Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.02.2011, Az.: 3 K 599/10
Anspruch einer dauerhaft an den Rollstuhl gefesselten MS-Erkrankten auf Anerkennung der Aufwendungen für einen barrierefreien Hauszugang als außergewöhnliche Belastung
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 11.02.2011
- Aktenzeichen
- 3 K 599/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 28278
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2011:0211.3K599.10.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - 25.05.2011 - AZ: VI B 35/11
Rechtsgrundlage
- § 33 EStG
Verfahrensgegenstand
Einkommensteuer 2008
Redaktioneller Leitsatz
1.
Hat ein Steuerpflichtiger aufgrund einer Erkrankung, die ihn an einen Rollstuhl fesselt, Aufwendungen für den Umbau des Hauseingangs durch die Anlage eines höhengleichen Weges getätigt, sind diese dem Grunde nach als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 Abs. 1 EStG in Abzug bringen.
2.
Diese Aufwendungen sind auch nicht durch den dem Steuerpflichtigen gemäß § 33b EStG gewährten Behinderten- und Pflege-Pauschbetrag abgegolten, da dieser nur laufende und typische Mehraufwendungen des Behinderten, nicht jedoch "zusätzliche Krankheitskosten" erfasst (BFH Urteil vom 11. Dezember 1987 III R 95/85, BStBl II 1988, 275).
3.
Auch wenn nach der neueren Rechtsprechung der Abzug der außergewöhnlichen Belastung in derartigen Fällen nicht mehr an dem erlangten Gegenwert scheitert, so ist auch weiterhin der sich aus der Erneuerung ergebende Vorteil ("Neu für Alt") anzurechnen (BFH Urteil vom 11. November 2010 VI R 16/09, [...]).
4.
Die Aufwendungen sind nach dem Gesetzeswortlaut des § 33 Abs. 2 EStG der Höhe nach auf das Notwendige und Angemessene begrenzt.
Behindertengerechter Umbau eines Hauses als außergewöhnliche Belastung
Tatbestand
Streitig ist die Frage, ob die Kläger die Aufwendungen für einen barrierefreien Hauszugang als außergewöhnliche Belastung abziehen können.
Die Kläger sind verheiratet und werden zur Einkommensteuer zusammen veranlagt. Der Kläger ist im Jahre 1947 geboren, die Klägerin im Jahre 1951.
Die Klägerin ist an MS erkrankt. Die Krankheit wurde 1993 diagnostiziert, seit 2000 ist die Klägerin auf einen Rollstuhl angewiesen, und zwar zunächst zeitweilig, inzwischen dauerhaft.
Die Kläger bewohnen ein 1979 errichtetes Einfamilienhaus. Der Eingang des Hauses war ursprünglich ausschließlich über einen an der Seite der von der Straße zum Haus verlaufenden Garageneinfahrt abzweigenden Weg erreichbar. Da der Hauseingang höher liegt als das Niveau der Straße und der Garageneinfahrt, befindet sich auf den ersten Metern hinter der Garageneinfahrt eine mit Sichtbeton eingefasste Treppe.
Nach einer weiteren Verschlechterung der Krankheit ließen die Kläger von der Firma Grünbau einen dem Grundstücksniveau angepassten, gewunden von der Straßenseite des Grundstücks zur linken vorderen Hausecke verlaufenden gepflasterten Weg ohne Stufen anlegen. Zum höher gelegenen Nachbargrundstück zu ist eine Böschung angelegt und durch eine Trockenmauer abgestützt worden. Einige Meter vor dem Haus beginnt eine Rampe, die auf den Podest vor der Haustür führt und so die weiteren unmittelbar vor dem Haus befindlichen Stufen umgeht. Die Aufwendungen für das Anlegen dieses Weges einschließlich Rampe betrugen nach Abzug von 3% Skonto 7.781,23 EUR. Der in der Rechnung vom 28. November 2008 ausgewiesene Lohnkostenanteil beträgt 2.561,- EUR.
Im zeitlichen Zusammenhang mit dieser Maßnahme ließen die Kläger ebenfalls von der Firma Grünbau die Hausterrasse erneuern, einen am Fuß der Rampe beginnenden und an der Seite des Hauses vorbeiführenden sowie einen weiteren zum Gartenhaus führenden Weg anlegen. Den in den entsprechenden Rechnungen ausgewiesenen Lohnkostenanteil von 4.194,- EUR machten die Kläger als haushaltsnahe Handwerkerleistungen gem. § 35a EStG geltend. Der bisherige Zugang zum Haus besteht weiterhin unverändert.
Wegen weiterer Details zur Gebäude- und Grundstückssituation wird auf die Fotos Bl. 5, 6 FG-Akte verwiesen.
