Verwaltungsgericht Lüneburg
v. 19.01.2018, Az.: 3 A 365/17
Anfechtungsklage; Info-Request; Mitwirkungspflicht; Norwegen
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 19.01.2018
- Aktenzeichen
- 3 A 365/17
- Entscheidungsform
- Gerichtsbescheid
- Referenz
- WKRS 2018, 73907
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs 1 Nr 5 AsylVfG
- § 71a Abs 1 AsylVfG
Tatbestand:
Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Im Dezember 2016 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 20. März 2017 bei der Beklagten Asyl. Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 8. Mai 2017 gab der Kläger unter anderem an, dass er sich vor seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ein Jahr in Norwegen aufgehalten und dort am 16. Dezember 2015 einen Asylantrag gestellt habe. Er habe einen ablehnenden Bescheid bekommen, genaueres wisse er nicht. Diesen Bescheid habe er selbst nie erhalten. Sein dortiger Anwalt habe ihm telefonisch mitgeteilt, dass sein Asylantrag abgelehnt worden sei. Er sei daraufhin nach Deutschland gegangen.
Das Bundesamt lehnte mit am 31. Mai 2017 zur Post gegebenen Bescheid vom 30. Mai 2017 den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen, forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Afghanistan zur Ausreise innerhalb von einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides auf und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung wird in dem Bescheid ausgeführt, dass es sich bei dem Asylantrag des Klägers um einen Zweitantrag im Sinne des § 71a AsylG handele, der unzulässig sei, weil die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorlägen.
Gegen den Bescheid vom 30. Mai 2017 hat der Kläger am 6. Juni 2017 Klage erhoben und einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt. Das Gericht hat mit Beschluss vom 4. Juli 2017 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in dem angegriffenen Bescheid angeordnet, weil erhebliche Zweifel bestünden, dass das Asylverfahren in Norwegen erfolglos abgeschlossen ist.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Außenstelle Bramsche, vom 30. Mai 2017 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung beziehe sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die nach Anhörung der Beteiligten gem. § 84 Abs. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden werden konnte, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, ist nach der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) als Anfechtungsklage zulässig und auch begründet, weil die Voraussetzungen, unter denen die Durchführung eines Asylverfahrens gemäß § 71a Abs. 1 AsylG wegen vorheriger erfolgloser Durchführung eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat abgelehnt werden kann, nicht vorliegen (dazu 1.) und die Entscheidung auch nicht aufgrund einer anderen Rechtsgrundlage aufrechterhalten bleiben kann (dazu 2.), mithin rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (dazu 3.). Dementsprechend war auch die ergangene Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, nebst Abschiebungsandrohung aufzuheben; beide Entscheidungen sind jedenfalls verfrüht ergangen (BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 -, juris Rn. 21).
Trifft das Bundesamt - wie vorliegend - eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist grundsätzlich nur eine Anfechtungsklage statthaft (BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 -, juris Rn. 14 ff.; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 01.06.2017 - 1 C 9/17 -, juris Rn. 15; Sächs. OVG, Urt. v. 21.06.2017 - 5 A 109/15.A -, juris; VG Lüneburg, Urt. v. 08.08.2017 - 3 A 92/16 -, juris Rn. 20).
1. Die Anfechtungsklage ist begründet. Unabhängig davon, ob die Beklagte für die Prüfung des Asylantrages zuständig ist (vgl. § 71a Abs. 1 AsylG) und daher einen Asylantrag aus den Gründen des § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig ablehnen konnte, liegen jedenfalls die Voraussetzungen einer solchen Unzulässigkeitsentscheidung bereits deshalb nicht vor, weil nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass es sich bei dem Asylantrag des Klägers um einen Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG handelt.
a) Ein Zweitantrag setzt gem. § 71a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG ein erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren - in einem sicheren Drittstaat - voraus, d.h. der Asylantrag muss entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrages bzw. aufgrund einer dieser gleichgestellten Verhaltensweise endgültig eingestellt worden sein (BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 -, juris Rn. 27, 29; a.A. hinsichtlich der endgültigen Einstellung wohl VG Hannover, Urt. v. 16.03.2017 - 10 A 7713/16 -, juris Rn. 16).
