Sozialgericht Aurich
Urt. v. 18.09.2002, Az.: S 5 AL 18/01
Anspruch auf Arbeitslosenhilfe und Voraussetzungen für den Eintritt einer Säumniszeit; Darlegungslast und Beweislast für das Bestehen einer rechtmäßigen Meldeaufforderung des Arbeitsamtes bzw. der Arbeitsagentur; Eignung eines standardmäßig verwendeten allgemeinen Blankoformulars zum Nachweis einer rechtmäßigen Meldeaufforderung im Einzelfall; Verpflichtung des Arbeitsamtes bzw. der Arbeitsagentur zur Dokumentation des tatsächlichen Verwaltungsvorgangs im Hinblick auf die Überprüfbarkeit des Verwaltungshandelns
Bibliographie
- Gericht
- SG Aurich
- Datum
- 18.09.2002
- Aktenzeichen
- S 5 AL 18/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 27720
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGAURIC:2002:0918.S5AL18.01.0A
Rechtsgrundlagen
- § 145 Abs. 1 SGB III
- § 309 Abs. 1 S. 1 SGB III
Fundstelle
- NZS 2003, 335-336 (Volltext mit red./amtl. LS)
In dem Rechtsstreit
hat das Sozialgericht Aurich - 5. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung
vom 18. September 2002
durch
den Direktor des Sozialgerichts Frank, Vorsitzender, und
die ehrenamtlichen Richter Frau C. und Frau D.
für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
Der Bescheid der Beklagten vom 10.11.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.01.2001 wird aufgehoben.
- 2.
Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
- 3.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Arbeitslosenhilfe sowie den Eintritt einer Säumniszeit für den Zeitraum 03. bis 16.11.2000.
Der Kläger stand bei der Beklagten im Leistungsbezug Arbeitslosenhilfe. Mit Schreiben vom 26.10.2000, dessen genauer Inhalt dem Gericht unbekannt ist, forderte die Beklagte den Kläger auf, am 02.11.2000 bei dem Arbeitsvermittler E. vorzusprechen. Da der Kläger dem nicht nachkam, stellte die Beklagte mit Bescheid vom 10.11.2000 den Eintritt einer Säumniszeit von zwei Wochen fest (Zeitraum 03.11. bis 16.11.2000). Der Kläger legte dagegen Widerspruch ein und trug vor, eine Säumnis läge nicht vor, da er am 02.11.2000 beim Arbeitsamt F. gewesen sei und im Sekretariat von Herrn G. vorgesprochen habe.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.1.2000 als unbegründet zurück. Zur Begründung wird ausgeführt, der Kläger habe sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen nicht dort gemeldet, wo er sich melden sollte und damit ein Meldeversäumnis begangen.
Mit der dagegen gerichteten Klage trägt der Kläger vor, sein Verhältnis zu Herrn E. sei gestört gewesen. Deshalb habe er sich bei dessen Vorgesetzten Herrn G. melden wollen, der aber nicht anwesend gewesen sei. Seinen Mitarbeiter oder Stellvertreter Herrn H. habe er ausdrücklich um einen neunen Termin gebeten.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 10.11.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.01.2001 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten - Stamm-Nr. I., Bd. VIII - beigezogen und bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, in der Sache ist sie auch begründet.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig, da die Voraussetzungen für den Eintritt einer Säumniszeit nicht feststellbar sind.
Kommt der Arbeitslose einer Aufforderung des Arbeitsamtes, sich zu melden oder zu einem ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin zu erscheinen (allgemeine Meldepflicht) trotz Belehrung über die Rechtsfolgen ohne wichtigen Grund nicht nach, so ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld während einer Säumniszeit von zwei Wochen, die mit dem Tag nach dem Meldeversäumnis beginnt (§ 145 Abs. 1 SGB III).
Es ist bereits nicht feststellbar, ob eine wirksame Meldeaufforderung an den Kläger geschickt wurde.
Das Ruhen nach § 145 setzt u.a. eine wirksame Meldeaufforderung nach § 309 Abs. 1 Satz 1 SGB III voraus. Nur eine rechtmäßige Meldeaufforderung kann eine Säumniszeit auslösen. Voraussetzung einer rechtmäßigen Meldeaufforderung ist, dass diese zu einem zulässigen Zweck ergeht (vgl. Niesel, Kommentar zum SGB III, Rn. 4, 5 zu § 145; Winkler in Gagel, Rn 19 zu § 145).
Da das Einladungsschreiben der Beklagten nicht vorhanden ist, der Kläger nicht über das Original verfügt und sich in den Akten auch keine Durchschrift befindet ist weder feststellbar, ob in dem Schreiben überhaupt ein Meldezweck genannt wird, welcher Meldezweck ggf. benannt und welche Formulierung dafür benutzt wird. Des Weiteren lässt sich nicht feststellen, dass eine ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung erfolgt ist.
