Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 17.07.2014, Az.: 2 B 195/14

Bestimmung des Alters; forensische Altersbestimmung; Altersfeststellungsgutachten; Flüchtling; Inobhutnahme; Minderjährigkeit; Glaubhaftmachung; Prozessfähigkeit; Wiederinobhutnahme

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
17.07.2014
Aktenzeichen
2 B 195/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 42422
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

2. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt C. aus Göttingen wird abgelehnt.

Gründe

I.

Der Antragsteller erstrebt, im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes erneut in jugendamtliche Obhut genommen zu werden.

Er ist nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger islamisch-schiitischer Religions- und turkmenischer Volkszugehörigkeit. Am 13. Oktober 2013 reiste er in das Bundesgebiet ein und stellt einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt). In der Erstbefragung durch die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (LAB NI) und das Jugendamt des Antragsgegners am 15. Oktober 2013 gab er an, sein Vater sei in Afghanistan verschwunden und seine Mutter lebe in Mazar-e- Sharif. Er sei bis 2011 neun Jahre lang zur Schule gegangen, und zwar seit er sechs oder sieben Jahre alt gewesen sei. Vor der Ausreise aus Afghanistan im Jahre 2011 habe er bei mehreren Onkeln in Kabul gelebt. Ein Onkel habe ihm gesagt, dass er - der Antragsteller - (umgerechnet) am xxx geboren sei. Im Bundesgebiet lebten keine Verwandten. Das Protokoll der Befragung enthält zur Abschätzung des Lebensalters die Eintragung „vermutlich volljährig“. Ungeachtet dessen nahm das Jugendamt des Antragsgegners den Antragsteller am 15. Oktober 2013 in Obhut und brachte ihn jugendhilferechtlich unter. Ferner wurde auf Antrag des Jugendamts die elterliche Sorge der Kindseltern für den Antragsteller durch einstweilige Anordnung mit Beschluss des Amtsgerichts - Familiengerichts - Göttingen vom 17. Oktober 2013 - 46 F 213/13 EASO - für ruhend erklärt und dem Jugendamt als (Amts-)Vormund übertragen.

Gegenüber dem Jugendamt äußerte der Antragsteller am 13. November 2013, er besitze Ausweisdokumente, die er sich zuschicken lassen könne. Derartige Dokumente legte er jedoch nicht vor.

Wegen der bestehenden Zweifel an der Altersangabe veranlasste der Antragsgegner mit Einverständnis des Antragstellers eine rechtsmedizinische Altersfeststellung durch die Universitätsmedizin Göttingen (UMG), die am 20. November 2013 durchgeführt wurde. Sie umfasste neben einer Anamnese mit körperlicher Untersuchung eine zahnärztliche Untersuchung einschließlich Orthopantomogramm des Gebisses (dentaler Röntgenaufnahme) sowie eine Röntgenuntersuchung der linken Hand und eine Computertomographie-(CT-)Untersuchung der Sternoclaviculargelenke (Brustbein- Schlüsselbein-Gelenke). Aufgrund der Ergebnisse der forensischen Altersdiagnostik gelangte der koordinierende Gutachter Professor Dr. med. D., Direktor der Abteilung Rechtsmedizin der UMG, in seinem Gutachten vom 14. Februar 2014 zu dem Schluss, dass das Lebensalter des Antragstellers im Untersuchungszeitpunkt auf mindestens 19 Jahre einzuschätzen sei und das wahrscheinliche Lebensalter bei über 22 Jahren liegen dürfte. Die Richtigkeit der Angaben des Antragstellers (17 Jahre und 2 Monate) sei auszuschließen. Der Gutachter stützte sich dabei vor allem auf folgende Einzelbefunde: Der Antragsteller zeige das Bild eines körperlich voll entwickelten jungen Mannes. Es liege eine abgeschlossene Ausbildung der Reifezeichen (Lebensalter mindestens 17 Jahre) und der Zahnentwicklung (Endstadium H nach Demirjian; daher dentales Alter 22,7 Jahre, mit einer Standardabweichung von 1,9 Jahren; unter Berücksichtigung der zweifachen Standardabweichung ergebe sich daraus zu 95% ein Lebensalter von mindestens 18,9 Jahren) vor; die Röntgenuntersuchung der linken Hand habe eine praktisch vollständige Ausreifung des Skeletts (mittleres Lebensalter von 19 Jahren, bei einer Standardabweichung von einem Jahr; daraus folge zu 95% ein Lebensalter von 17 bis 21 Jahren) ergeben; die CT-Untersuchung der Brustbein- Schlüsselbeingelenke zeige zwar eine noch nicht vollständig abgeschlossene Entwicklung; allerdings ergebe sich aufgrund des - beidseitig - festgestellten Stadiums 3c (von 5 Stadien) nach der Methode Kellinghaus ein Lebensalter von 19,7 bis fast 23 Jahren. Ethnische Einflüsse seien aufgrund der Zugehörigkeit eines Großteils der afghanischen Bevölkerung zum „kaukasoiden“ Kreis - der Referenzpopulation der zahnmedizinischen und radiologischen Studien - nicht zu verzeichnen. Sozioökonomische Einflüsse - die allenfalls zu einer Reifungsverzögerung führen könnten - wirkten sich jedenfalls nicht zum Nachteil des Antragstellers aus.

Da dem Antragsgegner das Ergebnis der Altersfeststellung bereits vor Fertigstellung des Gutachtens vorlag, verfügte er mit Bescheid vom 24. Januar 2014, dass die Inobhutnahme wegen der Volljährigkeit des Antragstellers am selben Tage beendet werde. Der Bescheid wurde dem Antragsteller am 27. Januar 2014 durch den jugendamtlich bestellten Wohnbetreuer bekanntgegeben.

