Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 19.03.2013, Az.: 32 Ss 29/13

Beschränkung der Verpflichtung deutscher Gerichte zu vorrangiger konventionskonformer Auslegung; Grenzen der Pflicht zur gemeinschaftskonformen Auslegung nationaler Normen im Grundsatz der Rechtssicherheit; Zulässigkeit einer Vertretung des Angeklagten in persona durch den Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
19.03.2013
Aktenzeichen
32 Ss 29/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 49936
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2013:0319.32SS29.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Stade - 01.11.2012

Fundstellen

  • AO-StB 2014, 21
  • NStZ 2013, 615-616
  • NStZ-RR 2014, 18
  • StV 2014, 209-211

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Verpflichtung deutscher Gerichte zu vorrangiger konventionskonformer Auslegung ist auf Fälle vorhandener Auslegungs- und Abwägungsspielräume beschränkt; sie endet aus Gründen der Gesetzesbindung der Gerichte, wo der gegenteilige Wille des nationalen Gesetzgebers deutlich erkennbar wird.

  2. 2.

    Die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationaler Normen findet ihre Grenze insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit und darf daher nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechtes contra legem dienen.

  3. 3.

    § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO kann auch unter Berücksichtigung der Verpflichtung deutscher Gerichte zu konventionskonformer Auslegung nicht entgegen seinem eindeutigen Wortlaut ausgelegt werden.

  4. 4.

    Eine Vertretung des Angeklagten in persona durch den Verteidiger ist in der Berufungshauptverhandlung nur unter den Voraussetzungen von § 411 Abs. 2 S. 1 StPO zulässig.

In der Strafsache
gegen A. R.,
geboren am xxxxxx 1983 in N. (Weißrussland),
zuletzt aufhältig: Justizvollzugsanstalt U., Abteilung S.,
- Verteidiger: Rechtsanwalt M.-M., B. -
wegen räuberischen Diebstahls u.a.
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 12. kleinen Strafkammer des Landgerichts Stade vom 1. November 2012 auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxxxxx, die Richterin am Oberlandesgericht xxxxxx und den Richter am Oberlandesgericht xxxxxx am 19. März 2013
beschlossen:

Tenor:

Die Revision wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe

I.

Der Angeklagte wurde mit Urteil des Amtsgerichts Buxtehude vom 24.09.2010 wegen räuberischen Diebstahls und wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Gegen dieses Urteil wandte sich der Angeklagte mit seinem zunächst unbenannten Rechtsmittel, welches er, nachdem das Urteil des Amtsgerichts am 02.11.2010 zugestellt worden war, am 09.12.2010 - und somit nach Ablauf der Frist zur Begründung der Revision - als Sprungrevision bestimmte.

Der Senat verwarf mit Beschluss vom 13.04.2011 den Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Sprungrevision und gab das Rechtsmittel an das Landgericht Stade zur Durchführung als Berufung ab.

Das Landgericht bestimmte Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 01.11.2012. Nachdem die Zustellung der Ladung zum Hauptverhandlungstermin an den Angeklagten gescheitert war, weil dieser unbekannten Aufenthalts war, ordnete das Landgericht Stade mit Beschluss vom 06.09.2012 die öffentliche Zustellung der Ladung zur Berufungshauptverhandlung an den Angeklagten an. Nach erfolgter öffentlicher Zustellung erschien zum Berufungshauptverhandlungstermin lediglich der Verteidiger des Angeklagten, der Angeklagte selbst erschien ohne Angabe von Gründen nicht. Auf Antrag des Verteidigers ordnete das Landgericht ihn dem Angeklagten als Verteidiger bei. Nach Feststellung der ordnungsgemäßen Ladung des Angeklagten beantragte die Staatsanwaltschaft, die Berufung nach § 329 Abs. 2 S. 1 StPO zu verwerfen. Der Verteidiger, welcher erklärte, zur Verteidigung des Angeklagten bereit zu sein, trat dem Verwerfungsantrag entgegen und beantragte dessen Ablehnung sowie die Aussetzung der Hauptverhandlung. Das Landgericht verwarf die Berufung gemäß § 329 Abs. 1 S. 1 StPO.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung sachlichen und formellen Rechtes rügt. Er macht mit der Verfahrensrüge geltend, das Urteil verstoße gegen Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c MRK und verletze das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 08.11.2012 (StraFo 2012, 490 ff.) handele es sich bei dem von dem Landgericht angewendeten § 329 Abs. 1 StPO um konventionswidriges innerstaatliches Recht. Die Verwerfung einer Berufung sei hiernach nicht zulässig, wenn zwar der ordnungsgemäß geladene Angeklagte nicht zur Berufungshauptverhandlung erschienen sei, wohl aber durch einen zur Verteidigung bereiten Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung vertreten werde.

II.

