Sozialgericht Aurich
Urt. v. 24.10.2002, Az.: S 8 KR 104/01

Bibliographie

Gericht
SG Aurich
Datum
24.10.2002
Aktenzeichen
S 8 KR 104/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 35551
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGAURIC:2002:1024.S8KR104.01.0A

In dem Rechtsstreit

...

vertreten durch die Eltern

gegen

Krankenkasse,

vertreten durch den Vorstand,

hat das Sozialgericht Aurich - 8 Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 24.Oktober 2002 durch den Richter am Sozialgericht Spekker - Vorsitzender - sowie die ehrenamtlichen Richter Ewert Cramer und Ingo Liebrecht für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Die Klage wird abgewiesen.

    Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist die Versorgung mit einem Therapie-Tandem.

2

Die 1991 geborene, bei der Beklagten familienversicherte Klägerin leidet u.a. an einer angeborenen Muskelhypotonie und einer psychomotorischen Retardierung. Sie ist auf Kosten der Beklagten mit einem Therapie-Dreirad versorgt. Den unter Vorlage einer Verordnung der Kinderärztin Dr. G und eines Kostenvoranschlags des Sanitätshauses Kramer über 3.603,85 DM gestellten Antrag auf Kostenübernahme für ein Therapie-Tandem lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12.07.2001 in der Gestalt des

3

Widerspruchsbescheides vom 09.11.2001 unter Hinweis auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 16.09.1999, Az.: B 3 KR 9/98 R) ab, da das begehrte Therapie-Tandem nicht in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung falle.

4

Hiergegen richtet sich die am 05.12.2001 erhobene Klage. Es wird im Wesentlichen geltend gemacht, das Tandem sei erforderlich, um die Klägerin in den Kreis gleichaltriger Kinder und Jugendlicher, wozu auch der jüngere Bruder gehöre, zu integrieren. Da es sich insoweit um die Erfüllung von Grundbedürfnissen handele, sei die Leistungspflicht der Beklagten gegeben. Demgemäß habe das BSG in seinem Urteil vom 13.05.1998 (Az.: B 8 KN 13/97 R) in einem gleichgelagerten Fall die Krankenkasse zur Übernahme der Kosten eines Therapie-Tandems verurteilt.

5

Die Klägerin beantragt,

1. den Bescheid vom 12.07.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.11.2001 aufzuheben,

6

2. die Beklagte zu verurteilen, sie mit einem Therapie-Tandem zu versorgen.

7

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Sie hält die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Prozessakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

11

Die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Therapie-Tandem, da dieses als Hilfsmittel zum Ausgleich der Behinderung oder zur Sicherung des Behandlungserfolgs nicht erforderlich ist.

12

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.

13

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf das Therapie-Tandem als Hilfsmittel, "um ihre Behinderung auszugleichen". Insoweit folgt das Gericht der Rechtsprechung des 3. Senats des BSG in einem gleichgelagerten Fall (Urteil vom 16.09.1999, B 3 KR 9/98 R).

14

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist ein Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung nur dann erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Dazu gehören zum einen die körperlichen Grundfunktionen (Gehen, Stehen, Treppensteigen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung) und zum anderen die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes. In diesem Zusammenhang ist das Grundbedürfnis der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums nach der Rechtsprechung des BSG nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden zu verstehen. Vielmehr ist grundsätzlich auf diejenigen Entfernungen abzustellen, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt.

15

Davon ausgehend hat das BSG in seinen Entscheidungen vom 16.09.1999 (Az: B 3 KR 8/98 R, 13/98 R und 2/99 R - Rollstuhl-Bike - sowie B 3 KR 9/98 R - Therapie-Tandem) die Möglichkeit, sich als Behinderter mit Hilfe des Rollstuhl-Bikes oder Therapie-Tandems wie ein Radfahrer zu bewegen, nicht mehr zu dem Grundbedürfnis auf Erschließung bzw. Sicherung eines gewissen körperlichen Freiraumes gezählt. Zur Begründung hat das BSG ausgeführt, wenn es die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sei, dem durch eine Krankheit oder Behinderung beeinträchtigten Menschen die eigenständige und unabhängige Erfüllung seiner vitalen Lebensbedürfnisse zu ermöglichen, könne ihre Leistungspflicht nicht an den üblichen Besitz eines Fahrrades anknüpfen und dazu führen, es für den Behinderten nutzbar zu machen oder eine dem Radfahren vergleichbare Fortbewegungsmöglichkeit mit dem Rollstuhl oder dem Tandem zu eröffnen. Die grundlegenden Organfunktionen der Beine seien das Gehen und Stehen. Diese Funktionen seien bei Gehbehinderten im Rahmen des technisch Machbaren und wirtschaftlich Vertretbaren ganz oder teilweise herzustellen oder zu ersetzen, nicht hingegen die Fähigkeit, mittels der Beine ein schnelleres oder bequemeres Fortbewegungsmittel zu betreiben.

16

Der Wunsch, sich wie ein Radfahrer zu bewegen und z. B. Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen, die damit verbundene Raumerfahrung, das Umwelterlebnis, Geschwindigkeitsempfinden, Gleichgewichtsgefühl und sonstiges positives Erleben, zählten nicht mehr zu den Grundbedürfnissen, wenn die Fortbewegung im Nahbereich anderweitig sichergestellt sei.

17

Soweit der 8. Senat des BSG in den Urteilen vom 29.09.1997 (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 25) und 13.05.1998 (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 28) die Hilfsmitteleigenschaft eines Therapie-Tandems zur Kompensation besonders stark eingeschränkter Bewegungsmöglichkeiten für möglich gehalten hat, hat es maßgeblich auf die fehlende Möglichkeit zur eigenständigen, von der Hilfe Dritter unabhängigen Fortbewegung der dortigen Kläger abgestellt. Im vorliegenden Fall kann die Klägerin aber selbständig gehen und sich mit dem vorhandenen Therapie-Dreirad selbständig fortbewegen, wenn auch im Straßenverkehr nur unter Aufsicht, so dass der Einsatz des Tandems nicht erforderlich ist, um ihr bereits den Nahbereich zu erschließen, was noch zu den Lebensbetätigungen im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse zählen würde.

18

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S 1 Sozialgerichtsgesetz.