Eine Einstellung ist etwa dann nicht endgültig, wenn das (Erst-)Verfahren noch wiedereröffnet oder -aufgenommen werden kann, was nach der Rechtslage des Staates zu beurteilen ist, in dem das Asylverfahren durchgeführt worden ist (BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 -, juris Rn. 29). Der erfolglose Abschluss des (Erst-)Verfahrens in dem anderen Staat muss feststehen (VG Hannover, Urt. v. 16.03.2017 - 10 A 7713/16 -, juris Rn. 17), eine bloße Vermutung ist nicht ausreichend (vgl. VG Aachen, Beschl. v. 27.04.2017 - 2 L 74/17.A -, juris Rn. 17; VG München, Beschl. v. 03.04.2017 - M 21 S 16.36125 -, juris Rn. 17 m.w.N.; vgl. auch VG Regensburg, Beschl. v. 09.10.2017 - RN 5 S 17.34611 -, juris Rn. 12). Ist dem Bundesamt der aktuelle Stand des Verfahrens in dem anderen Staat nicht bekannt, muss es diesbezüglich zunächst weitere Ermittlungen anstellen (vgl. VG Regensburg, Beschl. v. 09.10.2017 - RN 5 S 17.34611 -, juris Rn. 12, 14; VG München, Beschl. v. 03.04.2017 - M 21 S 16.36125 -, juris Rn. 17 m.w.N.; VG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 07.12.2016 - 6 L 767/16.A -, juris Rn. 6; a.A. jedenfalls wohl für die Gründe der Entscheidung VG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 09.03.2017 - 6 L 203/17.A -, juris Rn. 9). Den Kläger trifft hierbei allerdings eine Mitwirkungspflicht (VG Regensburg, Beschl. v. 09.10.2017 - RN 5 S 17.34611 -, juris Rn. 13; VG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 09.03.2017 - 6 L 203/17.A -, juris Rn. 9). Erforderlich sind für das Bundesamt grundsätzlich die Informationen zum Verfahrensstand und zum Tenor einer gegebenenfalls getroffenen Entscheidung in dem anderen Staat (vgl. VG München, Beschl. v. 03.04.2017 - M 21 S 16.36125 -, juris Rn. 17 m.w.N.) bzw. zum Gegenstand des früheren Verfahrens (vgl. VG Aachen, Beschl. v. 27.04.2017 - 2 L 74/17.A -, juris Rn. 17). Regelmäßig ist nur dann eine Beurteilung möglich, inwieweit ein Asylantrag bzw. ein Antrag auf internationalen Schutz in dem anderen Staat gestellt bzw. von dem anderen Staat geprüft worden ist und ob das Verfahren in dem Drittstaat - nach dem dortigen Recht - erfolglos abgeschlossen ist. Das Vorliegen der (schriftlichen) Entscheidung des anderen Staates ist dabei nicht in jedem Fall erforderlich (vgl. VG Regensburg, Beschl. v. 09.10.2017 - RN 5 S 17.34611 -, juris Rn. 14 ff.; vgl. auch VG Würzburg, Beschl. v. 07.11.2017 - W 3 S 17.33500 -, juris Rn. 19).