Die Kläger machten die Aufwendungen für den Weg sowie weitere Aufwendungen (Fahrtkosten Behinderter, Eigenanteil Medikamente und Krankengymnastik, Mehraufwendungen für Urlaubsbegleitungen) in Höhe von 4.637,- EUR in ihrer Einkommensteuererklärung 2008 als außergewöhnliche Belastung geltend.
Der Beklagte erkannte im Einkommensteuerbescheid 2008 vom 10. Juni 2010 die Aufwendungen für den Weg nicht als außergewöhnliche Belastungen an. Die übrigen außergewöhnlichen Belastungen wirkten sich wegen einer zumutbaren Belastung in Höhe von 6.144,- EUR nicht aus. Zwar erhöhte der Beklagte die im Rahmen der Steuerermäßigung nach § 35a EStG berücksichtigungsfähigen Aufwendungen um den Lohnkostenanteil aus der Rechnung vom 28. November 2008. Dies wirkte sich jedoch nicht aus, weil die Kläger schon aufgrund der übrigen Aufwendungen den Höchstbetrag der Steuerermäßigung nach § 35a EStG von 600,- EUR in Anspruch nahmen.
Der gegen den Bescheid gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg.
Die Kläger sind der Auffassung, dass die Aufwendungen für den behindertengerechten Hauseingang als außergewöhnliche Belastung abzugsfähig seien. Die Aufwendungen seien zwangsläufig, weil nur so der Klägerin das Leben im eigenen Haus in der gewohnten Umgebung ermöglichen würde. Nach einer weiteren Verschlechterung ihrer Krankheit hätte sie nur noch mit umfangreicher Hilfe in das Haus gelangen können.
Die Kläger sind der Meinung, dass ihnen kein marktgängiger Vorteil durch die Baumaßnahme verschafft worden sei. Im Falle des Verkaufs des Hauses könne kein höherer Preis erzielt werden. Die bisherige Treppe sei erhalten geblieben, der rollstuhlgerechte Zugang werde nur von der Klägerin genutzt, weil er einen Umweg bedeute.
Die Klägerin haben ihren Klageantrag der Höhe nach auf den Abzug von Aufwendungen in Höhe von 6.281,23 EUR beschränkt, um damit einen nicht notwendigen Anteil der Aufwendungen abzugelten.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
unter Abänderung des Einkommensteuerbescheides 2008 vom 10. Juni 2010 und der Einspruchsentscheidung vom 15. November 2010 weitere außergewöhnliche Belastungen in Höhe von 6.281,23 EUR zu berücksichtigen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte räumt zwar ein, dass Krankheitskosten grundsätzlich ein Anwendungsfall der außergewöhnlichen Belastung seien. Auch der behindertengerechte Umbau eines Hauses sei mitunter als zwangsläufig zu erachten.
Der Beklagte hält die Aufwendungen im Streitfall jedoch nicht für zwangsläufig, weil die Klägerin bereits seit dem Jahre 2000 auf einen Rollstuhl angewiesen und ihr Schwerbehindertenausweis mit den Merkzeichen G, B und aG versehen sei. Die Baumaßnahmen seien erst im Oktober/November 2008 durchgeführt worden. Wenn die Klägerin 8 Jahre lang ohne barrierefreien Zugang ausgekommen sei, zeige dies, dass die Aufwendungen nicht zwangsläufig sein könnten.
Zudem hätten die Kläger mit dem neu angelegten Wert einen Gegenwert erlangt, da die bisherige 30 Jahre alte Treppe durch einen neuen Zugang ersetzt worden sei, die auch von anderen Hausbewohnern genutzt werden könne.
Die Verfahrensbeteiligten haben im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 4. Februar 2011 auf mündliche Verhandlung verzichtet und Zustimmung zur Entscheidung durch den Berichterstatter erteilt.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Die Kläger können die Aufwendungen für die Anlage des höhengleichen Weges dem Grunde nach als außergewöhnliche Belastung in Abzug bringen.
Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands, so wird gem.§ 33 Abs. 1 EStG die Einkommensteuer auf Antrag dadurch ermäßigt, dass der Teil der Aufwendungen, der die dem Steuerpflichtigen zumutbare Belastung übersteigt, vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen wird. Aufwendungen erwachsen dem Steuerpflichtigen nach § 33 Abs. 2 EStG zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen.
Behinderungsbedingte Umbaukosten stellen außergewöhnliche Aufwendungen i.S. des § 33 Abs. 1 EStG dar, denn es sind größere Aufwendungen, als sie der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie gleichen Familienstandes erwachsen. Diese Aufwendungen sind auch nicht durch den A gewährten Behinderten- und Pflege-Pauschbetrag abgegolten. Der Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 1 bis 3 EStG gilt nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nur laufende und typische Mehraufwendungen des Behinderten ab, so dass "zusätzliche Krankheitskosten" nicht von der Abgeltungswirkung des Pauschbetrags erfasst werden (BFH Urteil vom 11. Dezember 1987 III R 95/85, BStBl II 1988, 275) Dies gilt erst recht für den Pauschbetrag nach § 33b Abs. 6 EStG, der nur die durch die Pflege einer Person veranlassten Aufwendungen erfasst.
