Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 27.06.2003, Az.: 4 B 538/03
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 27.06.2003
- Aktenzeichen
- 4 B 538/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 40827
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGSTADE:2003:0627.4B538.03.0A
Gründe
1. Die Antragstellerin begehrt im Wege einer einstweiligen Anordnung (sinngemäß) eine Verpflichtung des Antragsgegners, ihr Hilfe zur Erziehung durch Übernahme der Kosten für eine Unterbringung ihres am 17. Januar 1990 Sohnes Meikel, der zur Zeit noch in einer Familienwohngruppe in
Clenze/Landkreis Lüchow-Dannenberg betreut wird, in einer Wohngruppe der
Evangelischen Jugendhilfe in Hamburg zu gewähren.
Gemäß § 123 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Gemäß den §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO hat der Antragsteller sowohl die
Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) als
auch seine materielle Anspruchsberechtigung (Anordnungsanspruch) glaubhaft
darzulegen.
Im vorliegenden Verfahren hat die Antragstellerin, die als
Personensorgeberechtigte seit Anfang des Jahres neben dem Erziehungsrecht
auch wieder in vollem Umfang über das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihren minderjährigen Sohn Meikel verfügt (vgl. Entscheidung d. AG Stade v. 24. 1. 2003, durch den der Beschl. v. 27. 6. 2001 über die vorläufige Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes aufgehoben wurde), sowohl die Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Regelung als auch ihre materielle Anspruchsberechtigung glaubhaft gemacht, weil im Falle ihres Sohnes der von der Antragstellerin im Februar 2003 beantragte Wechsel der Einrichtung (hier: von einer Familienwohngruppe in Clenze in eine Wohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe) dringend geboten ist und sie daher im Rahmen der Hilfe zur Erziehung von dem Antragsgegner verlangen kann, zukünftig die Kosten der Heimunterbringung ihres Sohnes in der Hamburger Einrichtung zu übernehmen. Die Weigerung des Antragsgegners, einem Einrichtungswechsel zuzustimmen, und sein Ablehnungsbescheid vom 31. März 2003 erweisen sich daher aller Voraussicht nach als rechtswidrig. Dazu im Einzelnen:
Die Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. Sozialgesetzbuch (SGB) Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - erfolgt dann rechtmäßig, wenn der Personensorgeberechtigte die Hilfegewährung beantragt oder jedenfalls mit ihr einverstanden ist, das heißt nach der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung in § 27 Abs. 1 SGB VIII steht der Erziehungshilfeanspruch dem Personensorgeberechtigten, also in der Regel den Eltern oder einem Elternteil (vgl. § 1626 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -) zu. Dieser Anspruch besteht, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Zu den gemäß § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zu gewährenden Hilfen zählt auch die Erziehung in einem Heim oder in einer sonstigen betreuten Wohnform nach § 34 SGB VIII.
In den Formulierungen des § 27 Abs. 1 SGB VIII kommt zum Ausdruck, dass es sich bei der Hilfe zur Erziehung um eine die elterliche Erziehung ergänzende und unterstützende Hilfe handelt. Damit orientiert sich die Regelung daran, dass Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sind (vgl. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz - GG -, 1 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) und basiert auf dem Prinzip der Freiwilligkeit und Zusammenarbeit. Entgegen früherer Regelungen ist ein originär öffentliches Erziehungsrecht im Kinder- und Jugendhilferecht nach dem SGB VIII nicht mehr vorgesehen. Eine Befugnis zu staatlichen Eingriffen in die Erziehungsverantwortung der Eltern besteht - abgesehen von den §§ 42, 43 SGB VIII - nur in den Fällen, in denen zur Abwehr konkreter Gefährdungen des Kindeswohls Maßnahmen nach § 1666 BGB erforderlich sind. Unterhalb dieser Schwelle leitet sich die Legitimation zu Erziehungsleistungen daher ausschließlich von den Willenserklärungen des Personensorgeberechtigten ab (vgl. zum Vorstehenden auch: OVG Münster, Urt. v. 12. 9. 2002 - 12 A 4352/01 -, NDV-RD 2003, 36 mit weiteren Nachweisen). Dies bedeutet aber zugleich, dass der Jugendhilfeträger außerhalb des Anwendungsbereiches des § 1666 BGB, auch wenn auf der Grundlage des § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII Kinder und Jugendliche entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden
Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen sind, unterschiedliche Auffassungen zwischen dem Personensorgeberechtigten und seinem Kind über das Ob und/oder das Wie der Hilfegewährung nicht zum Anlass nehmen darf, die im Rahmen der Beteiligung abgegebenen Erklärungen des Kindes über den Willen der sorgeberechtigten Eltern bzw. des sorgeberechtigten Elternteils zu stellen. Schließlich hat der Jugendhilfeträger in diesem Rahmen auch das durch § 5 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ausdrücklich festgelegte Recht der Leistungsberechtigten, zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zu äußern, zu beachten, es sei denn, das Wahl- und Wunschrecht führt zu unverhältnismäßigen Mehrkosten (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII).
Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben hat die Antragstellerin (spätestens) durch ihren Antrag vom 18. Februar 2003 klar und
unmissverständlich gegenüber dem Antragsgegner zum Ausdruck gebracht, dass
sie nicht mehr mit einer Betreuung ihres Sohnes Meikel in einer
Familienwohngruppe in Clenze einverstanden ist, sondern zukünftig seine
Betreuung in einer Wohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe in Hamburg
wünscht. Gegenüber dieser eindeutigen Willenserklärung der allein
erziehungs- und aufenthaltsbestimmungsberechtigten Antragstellerin kann sich
der Antragsgegner nicht mit Erfolg für die Versagung der Kostenübernahme auf
eine Gefährdung des Kindeswohls im Sinne des § 1666 BGB berufen. Abgesehen
davon, dass der Antragsgegner, wenn er in dem von einem
Personensorgeberechtigten beantragten Einrichtungswechsel eine
Kindeswohlgefährdung sieht, gehalten ist, eine Entscheidung des
Familiengerichtes herbeizuführen, er also nicht berechtigt ist, ohne
familiengerichtliche Anordnung in die Erziehungsverantwortung der
Antragstellerin einzugreifen, war einerseits auf Antrag des Antragsgegners
vom 27. Juni 2001 die Frage, ob der Antragstellerin das Aufenthaltsbestimmungs- und Erziehungsrecht für ihren Sohn Meikel zu
entziehen ist, und andererseits auf Antrag der Antragstellerin vom 29.
August 2001 die Frage eines angemessenen Umgangsrechtes zwischen ihr und
ihrem Sohn bereits Gegenstand zweier familiengerichtlicher Verfahren bei dem
Amtsgericht Stade gewesen (Az.: 43 F 160/01 EASO und 43 F 275/01 UG). Im
Rahmen dieser Verfahren hatte das Familiengericht die Dipl.-Psychologin
Sophie Warning-Peltz, Buchholz, mit der Erstellung eines Psychologisches
Sachverständigengutachten beauftragt. In ihrem umfangreichen,
98-seitigen Gutachten vom 20. August 2002, das in sich schlüssig und
nachvollziehbar ist und neben einer psychologischen Aktenanalyse zur
Vorgeschichte auf ausführlichen Explorationen mit den Erziehern der
Familienwohngruppe in Clenze, mit der Antragstellerin und ihrem jetzigen
Ehemann als Stiefvater sowie mit ihrem Sohn Meikel - ergänzt durch
Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen, indirekte psychodiagnostische
Untersuchungsverfahren mit Meikel und informatorischen Telefongesprächen mit
dem Jugendamt, den behandelnden Therapeuten des Sohnes der Antragstellerin
sowie seinen Lehrern - beruht, kommt die Gutachterin im Zusammenhang mit der
hier streitigen Frage eines Einrichtungswechsels zu dem Ergebnis, es sei für
die weitere Entwicklung des Sohnes der Antragstellerin dringend
erforderlich, dass regelmäßige Kontakte zu seiner Mutter stattfänden und
ihre Integration in sein Leben gelinge. Da
aber das bisherige Erzieherehepaar mehrfach vermittelt habe, dass sie
regelmäßige Kontakte zur Mutter nicht mittragen würden, ergebe sich daraus
das Erfordernis, Meikel aus der Familienwohngruppe zu nehmen. Aufgrund
dieser Feststellungen der Gutachterin und der Auswertung der vorliegenden
Verwaltungsvorgänge des Jugendamtes des Antragsgegners (Beiakten B bis C),
die zweifelsfrei belegen, dass das Betreuerehepaar bereits kurz nach
Aufnahme des Sohnes der Antragstellerin im September 1996 in ihre
Familienwohngruppe damit begonnen hat, die persönlichen, telefonischen und
brieflichen Kontakte zwischen der Antragstellerin und ihrem Sohn
einzuschränken und schließlich fast völlig zu unterbinden, kann keine Rede
davon sein, dass durch einen Einrichtungswechsel das Kindeswohl gefährdet
wird, sondern es steht vielmehr zur Überzeugung der Kammer fest, dass es für
die zukünftige Entwicklung des Sohnes der Antragstellerin dringend
erforderlich ist, seine weitere Betreuung in einer anderen Einrichtung
sicherzustellen.
Steht damit fest, dass die von der Antragstellerin beantragte Maßnahme nicht in den Anwendungsbereich des § 1666 BGB fällt, kann sich der Antragsgegner auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Sohn der Antragstellerin im Rahmen seiner Beteiligung nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII einen Einrichtungswechsel abgelehnt habe, weil - wie bereits ausgeführt -
unterhalb der Schwelle einer Kindeswohlgefährdung sich der Wille des
Personensorgeberechtigten und Inhabers des Erziehungshilfeanspruches
durchsetzt. Da auch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass der
Einrichtungswechsel mit unverhältnismäßigen Mehrkosten im Sinne des § 5 Abs.
2 Satz 1 SGB VIII verbunden sein könnte, folgt auch aus dem Wahl- und
Wunschrecht des Leistungsberechtigten, also der Antragstellerin, dass der
Antragsgegner keine durchgreifenden Gründe auf seiner Seite hat, sich
weiterhin der beantragten Maßnahme zu widersetzen.
Schließlich ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass im Falle der Antragstellerin die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Hilfe zur
Erziehung nach § 27 Abs. 1 SGB VIII vorliegen und dass eine Heimerziehung im
Sinne der §§ 27 Abs. 2, 34 SGB VIII die geeignete, notwendige und dem
erzieherischen Bedarf Rechnung tragende Hilfemaßnahme ist. Darüber hinaus
steht aber auch - entgegen dem Vorbringen des Antragsgegners - fest, dass in
der Wohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe in Hamburg freie Plätze zur
Verfügung stehen (vgl. deren Bescheinigung vom 14. 5. 2003, Bl. 55 der
Gerichtsakte), so dass der Antragsgegner zu verpflichten ist, die Kosten für
die von der Antragstellerin beantragte Erziehungshilfemaßnahme zu
übernehmen.