Das Amtsgericht - Familiengericht - Göttingen teilte dem Antragsteller mit Blick auf das Altersfeststellungsgutachten in dem Sorgerechtsverfahren NZS 46 F 69/14 SO unter dem 12. März 2014 mit, es sei beabsichtigt, den Eilbeschluss über das Ruhen der elterlichen Sorge (vom 17. Oktober 2013) aufzuheben. Parallel hierzu wurde das Vormundschaftsverfahren NZS 46 F 214/13 VM geführt. Über den Ausgang dieser Verfahren ist hier nichts bekannt geworden.

Unter dem 14. April 2014 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner, im Wege des § 44 Abs. 2 SGB X (Überprüfungsverfahren) den Bescheid vom 24. Januar 2014 ex nunc zurückzunehmen. Der Antragsgegner sei bei der Aufhebung der Inobhutnahme von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen. Das Altersfeststellungsgutachten, das zur Volljährigkeit gelange, sei wissenschaftlich nicht valide und trage daher einen Ausschluss seiner - des Antragstellers - Minderjährigkeit nicht. Die allgemeine körperliche Untersuchung sowie die Röntgenuntersuchung der linken Hand seien zu einem Alter von mindestens 17 Jahren gelangt, was einer Minderjährigkeit nicht entgegenstehe. Gegen die Aussagekraft der zahnärztlichen Untersuchung mit dentalem Röntgenbild sowie der CT-Untersuchung der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke würden in der medizinischen Fachliteratur erhebliche methodische Bedenken erhoben, die dazu führten, dass diese Verfahren nicht für die Feststellung eines Mindestalters von 18 Jahren geeignet seien. Dies gelte insbesondere für die Würdigung des Entwicklungsgrades der Weisheitszähne, die wegen der zur Zeit gängigen Referenzdaten zu zahlreichen Altersüberschätzungen von bis zu 6 Jahren führen könne, weil ein Stadium zwischen G und H bereits vor der Vollendung des 18. Lebensjahres erreichbar sei; aber auch für die Bestimmung des Knochenreifestadiums nach Kellinghaus, aus dem im Altersbereich von potentiell Minderjährigen keine verwertbaren Informationen zu dem tatsächlichen chronologischen Alter gewonnen werden könnten. Überhaupt könne allenfalls ein biologisches, kein chronologisches Alter bestimmt werden. Die ethnischen Einflüsse auf die Knochen- und Zahnreifung würden in der Fachliteratur äußerst kontrovers behandelt; jedenfalls aber könne ein nennenswerter Einfluss auf die Skelettreifung nicht - wie im Gutachten geschehen - verneint werden. Der Antragsteller bezog sich zur Stützung seiner Einwände auf verschiedene wissenschaftliche Veröffentlichungen und Äußerungen, darunter auf eine Stellungnahme von Professor Dr. med. Mohnike, eines Pädiatrischen Endokrinologen und Diabetologen des Universitätsklinikums Magdeburg, vom 6. März 2013 sowie auf eine biometrische Stellungnahme des PD Dr. Ponocny (Department for Applied Statistics and Economics) der MODUL Private University Vienna (Wien) und der Dr. Ponocny-Seliger (Empirische Sozialforschung) vom 30. September 2013. Hierin wird vor allem die 2010 durchgeführte Studie von Kellinghaus unter statistischen Aspekten einer kritischen Würdigung unterzogen: Die Stichprobe sei zu klein, keine Zufallsauswahl und nicht repräsentativ für die Zielpopulation. Die erforderliche Verblindung der beteiligten Rater sei fraglich. Eine Replikation der Studie in vergleichbarem Setting habe noch nicht stattgefunden. Eine von Bassed et al. 2011 - allerdings an Verstorbenen - durchgeführte australische Untersuchung habe bei 17-jährigen Männern zu 6,1% Stadium 4 und zu 3% sogar Stadium 5 festgestellt. Für möglich gehalten werde ferner, dass es unter 18-jährige Personen in Stadium 3c gebe, die in der von Kellinghaus gezogenen Stichprobe nur nicht abgebildet worden seien. Sei nach alledem eine Minderjährigkeit nicht ausgeschlossen, müsse bei Berücksichtigung höherrangigen Rechts - etwa der UN-Kinderrechtskonvention - im Interesse des Kindeswohls das niedrigste in Frage kommende Alter zugrunde gelegt werden, das hier noch eine Minderjährigkeit begründe. Der Antragsteller bat sich eine Entscheidung über den Überprüfungsantrag bis zur 19. Kalenderwoche 2014 aus.

Unter dem 28. April 2014 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit, für die Prüfung der eingereichten Unterlagen würde noch etwas Zeit benötigt; und man werde unaufgefordert möglichst zeitnah auf die Angelegenheit zurückkommen.

