zur Ausweisung des Klägers - jedenfalls ergänzend - auf eine Ermessensentscheidung zu stützen, was zulässig gewesen wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.11.1996, a.a.O.).

23

e)

Dass die Ausführungen der Strafkammer des Landgerichts Kassel zum Vorliegen eines minderschweren Falles in den angegriffenen Bescheiden nicht ausreichend zur Kenntnis genommen werden, stellt einen weiteren Mangel der angefochtenen Bescheide dar, der vom Kläger berechtigter maßen gerügt wird. Im Falle einer Ausweisungsentscheidung besteht zwar keine rechtliche Bindung der Ausländerbehörden und im Streitfall der Verwaltungsgerichte an die Ausführungen der strafgerichtliche Entscheidung zur Strafbemessung (BVerwG, Urt. v. 28.01.1997 - 1 C 17/94 -, Buchholz 402.240,§ 48 AuslG 1990 Nr. 10); jedoch hat deren Einschätzung für die Ausländerbehörde tatsächliches Gewicht (BVerwG, Beschl. v. 02.05.1996 - 1 B 194/95 -, InfAuslR 1996, 303). Die Ausländerbehörde muss sich daher der Beurteilung der Strafgerichte im Rahmen ihrer Prognose über die von dem Täter ausgehende weitere Gefährdung zwar nicht anschließen, jedoch zumindest diese zur Kenntnis nehmen und sich mit ihr auseinandersetzen.

24

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 8.000,00 DM festgesetzt.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 100,00 DM übersteigt. Sie ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache oder anderweitiger Erledigung des Verfahrens schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem

Verwaltungsgericht Lüneburg,

Adolph-Kolping-Straße 16, 21337 Lüneburg, oder

Postfach 2941, 21319 Lüneburg,

oder bei dem

Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht,

Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, oder

Postfach 2371, 21313 Lüneburg,

eingelegt wird. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann die Beschwerde noch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.

Dr. Schulz