Dem Bundesamt lagen zum Zeitpunkt der Unzulässigkeitsentscheidung lediglich die Angaben des Klägers vor, dass sein Rechtsanwalt in Norwegen ihm berichtet habe, dass sein Asylantrag abgelehnt worden sei und er - der Kläger - dann Deutschland verlassen habe. Trotz bestehender Möglichkeiten und mehrfacher ausdrücklicher gerichtlicher Aufforderung hat das Bundesamt bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keine weiteren Informationen eingeholt und auch sonst keine Umstände dargelegt, die das Gericht zu der Überzeugung eines erfolglos abgeschlossenen Asylverfahrens im Sinne des § 71a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG gelangen ließen. Auch ist insoweit ein Verstoß des Klägers gegen seine Mitwirkungspflichten (vgl. § 15 AsylG) nicht feststellbar (vgl. dazu etwa VG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 09.03.2017 - 6 L 203/17.A -, juris Rn. 9), insbesondere hat ihm die Entscheidung der norwegischen Behörden nach seinen nachvollziehbaren Angaben nie vorgelegen. Allein aufgrund der vorliegenden vagen Informationen allein durch den Kläger konnte das Gericht nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, dass das Asylverfahren des Klägers in Norwegen im Sinne des § 71a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG erfolglos abgeschlossen ist. Was die norwegischen Behörden im Einzelnen geprüft und wie sie konkret entschieden haben ist offen und dementsprechend auch, ob das Verfahren noch fortgeführt werden kann. So ist etwa auch denkbar und nicht fernliegend, dass der norwegische Rechtsanwalt des Klägers Rechtsmittel gegen die dortige Ablehnung des Asylantrages eingelegt hat.
Das Gericht sah sich angesichts der geringen bisherigen Erkenntnisse und Bemühungen des Bundesamtes auch nicht gehalten, anstelle des zur Aufklärung verpflichteten Bundesamtes (vgl. § 24 Abs. 1 Satz 1 AsylG) die bislang nicht ermittelten Umstände selbst im Rahmen der Amtsermittlung in Erfahrung zu bringen, zumal dem Bundesamt die Beschaffung weiterer Informationen unbenommen bleibt und ihm auch speziellere Möglichkeiten der Kommunikation sowie des Informationsaustausches mit anderen Staaten zur Verfügung stehen, wie etwa der sogenannte Info-Request (vgl. dazu etwa Bay. VGH, Urt. v. 13.10.2016 - 20 B 15.30008 -, juris Rn. 31).
2. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nicht auf Grundlage eines auf gleicher Stufe stehenden Unzulässigkeitstatbestandes aufrechterhalten bleiben (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 -, juris Rn. 21).
§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG kommt von vornherein nicht in Betracht, da keine Anhaltspunkte vorliegen, dass dem Kläger internationaler Schutz durch einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union gewährt wurde und § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG scheidet aus, weil Norwegen nicht als sonstiger Drittstaat im Sinne des § 27 AsylG betrachtet wird, sondern als sicherer Drittstaat im Sinne des § 26a AsylG (vgl. § 26a Abs. 2 AsylG i.V.m. der Anl. I zum AsylG; vgl. dazu auch BVerwG, Beschl. v. 23.03.2017 - 1 C 17/16 -, juris Rn. 13; Urt. v. 01.06.2017 - 1 C 9/17 -, juris Rn. 17). Hinsichtlich § 29 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 1 AsylG ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass Norwegen bereit ist, den Kläger wieder aufzunehmen oder dass Norwegen (noch) oder ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Für beides bestehen keine tatsächlichen Anhaltspunkte. Eine etwaige vorangegangene Zuständigkeit Norwegens wäre zudem jedenfalls gem. Art. 23 Abs. 3 Dublin-III-VO (Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.06.2013, Abl. EU L 180/31 v. 29.06.2013) bzw. Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO (zur Anwendbarkeit auf Norwegen, vgl. VG München, Beschl. v. 30.09.2016 - M 8 S 16.50314 -, juris Rn. 20 (zur Dublin-II-VO); so auch VG Lüneburg, Beschl. v. 03.05.2017 - 8 B 70/17 -, n.v.) wegen Ablaufs der Frist für ein Wiederaufnahmegesuch bzw. der Überstellungsfrist wieder entfallen.
3. Die rechtswidrige Ablehnung der Durchführung eines (weiteren) Asylverfahrens verletzt den Kläger auch in seinem aus dem Unionsrecht folgenden Recht auf Prüfung seines Schutzbegehrens durch die Beklagte als Mitgliedstaat der Europäischen Union (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 -, juris Rn. 43).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gem. § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.