Am 19. Mai 2014 hat der Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Er habe einen Anordnungsanspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 24. Januar 2014 und sei wieder in Obhut zu nehmen. Bereits mit der von ihm selbst abgegebenen eidesstattlichen Versicherung vom 20. Mai 2014, aus der sich als sein Geburtsdatum der 20. September 1996 ergebe, sei seine Minderjährigkeit glaubhaft gemacht. Das gegenläufige Altersfeststellungsgutachten beruhe auf einer nicht validen Altersfeststellungsdiagnostik, wie über die im Verwaltungsverfahren erhobenen Einwände hinaus aus der Veröffentlichung „Strittiges Alter - strittige Altersdiagnostik“ von Nowotny/Eisenberg/Mohnike im Deutschen Ärzteblatt 2014, Heft 18, A 786 ff. folge. Darin wird dem Handröntgen die Eignung eines Nachweises von Volljährigkeit abgesprochen, weil wegen der beim Knochenalter geltenden doppelten Standardabweichung von 28 Monaten bei 16- bis 20-jährigen Probanden auch bei vollständigem Schluss der Wachstumsfugen (Epiphysenfugen) ein chronologisches Alter möglich sei. Die CT- Untersuchung der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke sei zur Altersschätzung ungeeignet, weil sie wegen zu geringer Probandenzahlen für einige Altersgruppen keine zuverlässigen Mittelwerte und Standardabweichungen angeben könne; überdies könne die Altersdefinition der linken und rechten Schlüsselbeinepiphyse bei demselben Individuum um bis zu drei Jahre differieren, was die Variabilität dieser Methode deutlich mache. Das Auftreten von Pubertätsmerkmalen bei gesunden Jugendlichen weise eine Schwankungsbreite von 5 Jahren oder mehr auf, so dass auch körperliche Untersuchungen nicht hinreichend verlässlich seien. Wichtiger sei es, der psychischen Reife des Betroffenen mehr Beachtung zu schenken. In zwei Parallelverfahren habe sich ferner herausgestellt - so der Antragsteller weiter -, dass die von Professor D. verfassten Altersfeststellungsgutachten erheblich nach oben von denjenigen Geburtsdaten der Betroffenen abgewichen seien, die in später vorgelegten, als echt bewerteten Nationalpässen eingetragen gewesen seien. Professor D. sei ferner jahrelang bei der Anwendung der Methode Kellinghaus im Stadium 3 von einer zu geringen Standardabweichung ausgegangen. Untersuchungen wie die im vorliegenden Fall durchgeführten würden auch von anderen Gerichten - etwa dem OLG Oldenburg und dem AG Wilhelmshaven - als nicht geeignet angesehen, eine genaue Altersfeststellung zu ermöglichen. Auch ein Anordnungsgrund sei gegeben, weil er - der Antragsteller - nicht zuletzt wegen seines außerordentlich bedenklichen psychischen Zustandes dringend einer Betreuung bedürfe, wie sie im Rahmen einer erneuten Inobhutnahme erfolgen würde. Hierzu legt er den Bericht des Arztes E. vom Zentrum für Psychosoziale Medizin - Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie - der UMG vom 6. Mai 2014 vor, ausweislich dessen er u.a. an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide und sich in einer schweren depressiven Episode befinde. Auch sein Prozessbevollmächtigter könne seine fehlende „Alltagstauglichkeit“ aufgrund eigenen Eindrucks bestätigen.

Der Antragsteller beantragt,

1. dem Antragsgegner aufzugeben, ihn vorläufig - bis zur Entscheidung in der Hauptsache - wieder in Obhut zu nehmen,

2. ihm für dieses Verfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt C. aus Göttingen zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Er verneint weiterhin einen Anordnungsanspruch auf Wiederinobhutnahme und verteidigt das Altersfeststellungsgutachten unter anderem unter Verweis auf diverse ergänzende Stellungnahmen Professor D. s (u.a. vom 29. April 2014) und der Arbeitsgemeinschaft forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (DGRM). Hierin wird eingeräumt, die körperliche Untersuchung, die Zahnuntersuchung inkl. Röntgen sowie das Handröntgen allein seien nicht geeignet, ein Lebensalter von über 18 Jahren sicher festzustellen. Entscheidend komme es aber auf das Ergebnis der CT-Untersuchung der Brustbein-Schlüsselbeingelenke an. Im Übrigen seien alle vier Untersuchungen - den Empfehlungen der AGFAD der DGRM folgend - durch den Beschluss der Kammer vom 16. Dezember - 2 B 269/11 - als für die Altersfeststellung geeignet angesehen worden. Entscheidende Abweichungen des biologischen vom chronologischen Alter drohten nicht durch ethnische Einflüsse, sondern allenfalls durch sozioökonomische Faktoren; diese wirkten sich jedoch nicht zum Nachteil des Probanden aus. Ein psychosoziales Gutachten liefere keine genaueren Erkenntnisse. Soweit der Antragsteller auf Parallelverfahren verweise, so der Antragsgegner weiter, folge daraus für das vorliegende Verfahren nichts, weil der Antragsteller anders als dort keine afghanischen Identitätsdokumente vorgelegt habe. Im Übrigen bestünden beim Nds. Innenministerium seit langem erhebliche Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Geburtsdaten, die in - echten - afghanischen Reisepässen eingetragen seien. Ein Anordnungsgrund sei nicht ersichtlich, weil aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens des den Antragsteller behandelnden Arztes E. zwischenzeitlich beim Amtsgericht Göttingen die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung für den Antragsteller bezogen auf den Aufgabenkreis Gesundheitssorge beantragt worden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Antragsgegners Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der gerichtlichen Entscheidungsfindung und Beschlussfassung gewesen.

II.

Die vom Antragsteller gestellten Anträge sind abzulehnen.

1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg. a) Er ist zulässig nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO.

Die Statthaftigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen (Regelungs-)Anordnung scheitert im vorliegenden Fall nicht an § 123 Abs. 5 VwGO, weil ein Vorrang des vorläufigen Rechtsschutzes nach §§ 80, 80a VwGO nicht gegeben ist. Denn in der Hauptsache (Antrag vom 14. April 2014) verfolgt der Antragsteller einen Anspruch auf regelndes positives Tun in Gestalt des Erlasses eines begünstigenden Verwaltungsakts (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. Oktober 2009 - OVG 6 S 33.09 -, juris Rn. 5), nämlich auf Wiederinobhutnahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII durch den Antragsgegner. Er wendet sich nicht etwa gegen einen noch nicht bestandskräftigen belastenden Verwaltungsakt, gegen den Rechtsschutz in der Hauptsache im Wege der Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1, 1. Alt. VwGO und folglich vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu suchen wäre.