Die Nachprüfung des Urteils aufgrund des Revisionsvorbringens hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die Rüge, § 329 Abs. 1 S. 1 StPO sei nach der Entscheidung des EGMR vom 08.11.2012 als konventionswidriges Binnenrecht anzusehen und dürfe von den Gerichten daher nicht mehr angewendet werden, bleibt ohne Erfolg, denn sie erweist sich als unzulässig (unten 2.).

Der Senat lässt daher dahinstehen, ob die Anwendung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO im Falle eines in der Berufungshauptverhandlung durch einen Rechtsanwalt verteidigten Angeklagten gegen Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 MRK verstößt (unten a)). Im Übrigen wäre § 329 Abs. 1 S. 1 StPO auch im Falle der behaupteten konven-tionswidrigen Handhabung angesichts seines eindeutigen und nicht auslegungsfähigen Wortlautes von den Gerichten aufgrund ihrer Bindung an die geltenden Gesetze (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) weiterhin anzuwenden (unten b)).

a) Im Verfahren über die Individualbeschwerde N. gegen Bundesrepublik Deutschland hat der EGMR am 08.11.2012 entschieden, dass die Anwendung von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO im Fall eines verteidigten Angeklagten nicht mit Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 c MRK vereinbar sei. Unbeschadet der Regelung des Art. 46 Abs. 1 EMRK, wonach die vertragschließenden Staaten verpflichtet sind, die Urteile des EGMR zu befolgen, sind die Urteile des Gerichtshofes für die an dem Verfahren beteiligten Parteien verbindlich und entfalten damit eine begrenzte materielle Rechtskraft (BVerfGE 111, 307 ff. [BVerfG 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04][BVerfG 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04]), wobei die materielle Rechtskraft in Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK durch die personellen, sachlichen und zeitlichen Grenzen des Streitgegenstandes begrenzt ist (BVerfG a.a.O.). Das Konventionsrecht verfügt insoweit nicht über eine dem § 31 Abs. 1 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, wonach alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes gebunden sind. Eine Normverwerfungskompetenz kommt dem EGMR somit nicht zu.

Auch in der Sache erheben sich gegen die vom EGMR angenommene Konven-tionswidrigkeit der Anwendung von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO Bedenken. Der EGMR stellt in seiner Entscheidung darauf ab, dass auch dem trotz ordnungsgemäßer Ladung und ohne hinreichende Entschuldigung ausgebliebenen Angeklagten nicht das Recht entzogen werden könne, sich nach Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c) EMRK durch einen Anwalt verteidigen zu lassen und sieht in der Anwendung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO trotz Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Rechtsanwaltes einen Konventionsverstoß. Die Entscheidung differenziert jedoch nicht zwischen der Verteidigung des - anwesenden - Angeklagten durch einen Rechtsanwalt und der Vertretung - besser und deutlicher: Ersetzung - des - nicht anwesenden - Angeklagten durch seinen Verteidiger. Der deutsche Strafprozess ist von den Grundsätzen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit geprägt, die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung ist kein Selbstzweck, sondern dient der Wahrheitsfindung (vgl. OLG München, Beschluss vom 17.01.2013 - 4 StRR (a) 18/12 -). Über diese Verfahrensgrundsätze kann der Angeklagte nicht disponieren. Der EGMR verkennt in seiner Entscheidung, dass die Begriffe der Verteidigung und der Vertretung im deutschen Strafprozessrecht von unterschiedlicher Bedeutung sind. Zwar vertritt im deutschen Strafprozess der Rechtsanwalt die Interessen des Angeklagten, indem er ihn verteidigt. Dem deutschen Strafprozessrecht ist es indes fremd, dass der Verteidiger den Angeklagten in persona vertritt, also in der Hauptverhandlung ersetzt. Die Anwendung von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO entzieht dem Angeklagten somit nicht das Recht, sich durch einen Rechtsanwalt verteidigen, sondern nur das Recht, sich in der Hauptverhandlung durch seinen Verteidiger ersetzen zu lassen. Dieses Recht wird indes von der Konvention nicht geschützt (vgl. hierzu Minderheitenvotum der Richterinnen P.-F. und N. zur Entscheidung des EGMR vom 08.11.2012).

b) Aber selbst dann, wenn mit dem EGMR von einer Konventionswidrigkeit der in § 329 Abs. 1 S. 1 StPO getroffenen Regelung auszugehen wäre, wären die deutschen Gerichte angesichts des nicht auslegungsfähigen und eindeutigen Wortlautes der Vorschrift zu ihrer Anwendung verpflichtet (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG).

