Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 19.03.2014, Az.: 1 Ss 15/14
Erfordernis einer zwingenden Verwerfung der Berufung bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 329 StPO
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 19.03.2014
- Aktenzeichen
- 1 Ss 15/14
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 16257
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2014:0319.1SS15.14.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 18.09.2013
Rechtsgrundlagen
- Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK
- § 234 StPO
- § 329 Abs. 1 S. 1 StPO
Amtlicher Leitsatz
1. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ist die Berufung zwingend zu verwerfen.
2. Eine den Anforderungen des Urteils des EGMR vom 08.11.2012 (Individualbeschwerde 30804/07) entsprechende konventionsfreundliche Auslegung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ist nicht möglich.
3. Für eine Verfahrenrüge, die auf eine vermeintlich unberechtigte Verwerfung einer Berufung bei Anwesenheit eines Verteidigers gestützt wird, bedarf es im Hinblick auf § 234 StPO der Darlegung, ob der Verteidiger von dem Angeklagten zu seiner Vertretung schriftlich bevollmächtigt worden ist und ob der Verteidiger diese schriftliche Vollmacht dem Gericht nachgewiesen hat.
Tenor:
Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft und nach Anhörung des Verteidigers wird die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 18. September 2013 auf seine Kosten (§ 473 Abs. 1 StPO) gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Gründe
Die Revision ist unbegründet, da die Sachrüge nicht begründet und die Verfahrensrüge der Verletzung des Art. 6 Abs. 3 c) EMRK nicht zulässig erhoben ist.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu ausgeführt:
"Die Rüge der Verletzung materiellen Rechts führt nur zu der Prüfung, ob im Revisionsverfahren Verfahrenshindernisse entstanden sind (vgl. Meyer-Goßner, aaO. [StPO, 56. Aufl.], § 329 Rdnr. 49). Solche sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
De Rüge der Verletzung formellen Rechts erscheint unzulässig. Zwar werden an die Zulässigkeit der Verfahrensrüge gegen ein Verwerfungsurteil grundsätzlich keine strengen Anforderungen gestellt (vgl. OLG Nürnberg, 2. Strafsenat, Beschluss vom 21.05.2008 - 2 St OLG Ss 228/07 Rdnr. 12; OLG München, 5. Strafsenat, Beschluss vom 08.09.2005 - StRR 066/05, 5 StRR 66/05 Rdnr. 6 - beide juris). Gleichwohl muss die Revisionsbegründung alle für die Prüfung der gerügten Verletzung des Verfahrensrechts relevanten Tatsachen und Vorgänge ohne Bezugnahme und Verweisungen enthalten (Meyer-Goßner, aaO.' § 344 Rdnr. 20f.). Da der Revisionsführer unter Bezugnahme auf die Entscheidung des EGMR vom 08.11.2012 die Verwerfung der Berufung gemäß § 329 Abs. 1 StPO als verfahrensfehlerhaft mit der Begrün-dung rügt, dass der in der Hauptverhandlung abwesende Angeklagte durch einen zu seiner Verteidigung bereiten Verteidiger vertreten gewesen sei, bedarf es im Hinblick auf die Regelung des § 234 StPO auch der Darlegung, ob der Verteidiger von dem Angeklagten zu seiner Vertretung schriftlich bevollmächtigt worden ist und ob der Verteidiger diese schriftliche Vertretungsvollmacht dem Gericht nachgewiesen hat (vgl. OLG Celle, Niedersächsische Rechtspflege 2014, 50f., 52). Dass es sich bei dem in der Hauptverhandlung anwesend gewesenen Verteidiger um den Pflichtverteidiger des Angeklagten gehandelt hat, führt zu keiner anderen Beurteilung. Ebenso wie der Wahlverteidiger bedarf auch der Pflichtverteidiger zur Vertretung des Angeklagten in der Hauptverhandlung einer besonderen schriftlichen Vertretungsvollmacht (OLG Celle, aaO., m. w. Rspr.nachw.). Ein diesbezüglicher Vortrag kann der Rechtsmittelbegründungsschrift nicht entnommen werden."
Dem tritt der Senat bei.
Die Verfahrensrüge wäre auch nicht begründet gewesen, da die Verfahrensweise des Landgerichts Braunschweig der geltenden Gesetzeslage entspricht.
§ 329 Abs. 1 StPO bestimmt, dass dann, wenn bei Beginn der Hauptverhandlung weder der Angeklagte noch in den Fällen, in denen dies zulässig ist (§§ 232 Abs. 1 S. 1, 233 Abs. 1 S. 1, 234, 411 Abs. 2 Satz 1 StPO) ein Vertreter des Angeklagten erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist, das Berufungsgericht eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen hat. Ein Ermessen, anders zu entscheiden, besteht nicht.
Unabhängig von der das deutsche Strafprozessrecht betreffenden Vorlagesache (Urteil vom 08.11.2012, Individualbeschwerde Nr. 30804/07 - N. gegen Deutschland) hatten aufgrund dieser eindeutigen Rechtslage schon die Oberlandesgerichte in Düsseldorf (Beschluss vom 27.02.2012, III-2 RVs 11/12; juris) und Hamm (Beschluss vom 14.06.2012, III-1 RVs 41/12; juris) die Frage verneint, ob eine frühere Entscheidung des EGMR (Individualbeschwerde Nr. 13566/06 - P. gegen Finnland) zu einer den Anwendungsbereich des § 329 Abs. 1 StPO einschränkenden Auslegung zwingt. Dem haben sich nunmehr, und zwar in Kenntnis der o.g. jüngsten Entscheidung des EGMR, ausdrücklich auch die Oberlandesgerichte München (Beschluss vom 17.01.2013, 4 StRR (A) 18/12; juris) und Celle (Beschluss vom 19.03.2013, 32 Ss 29/13; juris) angeschlossen.
Auch der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.
Der innerstaatliche Rang der Europäischen Menschenrechtskommission entspricht dem eines Bundesgesetzes (BVerfG, Beschluss vom 04.05.2011; zitiert nach juris, Rn. 87). Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben (BVerfG, Beschluss vom ; zitiert nach juris, Rn. 32). Eine konventionsfreundliche Auslegung endet allerdings dort, wo der Wille des nationalen Gesetzgebers in Gestalt von bestehendem Gesetzesrecht entgegensteht. Die Europäische Menschenrechtskonvention eröffnet den Gerichten keine Verwerfungskompetenz für eindeutig entgegenstehende Gesetze (BGH vom 09.11.2010, 5 StR 394/10; juris, Rn. 32).
Nach diesen Maßstäben ist eine dem Urteil des EGMR vom 08.11.2012 entsprechende Auslegung des § 329 StPO nicht möglich, da diese gegen den eindeutigen Wortlaut, den Willen des historischen Gesetzgebers und den Gesetzeszweck verstoßen würde. Vor diesem Hintergrund musste das Landgericht Braunschweig die Berufung des Angeklagten nach dieser Vorschrift verwerfen.