Unschädlich ist es, dass er mit seinem Überprüfungsantrag vom 14. April 2014 der Formulierung nach lediglich die Rücknahme des Bescheides des Antragsgegners vom 24. Januar 2014 begehrt hat. Mit diesem Bescheid hat der Antragsgegner zwar formal verfügt, dass die Inobhutnahme des Antragstellers am selben Tage beendet werde. Nur scheinbar beschränkt sich das Begehren des Antragstellers in der Hauptsache damit jedoch auf die Geltendmachung eines Anspruchs auf Aufhebung des von ihm (wegen der Beendigung einer Begünstigung) als belastend empfundenen, aber inzwischen bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakts im Wege des § 44 Abs. 2 SGB X, durch welche im Wege eines actus contrarius die angeblich vorher bestanden habende Inobhutnahme wiederauflebe. In Wahrheit hatte die am 15. Oktober 2013 erfolgte Inobhutnahme des Antragstellers - eine Notmaßnahme - bereits zu einem früheren Zeitpunkt kraft Gesetzes (§ 42 Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII) geendet, nämlich als der Antragsteller dem Amtsvormund beim Jugendamt des Antragsgegners als neuem Personensorgeberechtigten übergeben wurde, der durch Beschluss des Amtsgerichts - Familiengerichts - Göttingen vom 17. Oktober 2013 - 46 F 213/13 EASO - bestimmt worden war (vgl. zu den Wirkungen einer solchen Übergabe den Beschluss der Kammer vom 30. April 2014 - 2 B 146/14 -, S. 4 des Beschlussabdrucks). Eine etwaige spätere Aufhebung des familiengerichtlichen Beschlusses durch das Amtsgericht in Ansehung des Altersfeststellungsgutachtens vom 14. Februar 2014 wäre unerheblich, weil sie an der gesetzlichen Beendigung der Inobhutnahme nichts mehr zu ändern vermöchte, namentlich nicht zu einem Wiederaufleben der Inobhutnahme führen könnte. Nach alledem vermochte der nach der Übergabe im Oktober 2013 erlassene Bescheid des Antragsgegners vom 24. Januar 2014 - der als bloßer Formal-Verwaltungsakt einzustufen ist - eine wirksame Inobhutnahme des Antragstellers mangels vorherigen Bestehens nicht mehr zu beseitigen. Der Begründung des Überprüfungsantrags vom 14. April 2014 kann jedoch nach der gebotenen Auslegung zweifelsfrei jedenfalls die Zielrichtung des Antragstellers entnommen werden, nicht nur im Wege eines actus contrarius (mittelbar) als in Obhut genommen angesehen, sondern erforderlichenfalls (unmittelbar) erneut rechtlich in Obhut genommen zu werden. Hierauf beschränkt sich allerdings bei weitestmöglicher Auslegung das Begehren des Antragstellers. Für die Kammer ist nicht erkennbar, dass es ihm mit dem in der Hauptsache gestellten Überprüfungsantrag, der die äußerste Grenze des zulässigen Eilrechtsschutzbegehrens markiert, auch um eine bloße tatsächliche Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung bis zur Durchführung einer (weiteren?) Altersfeststellung gehen könnte. Da hier die im Beschluss der Kammer vom 16. Dezember 2011 - 2 B 269/11 - geforderten medizinischen Altersfeststellungsuntersuchungen bereits durchgeführt worden sind, ist auch eine andere Konstellation als diejenige gegeben, die dem erwähnten Beschluss zugrunde gelegen hat.

Für das vorliegende Eilverfahren ist der Antragsteller nach jeder Betrachtungsweise prozessfähig und konnte sich daher nach § 67 Abs. 2 und Abs. 6 VwGO auch durch einen selbstgewählten (gewillkürten) Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Die Prozessfähigkeit ist vom Gericht nach § 62 Abs. 4 VwGO i.V.m. § 56 Abs. 1 ZPO in jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. Dabei kommt es im vorliegenden Verfahren nicht darauf an, ob der Antragsteller nach dem Prozessrecht seines Heimatstaates (Afghanistan) in einem entsprechenden Verfahren vor den Heimatgerichten prozessfähig wäre. Denn nach § 62 Abs. 4 VwGO i.v.m. § 55 ZPO ist ein ausländischer Staatsangehöriger für den Inlandsprozess auch dann prozessfähig, wenn zwar das Heimatrecht (lex patriae) ihm diesen Status verweigert, das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht (lex fori) aber zubilligt. Der nach seinem Heimatrecht Prozessunfähige bedarf also für einen Rechtsstreit im Inland keines gesetzlichen Vertreters, wenn ein Deutscher in derselben Lage prozessfähig wäre. Hieran gemessen ist der Antragsteller nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I teilweise handlungsfähig und daher nach deutschem Recht für das vorliegende Verfahren partiell prozessfähig nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann derjenige Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen, der das 15. Lebensjahr vollendet hat. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt. Der Antragsteller ist nach eigenem Bekunden 17 Jahre alt; der Antragsgegner hält ihn für volljährig; für ein Unterschreiten der Altersgrenze bestehen keine Anhaltspunkte. Dem Antragsteller geht es auch um die Entgegennahme einer Sozialleistung im Sinne von § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I. Zwar handelt es sich bei der Inobhutnahme selbst nicht um eine Leistung im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB VIII, sondern gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII um eine andere Aufgabe der Jugendhilfe und damit im Kern um eine Aufgabe der Eingriffsverwaltung (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 2006 - III ZR 164/05 -, juris Rn. 12). Soweit der Staat zur Inobhutnahme des Kindes oder Jugendlichen im Rahmen des staatlichen Wächteramts verpflichtet ist, besteht jedoch zugleich ein korrespondierender Leistungsanspruch des Kindes oder Jugendlichen gemäß § 42 Abs. 1 SGB VIII sowie auf die Gewährung der Hilfen nach § 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII. Insoweit liegt eine Sozialleistung im Sinne des § 11 SGB I vor, und zwar zumindest eine Dienstleistung gemäß § 11 Satz 2 SGB I als persönliche und erzieherische Hilfe (vgl. auch - einen begünstigenden Verwaltungsakt annehmend - OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. Oktober 2009 - OVG 6 S 33.09 -, juris Rn. 5; vgl. hierzu auch insgesamt OVG Hamburg, Beschluss vom 9. Februar 2011 - 4 Bs 9/11 -, juris Rn. 21 ff., m.w.N., und Beschluss der Kammer vom 16. Dezember 2011 - 2 B 269/11 -, S. 3 des Beschlussabdrucks).