Eine Säumniszeit tritt nur bei einer vorausgegangenen ordnungsgemäßen Belehrung ein. Wie bei der Sperrzeit muss sie konkret, verständlich, richtig und vollständig sein und den Adressaten nicht im Zweifel darüber lassen, welche Folgen sein Nichterscheinen unter welchen Umständen nach sich zieht (vgl. Urteil des BSG vom 20. März 1980, veröffentlicht in SozR 4100 § 132 Nr. 1; Niesel a.a.O. Rn. 7 zu § 145; Winkler a.a.O. Rn. 20 f).
Die Kammer kann eine ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung nicht feststellen. Das Bundessozialgericht stellt zu Recht hohe Anforderungen an die Rechtsfolgenbelehrung. Diese ist - nicht zuletzt deshalb, weil eine Säumniszeit einen nicht unerheblichen Eingriff in den Leistungsanspruch des Arbeitslosen darstellt - in jedem Einzelfall konkret zu überprüfen. Eine derartige Überprüfung kann nicht stattfinden, wenn weder das Original noch eine Durchschrift des Schreibens vorliegt und dessen Wortlaut auch nicht auf andere Weise authentisch bekannt ist.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist das eingereichte Muster einer Einladung nicht geeignet, die konkrete Einladung zu ersetzen. Weder sind dadurch die individuellen Eintragungen in dem Formular überprüfbar, noch ist überhaupt sichergestellt, dass dieses Formular Verwendung gefunden hat.
Die Kammer hat mit Urteil vom 28.01.01 -S 5 AL 34/00- (veröffentlicht in Info AlSo 2002, 112 ff ) - die Berufung wurde ausdrücklich zugelassen, aber nicht eingelegt - ausgeführt, dass die Beklagte bei Einführung der elektronischen Datenverarbeitung die uneingeschränkte rechtliche Überprüfbarkeit ihres Handelns sicherzustellen hat. Es ist nicht angängig, den Rechtsanspruch des Bürgers auf gerichtliche Überprüfung der Verwaltungstätigkeit dadurch einzuschränken oder gar zu vereiteln, dass mit Einführung von EDV die Nachvollziehbarkeit von konkreten inhaltlichen Details des Verwaltungshandelns unmöglich gemacht wird. Der Kammer ist bekannt, dass auch im Rahmen einer elektronischen Verarbeitung von Vorgängen eine konkrete Dokumentation des tatsächlich Geschehenen möglich ist. Dies wird von der Bundesanstalt für Arbeit zum Teil auch praktiziert. So können etwa die Eingaben der Mitarbeiter der Beklagten über erfolgte Vorsprachen, Auskünfte oder Beratungen in die sog. "B/ank" bzw. "BewA" nach einmal durchgeführter Eingabe nicht mehr verändert werden und bleiben für eine bestimmte Zeit im System gespeichert. Eine entsprechende Verfahrensweise ist auch für den Bereich des geführten Schriftverkehrs möglich. Dabei reicht es - wie ausgeführt - für die erforderliche gerichtliche Überprüfung allerdings nicht aus mittels elektronischer Notiz auf ein Formular zu verweisen, das in derartigen Fällen "immer" benutzt wird. Erforderlich und technisch möglich ist es, das konkrete Schreiben an einen bestimmten Arbeitslosen mit allen individuellen Eintragungen so abzuspeichern, wie es auch an den Betroffenen herausgegangen ist und eine spätere Abänderungsmöglichkeit - ähnlich wie bei den o. a. Dateien - durch geeignete Software auszuschließen. Bei einer derartigen Verfahrensweise, die technisch ohne weiteres möglich wäre und die bislang übliche Durchschrift wirklich ersetzen würde, wäre eine uneingeschränkte rechtliche Überprüfung des Verwaltungshandelns im Einzelfall auch nach Einsatz moderner Datenverarbeitungsmethoden möglich. Das konkrete seinerzeit erstellte Schreiben könnte in vollem Umfang rekonstruiert und einer rechtlichen Prüfung unterzogen werden. Solange die Beklagte dies nicht sicherstellt muss sie in Kauf nehmen, dass jeder Zweifel am tatsächlichen Ablauf zu ihren Lasten geht. Dies gilt jedenfalls in den Fällen, in denen die Beklagte - wie u.a. im Bereich der Sperr- und Säumniszeit - die objektive Beweislast trägt.
Die Berufung war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache erneut zuzulassen, um der Beklagten die Möglichkeit einer höchstrichterlichen Klärung zu geben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.