Im Streitfall sind die Umbaukosten durch die Erkrankung der Klägerin an MS veranlasst, weil die Klägerin inzwischen auf den Rollstuhl angewiesen ist und ohne höhengleichen Zugang selbständig nicht in ihre Wohnung gelangen kann. Entgegen der Auffassung des Beklagten sind die reinen Umbaukosten im Streitfall aber auch zwangsläufig erwachsen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Aufwendungen infolge Körperbehinderung sind ebenso wie Krankheitskosten von jeher ein Anwendungsfall der Zwangsläufigkeit aus tatsächlichen Gründen (BFH Urteil vom 22. Oktober 2009 VI R 7/09, BStBl. II 2010, 280). Die Zwangsläufigkeit kann auch nicht - wie vom Beklagten vorgetragen - mit der Begründung verneint werden, dass die Klägerin einen Rollstuhl schließlich schon 8 Jahre nutze und bisher ohne höhengleichen Hauszugang ausgekommen sei. Der Beklagte geht damit auf den Vortrag der Klägerin nicht ein, dass sich ihre Krankheit zuletzt weiter verschlechtert habe, und sie nunmehr gänzlich auf den Rollstuhl angewiesen sei, wohingegen sie sich früher teilweise auch noch ohne Rollstuhl habe bewegen können. Weiterhin ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass der Kläger im Streitjahr 2008 sein 61. Lebensjahr vollendet hat. Die Zwangsläufigkeit der Aufwendungen ergibt sich auch daraus, dass es dem Kläger in der weiteren zeitlichen Perspektive altersbedingt immer schwerer fallen wird, die Klägerin samt Rollstuhl die Treppen hinaufzubefördern. Insofern ist die Argumentation des Beklagten, dass die Aufwendungen im Jahre 2008 nicht zwangsläufig sein könnten, wenn sie sich in früheren Jahren als nicht zwangsläufig erwiesen hätten, nicht schlüssig.
Im Streitfall wird der Abzug der zwangsläufigen Aufwendungen aber auch nicht durch einen eventuellen Gegenwert gehindert. Stehen die behinderungsbedingten Aufwendungen so stark unter dem Gebot der sich aus der Situation ergebenden Zwangsläufigkeit, dass die Erlangung eines etwaigen Gegenwertes in Anbetracht der Gesamtumstände in den Hintergrund tritt, steht der Gegenwert dem Abzug der Aufwendungen nicht entgegen (BFH Urteil vom 22. Oktober 2009 VI R 7/09, BStBl. II 2010, 280). Dies ist hier der Fall, weil die Schaffung des höhengleichen Hauszugangs erforderlich wurde, um der Klägerin eine weitere Nutzung ihres Eigenheims in eigenverantwortlicher Gestaltung ihres Lebens zu ermöglichen.
Auch wenn nach der neueren Rechtsprechung der Abzug der außergewöhnlichen Belastung in derartigen Fällen nicht mehr an dem erlangten Gegenwert scheitert, so ist auch weiterhin der sich aus der Erneuerung ergebende Vorteil ("Neu für Alt") anzurechnen (BFH Urteil vom 11. November 2010 VI R 16/09, [...]). Ebenfalls sind die Aufwendungen nach dem Gesetzeswortlaut des § 33 Abs. 2 EStG auf das Notwendige und Angemessene begrenzt. Im Streitfall hätte nach den örtlichen Gegebenheiten eine in begrenztem Umfang kostengünstigere Lösung getroffen werden können, indem, statt über die gesamte Grundstückslänge hinweg einen neuen Weg anzulegen, die Eingangsrampe mit der bisherigen Zuwegung verbunden worden und anstelle der Treppe zur Garageneinfahrt eine weitere Rampe angelegt worden wäre. Bei einer derartigen Gestaltung hätten die Kosten für die Trockenmauer vermieden werden können. Die Kläger haben dies durch eine Minderung der geltend gemachten Kosten um 1.500,- EUR in angemessener Form berücksichtigt; der Beklagte hat hinsichtlich der griffweisen Schätzung des nicht notwendigen Anteils der Kosten keine Einwendungen erhoben.
Zwar mindert sich im Gegenzuge die Bemessungsgrundlage der Steuerermäßigung für haushaltsnahe Handwerkerleistungen auf 4.194,- EUR. Dies wirkt sich jedoch auf die Höhe der Steuerfestsetzung nicht aus, weil den Klägern auch weiterhin der Höchstbetrag von 600,- EUR zusteht.
Die Berechnung der Steuern wird dem Beklagten gem. § 100 Abs. 2 Satz 2 EStG übertragen, weil die Ermittlung der festzusetzenden Steuer einen nicht unerheblichen Aufwand erfordern würde.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 151 Abs. 2 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.