b) Der Eilantrag ist jedoch unbegründet.

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung - vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen - nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern, oder aus anderen Gründen erforderlich ist. Das in der Hauptsache verfolgte Recht (Anordnungsanspruch) und die besondere Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft (§ 294 ZPO) zu machen. Das bedeutet, dass das Vorliegen der einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund begründenden Umstände in der Weise dargetan sein oder werden muss, dass das Gericht von deren überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgehen kann.

Dies ist im vorliegenden Fall nicht gelungen. Ob ein Anordnungsgrund gegeben ist, kann dahinstehen. Denn jedenfalls fehlt es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs aus § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Nach dieser Vorschrift ist das Jugendamt des Antragsgegners berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn

1. das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder

2. eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und

a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder

b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder

3. ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten

Wie der Wortlaut zeigt, kann nach allen Alternativen dieser Vorschrift nur ein Kind oder ein Jugendlicher, nicht jedoch ein junger Volljähriger (vgl. § 7 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 SGB VIII) in Obhut genommen werden. Es muss für eine Hauptsacheentscheidung also feststehen, dass noch Minderjährigkeit gegeben ist, und für den Erlass einer einstweiligen Anordnung muss dies zumindest im Sinne von § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht sein (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 29. August 2005 - 12 B 1312/05 -, NVwZ-RR 2006, 574, juris Rnrn. 1 und 3). Ein anderes Verständnis, nach dem trotz bestehender Sachverhaltszweifel aufgrund der Eigenangaben des Ausländers die Minderjährigkeit gleichsam fingiert wird und die Inobhutnahme damit letztlich ohne zureichende Tatsachenkenntnis erfolgt, ist rechtlich nicht zulässig. Im Zuge einer solchen Maßnahme müsste das Jugendamt die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers für einen möglicherweise bereits Volljährigen veranlassen. Nach § 42

Abs. 2 Satz 4 SGB VIII übt das Jugendamt während der Inobhutnahme das Recht der Beaufsichtigung, Erziehung und Aufenthaltsbestimmung aus. Diese Aufgaben kann und darf das Jugendamt nicht wahrnehmen, wenn die Volljährigkeit des Betroffenen ernsthaft in Betracht kommt. Möchte eine Person, deren Minderjährigkeit entsprechenden Zweifeln unterliegt, beispielsweise abends nicht zur Einrichtung zurückkehren, sondern anderswo übernachten, ist der Antragsgegner ersichtlich rechtlich nicht befugt, eine Rückkehr nach Maßgabe von § 42 Abs. 6 SGB VIII zu erzwingen. Dies setzte die Minderjährigkeit voraus (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 14. Februar 2011 - 4 Bs 282/10 -, juris Rn. 18).

Eine Inobhutnahme erfordert daher in jedem Fall, dass der Inobhutzunehmende das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Das Vorliegen dieser notwendigen positiven Anspruchsvoraussetzung, hinsichtlich derer der Antragsteller in der dem Eilantrag nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zugrunde liegenden Verpflichtungssituation die materielle Beweislast trägt, ist nicht überwiegend wahrscheinlich. Im Gegenteil sprechen nach Einschätzung der Kammer noch immer mehr Momente gegen als für eine Minderjährigkeit des Antragstellers.

aa) Das Altersfeststellungsgutachten der UMG (Professor D.) vom 14. Februar 2014 gelangt in der Gesamtschau der vier am 20. November 2013 durchgeführten Untersuchungen (allgemeine körperliche Untersuchung mit Reifezeichenbestimmung, zahnärztliche Untersuchung mit Orthopantomogramm, Röntgenuntersuchung der linken Hand und CT-Untersuchung der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke) namentlich wegen des Ergebnisses der zweiten und der vierten Untersuchung zu einem Lebensalter von mindestens 19 Jahren am Untersuchungstag. Die Einwände des Antragstellers im Einzelnen richten sich nicht gegen die Anwendung einer bestimmten Altersfeststellungsmethode durch Professor D. im Einzelfall und die Ergebnisfindung, sondern kritisieren vielmehr die zugrunde gelegten Untersuchungsmethoden als generell ungeeignet, Volljährigkeit und Minderjährigkeit verlässlich voneinander abzugrenzen.