Die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten wurde als völkerrechtlicher Vertrag durch den Bundesgesetzgeber in das deutsche Recht transformiert. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung kommt den Regelungen der Konvention der Rang einfachen Bundesrechtes zu. Ungeachtet der beschränkten Bindungswirkung von Entscheidungen des EGMR nach Art. 46 Abs. 1 MRK (dazu oben II. 1. a)) gebietet die Verpflichtung innerstaatlicher Beachtung der Konvention eine konventionskonforme Ausgestaltung des nationalen Rechtes, wobei zur Bindung an Gesetz und Recht gehört, dass Gewährleistungen der Konvention in ihrer Ausformung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes von den deutschen Gerichten zu berücksichtigen sind (BVerGE 111, 307 ff.). Die Verpflichtung deutscher Gerichte zu vorrangiger konventionskonformer Auslegung ist indes auf Fälle vorhandener Auslegungs- und Abwägungsspielräume beschränkt; sie endet aus Gründen der Gesetzesbindung der Gerichte, wo der gegenteilige Wille des nationalen Gesetzgebers deutlich erkennbar wird (vgl. BGH NStZ 2010, 565 ff. [BGH 21.07.2010 - 5 StR 60/10; alt: 5 StR 21/09][BGH 21.07.2010 - 5 StR 60/10; alt: 5 StR 21/09]; BGH, Beschluss vom 09.11.2010 - 5 StR 394/10 -). Auch nach der Rechtsprechung des EuGH findet die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationaler Normen ihre Schranken insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit und darf daher nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechtes contra legem dienen (EuGH, Urteil vom 16.07.2009 - C-12/08).

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall bedeutet, dass § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht entgegen seinem eindeutigen Wortlaut ausgelegt werden kann (vgl. OLG München a.a.O.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27.02.2012 - III-2 RVs 11/12; OLG Hamm, Beschluss vom 14.06.2012 - III-1 RVs 41/12). Eine Vertretung des Angeklagten in persona durch den Verteidiger ist danach nur unter den Voraussetzungen von § 411 Abs. 2 S. 1 StPO zulässig, der hier nicht eingreift.

2. Der Senat hat jedoch letztlich nicht zu entscheiden, ob unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte § 329 Abs. 1 S. 1 StPO konventionsfreundlich dahin ausgelegt werden kann, dass die Vertretung des Angeklagten über die bisherigen Ausnahmefälle hinaus in der Berufungshauptverhandlung generell für zulässig erachtet werden müsste. Denn die diesbezügliche Verfahrensrüge ist bereits nicht in der durch § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgeschriebenen Form erhoben. Die Revisionsbegründung muss alle für die Prüfung der gerügten Verletzung des Verfahrensrechts relevanten Tatsachen und Vorgänge ohne Bezugnahmen und Verweisungen enthalten (vgl. nur Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. § 344 Rdnr. 20 f.). Die Revisionsbegründung teilt aber nicht mit, dass der Verteidiger während der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Stade am 01.11.2012 über eine wirksame, von dem Angeklagten erteilte schriftliche Vertretungsvollmacht verfügte und diese dem Gericht nachgewiesen hätte. Ebenso wie der Wahlverteidiger bedarf auch der Pflichtverteidiger zur Vertretung des Angeklagten in der Hauptverhandlung einer besonderen schriftlichen Vertretungsvollmacht (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27.02.2012 - III-2 RVs 11/12 -; OLG Brandenburg, wistra 2012, 43[OLG Brandenburg 24.08.2011 - 1 Ws 133/11]; OLG Hamm, StV 1997, 404; OLG Hamm, VRR 2012, 391 f.). Den Inhalt seiner Bevollmächtigung als Wahlverteidiger hat der Verteidiger nicht vorgetragen. Selbst wenn die von dem Verteidiger als Wahlverteidiger zu den Akten gereichte Vollmacht ausdrücklich die Befugnis des Verteidigers, den Angeklagten auch für den Fall seiner Abwesenheit zu verteidigen und zu vertreten, enthalten sollte, war diese Vertretungsvollmacht im Zeitpunkt der Hauptverhandlung vor dem Landgericht jedenfalls nicht mehr wirksam. Der ursprünglich als Wahlverteidiger mandatierte Verteidiger hat in der Berufungshauptverhandlung seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Mit der Beiordnung endete das Wahlmandat und damit auch die Strafprozessvollmacht. Dies folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 168 BGB, wonach die Vollmacht mit dem hier zugrundeliegende Rechtsgeschäft erlischt (vgl. OLG Hamm, VRR 2012, 391 f.). Aus der Pflichtverteidigerbestellung als solches ergibt sich ebenfalls keine besondere Vertretungsvollmacht des Verteidigers. Der Pflichtverteidiger hat grundsätzliche dieselbe Rechtsstellung wie der gewählte Verteidiger (vgl. Meyer-Goßner, StPO, vor 137 Rdnr. 1). Dieser ist aber nicht Vertreter, sondern Beistand des Angeklagten, sodass der Pflichtverteidiger einer - gegebenenfalls neu zu erteilenden - ausdrücklichen Vertretungsvollmacht bedarf (vgl. OLG Hamm a.a.O.). Dazu teilt die Verfahrensrüge nichts mit.

3. Die ebenfalls erhobene Sachrüge führt bei einem Rechtsmittel gegen ein Prozessurteil nach § 329 Abs. 1 StPO nur zur Prüfung, ob Verfahrenshindernisse vorliegen (vgl. OLG Hamm, NStZ 2010, 471; OLG Schleswig, SchlHA 2007, 290). Solche sind indes weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

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