(1) Mit diesen Einwänden ist es dem Antragsteller jedoch bereits nicht gelungen, die Methoden und das darauf beruhende Ergebnis der Altersfeststellung nachhaltig zu erschüttern. Hierzu ist mit dem Antragsgegner zunächst zu bemerken, dass die Kammer die genannten Untersuchungen (mit Ausnahme der Handwurzeluntersuchung, die jedoch im vorliegenden Fall ebenso wie die körperliche Untersuchung isoliert betrachtet zu einem ambivalenten Ergebnis - mindestens 17 Jahre - geführt hat) unter Übertragung der „Empfehlungen für die Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren“, die von der AGFAD der DGRM aufgestellt worden sind, in ihrem Beschluss vom 16. Dezember 2011 - 2 B 269/11 -, S. 6 ff. des Beschlussabdrucks, grundsätzlich für fachwissenschaftlich vertretbar und geeignet erachtet hat, das Lebensalter hinreichend verlässlich festzustellen. Hieran hält die Kammer auch für das vorliegende Eilverfahren fest. Das Vorbringen des Antragstellers, das unter Bezugnahme auf gegenteilige medizinisch-fachliche Äußerungen erfolgt, stellt die von der UMG angewandte Methode der Altersfeststellung in Bezug auf das Zahnröntgen und die - von Professor D. als ausschlaggebend erachtete - Computertomographie der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke nicht überzeugend als methodisch nicht valide in Frage.

Dass diese Diagnostik in der medizinischen, statistischen und soziologischen Fachliteratur kontrovers diskutiert wird, führt nicht ohne Weiteres dazu, dass von der Unvertretbarkeit ihrer Methode ausgegangen werden müsste. Dies gilt insbesondere für den auf die CT-Untersuchung bezogenen Vorwurf, die zugrunde liegenden Studien von Kellinghaus hätten zu geringe und nicht repräsentative Probandenzahlen aufgewiesen, eine Verblindung sei nicht gewährleistet gewesen und eine bestätigende Wiederholung unter gleichen Bedingungen sei noch nicht erfolgt. Soweit auf mögliche Unterschiede zwischen der Altersdefinition zwischen der linken und rechten Schlüsselbeinepiphyse hingewiesen worden ist, erscheinen diese hier nicht relevant, weil bei dem Antragsteller beidseitig dasselbe Ossifikationsstadium 3c bestimmt worden ist. Die erwähnte australische Studie von Bassed et al., die teilweise (in insgesamt 9,1% der Fälle) auch bei 17-jährigen Männern zu einem Stadium 4 oder 5 gelangt sei, hält die Kammer nicht für erheblich, weil sie an Verstorbenen und nicht an Lebenden durchgeführt worden ist. Der Annahme der Autoren PD Dr. Ponocny/Dr. Ponocny-Seliger, es sei möglich, dass es unter 18-jährige Personen mit einem Stadium 3c gebe, die in der von Kellinghaus gezogenen Stichprobe nur nicht abgebildet worden seien, fehlt es an einer überzeugenden Begründung.

Dass in früheren Gutachten Professor D. s bezogen auf die CT-Untersuchung der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke bei einem festgestellten Stadium 3 nach Kellinghaus (offenbar wegen eines Tabellenfehlers) von einer unzutreffend geringen Standardabweichung ausgegangen worden sein soll, ist für die hier in Rede stehende Untersuchung vom 20. November 2013 irrelevant, weil ein etwaiger derartiger Fehler jedenfalls hier nicht (mehr) aufgetreten ist. Denn dieser unzutreffende Wert findet bereits seit mehreren Jahren keine Verwendung mehr, wie sich bereits aus einer Stellungnahme Professor D. s vom 28. Juni 2012 (Bl. 109 f. der GA) ergibt.

Der Vorwurf des Antragstellers, Professor D. habe unzulässigerweise ethnische Einflüsse auf ein festgestelltes biologisches Alter generell ausgeschlossen, verfängt nicht. Denn dem Gutachten vom 14. Februar 2014 lässt sich eine derartige Aussage gar nicht entnehmen. Vielmehr wird dort ein ethnischer Einfluss im vorliegenden Fall des Antragstellers verneint, weil dieser - wie ein Großteil der afghanischen Bevölkerung - dem „kaukasoiden“ Kreis entstamme, aus dem sich die Referenzgruppe gespeist habe. Diese Prämisse trifft gerade im Fall des Antragstellers zu, der als ethnischer Turkmene klar dem „kaukasoiden“ Kreis zuzuordnen ist. Soweit in anderen Verfahren, etwa bei ethnischen Hazara, Bedenken gegen eine Übertragbarkeit der Referenzdaten erhoben wurden, sind diese hier mithin nicht einschlägig.

Soweit hinsichtlich des Zahnröntgens vorgetragen wird, ein Reifestadium der Weisheitszähne zwischen G und H könne bereits vor der Vollendung des 18. Lebensjahres erreicht werden, so dass diese Methode zu massiven Altersüberschätzungen führe, erscheint dies im vorliegenden Fall nicht erheblich, denn bei dem Antragsteller ist bereits das Endstadium H festgestellt worden.

Aus einer Abweichung der von Professor D. in zwei Parallelverfahren durchgeführten Altersfeststellungen von in dortigen Pässen eingetragenen Geburtsdaten lässt sich schließlich schon wegen der zu geringen Zahl an Vergleichsfällen nicht auf eine grundsätzliche Nichteignung dieser Methoden schließen. Einer Ergründung der Praxis und inhaltlichen Verlässlichkeit der Eintragungen von Geburtsdaten in afghanische Identitätsdokumente bedarf es deshalb nicht.

Das Vorbringen, andere Gerichte hätten die von Professor D. angewandte Altersfeststellungsmethode für ungeeignet angesehen, trägt nichts aus. Im vom Amtsgericht - Familiengericht - Wilhelmshaven (Beschluss vom 3. Juni 2013 - 16 F 461/12 SO -) entschiedenen Fall wurde einer vorgelegten, nur eine Jahresangabe enthaltenen Geburtsurkunde aufgrund einer Zweifelsregel größere Bedeutung beigemessen als dem Altersfeststellungsgutachten, das sich offenbar nicht auf eine aus dem „rein kaukasoiden“ Kreis stammende Person bezogen hatte. In dem Fall, der durch den Beschluss des OLG Oldenburg vom 3. August 2012 - 14 UF 65/12 - entschieden wurde, waren radiologische Untersuchungen im Gebiss- und Schlüsselbeinbereich gar nicht durchgeführt worden, weil der dortige Beteiligte sich diesen verweigert hatte und das Gericht eine Obliegenheit, sich derartigen Untersuchungen zu unterziehen, verneinte. Der zu erwartende Erkenntnisgewinn solcher Untersuchungen wurde ausdrücklich offengelassen.

(2) Im Übrigen werden die Angriffe gegen das Altersfeststellungsgutachten vom 14. Februar 2014 von vornherein ausdrücklich nur mit der Zielrichtung geführt, aufgrund dieses Gutachtens werde eine Minderjährigkeit nicht ausgeschlossen. Dies reicht für die Zwecke des Eilverfahrens nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO jedoch nicht aus. Selbst wenn also die Angriffe Zweifel an dem dort gefundenen Ergebnis weckten, wären Minder- und Volljährigkeit des Antragstellers derzeit allenfalls gleichermaßen wahrscheinlich (sog. Nullhypothese i.S.d. § 286 ZPO i.V.m. § 173 Satz 1 VwGO); d.h. ein Überwiegen zugunsten der Minderjährigkeit wäre auch dann nicht zu verzeichnen. Ein gegenteiliges Altersfeststellungsgutachten, das unter Vermeidung der von ihm als wissenschaftlich invalide gerügten Mängel zu seiner Minderjährigkeit gelangte, legt der Antragsteller nicht vor.

bb) Weitere, zu einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Minderjährigkeit führende Darlegungen und Momente fehlen.

(1) Der Antragsteller des vorliegenden Eilverfahrens hat - anders als die von ihm erwähnten Aktivbeteiligten zweier Parallelverfahren - keine beweiskräftigen Urkunden (etwa eine Taskira [Geburtsurkunde] oder einen afghanischen Nationalpass) vorgelegt, aus denen sich seine Minderjährigkeit mit der für eine Glaubhaftmachung hinreichenden Wahrscheinlichkeit ergibt. Dies ist umso unverständlicher, als er am 13. November 2013 gegenüber dem Jugendamt des Antragsgegners erklärt hat, er habe Ausweispapiere, die er sich zuschicken lassen könne. Aufgrund seiner Angaben im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt am 3. April 2014, deren Protokoll seitens des Antragstellers im Eilverfahren vorgelegt worden ist (Bl. 157 f. der GA), geht die Kammer davon aus, dass es sich bei dem erwähnten Ausweispapier um eine Geburtsurkunde handelt, die der Antragsteller in Kabul vergessen haben will.

(2) Die biographischen Angaben des Antragstellers, die er in der Erstbefragung am 15. Oktober 2013 sowie später beim Bundesamt im April und Juni 2014 gemacht hat, ließen sich mit dem von ihm vorgetragenen Lebensalter von knapp unterhalb von 18 Jahren nur bei großzügiger Betrachtung vereinbaren und erscheinen daher ambivalent und unergiebig. Danach hat der Antragsteller Afghanistan Ende 2011 nach neunjährigem Besuch der Schule, in die er im Alter von „6 oder 7 Jahren“ (vgl. seine Angaben in der Erstbefragung vom 15. Oktober 2013) eingeschult worden war, verlassen. Zuletzt will er das Gymnasium besucht haben (Bl. 158 der GA). Daraus ergibt sich für 2011 ein Lebensalter von 15 bis 16 Jahren. Das hieße, der Antragsteller wäre im Jahre 2013 17 bis 18 Jahre alt gewesen und nunmehr 18 bis 19 Jahre alt. Dass mehr für eine Minderjährigkeit als für eine Volljährigkeit spräche, folgt aus diesen sehr vage gehaltenen Angaben nach Einschätzung der Kammer nicht.

(3) Die vom Antragsteller abgegebene eidesstattliche Versicherung vom 20. Mai 2014, die gemäß § 294 Abs. 1 ZPO formal grundsätzlich ein taugliches Mittel der Glaubhaftmachung darstellt, ist vorliegend ihrem Inhalt nach ebenfalls nicht geeignet, zu einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit eigener Minderjährigkeit zu führen. Denn darin versichert der Antragsteller lediglich, „Verwandte“ in Afghanistan (insoweit inkonkreter als bei der Erstbefragung am 15. Oktober 2013, in der noch von einem „Onkel“ die Rede war) hätten ihm gesagt, dass er (umgerechnet) am 20. September 1996 geboren worden sei. Selbst unter Berücksichtigung der Besonderheit, dass eine unmittelbare eigene Erinnerung und Bekundung zu den Umständen und dem Zeitpunkt der eigenen Geburt naturgemäß ausscheidet, erscheint der Kammer diese nur mittelbare (vom Hörensagen zeugende) Versicherung wegen ihrer Vagheit als zu wenig beweiskräftig. Der Antragsteller bekundet lediglich, etwas zu seinem Geburtsdatum gehört zu haben; die Versicherung gibt jedoch keinerlei Aufschluss darüber, wer genau Urheber der entsprechenden Äußerung gewesen sei, wann die Äußerung getätigt worden sein soll und weshalb der äußernde Verwandte die genaue Kenntnis des Geburtsdatums gehabt habe. Der Kammer ist es im Übrigen angesichts des Vortrags des Antragstellers, eine Geburtsurkunde besessen zu haben, von vornherein nicht nachvollziehbar, weshalb die eidesstattliche Versicherung des Antragstellers nicht wenigstens dahin lautet, in der Geburtsurkunde habe er selbst die Eintragung des (umgerechneten) Geburtsdatums „20. September 1996“ oder einen ähnlichen auf das Geburtsdatum hindeutenden Eintrag wahrgenommen. Dass der Antragsteller des Lesens in der Sprache Dari kundig sein muss, folgt für die Kammer bereits aus seiner im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt am 3. April 2014 (Bl. 158 der GA) gemachten Angabe, er habe in Afghanistan 9 Jahre lang die Schule, und zwar zuletzt das Gymnasium, besucht.

(4) Der Antragsteller ist schließlich auch nicht deshalb als minderjährig anzusehen, weil er in der Erstbefragung vom 15. Oktober 2013 erklärt hat, am 20. September 1996 geboren und damit noch minderjährig zu sein, und an dieser Erklärung bis heute festhält. Zwar ist nach § 33a Abs. 1 Satz 1 SGB I in den Fällen, in denen Rechte und Pflichten davon abhängig sind, dass eine bestimmte Altersgrenze erreicht oder nicht überschritten ist, das Geburtsdatum maßgebend, das sich aus der ersten Angabe des Berechtigten oder Verpflichteten oder seiner Angehörigen gegenüber einem Sozialleistungsträger ergibt. Diese Norm darf aber nicht als einseitiges Altersbestimmungsrecht des Betroffenen missverstanden werden. Die Behörde ist auch dann, wenn kein Fall des § 33a Abs. 2 SGB I vorliegt, nicht zwangsläufig an das behauptete Geburtsdatum gebunden. Nur wenn besondere Umstände, die eine Aufklärung nahelegen, fehlen, wird die Behörde das genannte Datum regelhaft als rechtlich verbindlich anzusehen haben (vgl. Beschluss der Kammer vom 16. Dezember 2011 - 2 B 269/11 -, S. 5 des Beschlussabdrucks, im Anschluss an OVG Hamburg, Beschluss vom 9. Februar 2011 - 4 Bs 9/11 -, juris Rn. 60). Solche Umstände liegen aber im vorliegenden Fall wegen der beim Antragsgegner zu Recht aufgekommenen Zweifel an der Richtigkeit der Altersangaben des Antragstellers vor. Dass das Bundesamt den Antragsteller am 4. Juni 2014 durch seine Sonderbeauftragte für unbegleitete Minderjährige und traumatisierte Flüchtlinge hat anhören lassen, trägt nichts aus. Die Niederschrift zu dieser Anhörung weist - wie auch die vorherigen vom 3. April 2014 - ein von den Angaben des Antragstellers abweichendes Geburtsdatum (23. Januar 1996) aus. Aus der bislang fehlenden Autorisierung dieser Protokolle durch den Antragsteller folgt nichts.

cc) Selbst wenn - was hier nach alledem fernliegt - Minderjährigkeit und Volljährigkeit gleichermaßen wahrscheinlich wären, schiede der Erlass einer auf vorläufige Wiederinobhutnahme gerichteten einstweiligen Anordnung aus. Eine Änderung des im Eilverfahren nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO anzulegenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabes aufgrund höherrangigen Rechts kommt nicht in Betracht.

(1) Das vom Prozessbevollmächtigten des Antragstellers im Überprüfungsverfahren erwähnte Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (sog. UN-Kinderrechtskonvention - UN-KRK -; vgl. Zustimmungsgesetz des Bundes vom 17. Februar 1992, BGBl. 1992 II, S. 121), welches für die Bundesrepublik Deutschland am 5. April 1992 in Kraft getreten ist (Bekanntmachung vom 10. Juli 1992, BGBl. 1992 II, S. 990), zwingt entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht dazu, bei etwaigen offenen Erfolgsaussichten im Zweifel von einer Minderjährigkeit des Betroffenen auszugehen. Im Sinne dieses Übereinkommens ist ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt (Art. 1 UN-KRK). Die UN-KRK regelt aber weder, wie die danach maßgebliche Altergrenze zu bestimmen ist, noch fordert sie ihre Anwendung, solange nicht geklärt ist, ob die betroffene Person überhaupt ein Kind im Sinne der Konvention ist. Insbesondere die Vorschriften über von ihrer Familie getrennt lebende Kinder (Art. 20 UN-KRK) und über Flüchtlingskinder (Art. 22 UN-KRK) enthalten hierzu keine Regelungen (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 9. Februar 2011 - 4 Bs 9/11 -, juris Rn. 101).

(2) Auch aus Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrensrichtlinie n.F.; ABl. EU Nr. L 180 vom 29. Juni 2013, S. 60) lässt sich für das vorliegende Eilverfahren nichts gewinnen. Nach dieser Vorschrift gehen die Mitgliedstaaten, wenn Zweifel bezüglich des Alters eines Asylantragstellers nach ärztlicher Untersuchung fortbestehen, davon aus, dass der Asylantragsteller minderjährig ist. Es kann dahinstehen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm hier überhaupt erfüllt sind - also die ärztliche Untersuchung vom 20. November 2013 ungeachtet der oben dargelegten Auffassung der Kammer keinen Aufschluss über das Lebensalter im Sinne dieser Vorschrift erbracht hat - und ob die Rechtsfolge der Bestimmung auch außerhalb eines Asylverfahrens i.w.S. - namentlich für hier in Rede stehende jugendhilferechtliche Maßnahme - Geltung beanspruchte. Denn die genannte Bestimmung der Richtlinie hat noch keine Entsprechung im Recht der Bundesrepublik Deutschland gefunden und ist nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie erst bis zum 20. Juli 2015 umzusetzen.

Da der Antragsteller unterliegt, hat er gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.

2. Die beantragte Prozesskostenhilfe kann dem Antragsteller nicht bewilligt werden, weil es aufgrund der Ausführungen unter 1. an nach §§ 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO, 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussichten des Eilantrages fehlt. Aus denselben Gründen ist auch für die ebenfalls begehrte Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten nach §§ 121 Abs. 2 ZPO, 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO kein Raum.