Sozialgericht Oldenburg
Beschl. v. 29.06.2006, Az.: S 47 AS 610/06 ER

Anspruch auf Übernahme von Kosten für eine Studienfahrt nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II); Zuschuss zu einer mehrtägigen Klassenfahrt als gesondert zu erbringende Leistung; Reichweite des Begriffs der Klassenfahrten; Beachtung einer Altersbegrenzung bei der Prüfung eines Anspruchs

Bibliographie

Gericht
SG Oldenburg
Datum
29.06.2006
Aktenzeichen
S 47 AS 610/06 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 30316
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOLDBG:2006:0629.S47AS610.06ER.0A

In dem Rechtsstreit
hat das Sozialgericht Oldenburg - 47. Kammer -
am 29. Juni 2006
durch
die Richterin am Sozialgericht de Groot - Vorsitzende -
beschlossen:

Tenor:

Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Kosten für die Studienfahrt der Antragstellerin zum D. im E. in Höhe von 435,00 Euro vorläufig zu übernehmen.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe

1

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Kosten für eine Studienfahrt.

2

Die im F. geborene Antragstellerin bezieht vom Antragsgegner laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Sie besucht die 12. Klasse der G. schule in H., einem staatlich anerkannten freien Gymnasium in kirchlicher Trägerschaft, und hat dort die Leistungskurse Biologie und Chemie belegt.

3

Ihren Antrag auf Übernahme der Kosten für eine Studienfahrt an den D. im E. in Höhe von ca. 435,00 Euro lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 13. März 2006 ab: Ein Zuschuss zur mehrtägigen Klassenfahrt nach § 23 Abs. 3 SGB II könne lediglich bis zur 10. Klasse gewährt werden.

4

Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Antragstellerin darauf hin, dass die vom Antragsgegner genannte Handhabung der bisherigen Praxis widerspreche. Denn für die 11. Klasse seien die Kosten ihrer Klassenfahrt noch vom Antragsgegner übernommen worden. Im Übrigen decke die Rechtsauffassung des Antragsgegners sich nicht mit dem Wortlaut der genannten Rechtsgrundlage.

5

Der Antragsgegner wies den Widerspruch der Antragstellerin mit Widerspruchsbescheid vom 2. Mai 2006 zurück: Da es sich nicht um eine Klassenfahrt mit Teilnahmepflicht i. S. der schulrechtlichen Bestimmungen handele - es bestehe für die Antragstellerin nämlich keine Schulpflicht mehr - habe sie nach § 23 Abs. 3 SGB II keinen Anspruch auf die begehrte Leistung. Aus einer unrechtmäßigen Übernahme der Kosten für eine Klassenfahrt in der 11. Klasse könne die Antragstellerin kein Recht auf Übernahme der Kosten in den Folgejahren herleiten.

6

Die Antragstellerin hat hiergegen am 5. Mai 2006 Klage erhoben (Verfahren S 47 AS 567/06) und am 12. Mai 2006 einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt.

7

Sie ist der Ansicht, dass es für die Begrenzung der Übernahme der Kosten für Klassenfahrten auf Schüler bis einschließlich der 10. Klasse keine Rechtsgrundlage gibt. Auch eine Pauschalierung der Leistungen sei aus § 23 Abs. 3 SGB II nicht herzuleiten.

8

Die Antragstellerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig für die Klassenfahrt an den D. im E. eine einmalige Beihilfe in Höhe von 435,00 Euro zu gewähren.

9

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

10

Er ist der Ansicht, dass kein Anordnungsanspruch gegeben ist. Die Antragstellerin habe die gesetzlich vorgeschriebene Schulpflicht von 10 Jahren bereits erfüllt. Der weitergehende Schulbesuch sei somit freiwillig. Die Kosten für die Teilnahme an einer Studienfahrt könnten nicht zu Lasten der Allgemeinheit gehen. Auch gebe es ab der 11. Klasse keinen Klassenverband mehr, der durch eine gemeinsame Klassenfahrt gestärkt werden könnte. Drohende Nachteile wegen der Nichtteilnahme an einer Studienfahrt lägen somit nicht vor.

11

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

12

Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis nur zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die einstweilige Anordnung dient lediglich der Sicherung von Rechten eines Antragstellers, nicht aber ihrer Befriedigung. Sie darf deshalb grundsätzlich nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen. Etwas anderes gilt ausnahmsweise, wenn ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung ein wirksamer Rechtsschutz nicht erreicht werden kann und dieser Zustand dem Antragsteller unzumutbar ist (Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar, 8. Aufl. 2005, § 86 b Rdnr. 31). Sowohl die schützenswerte Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist, als auch die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

13

Die Voraussetzungen für den Erlass einer Regelungsverfügung gem. § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG liegen vor.

14

Die Antragstellerin hat gegenüber dem Antragsgegner einen Anordnungsanspruch. Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II sind Leistungen für mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen nicht von der Regelleistung umfasst. Sie werden gesondert erbracht. Mangels entsprechender Einschränkung dieser Vorschrift besteht grundsätzlich auch ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für Fahrten ins Ausland und nach Ende der allgemeinen Schulpflicht (so auch Hofmann in LPK-SGB II, 1. Auflage 2005, § 23 Rdnr. 31; Sozialgericht - SG - Oldenburg, Urteil vom 29.3.2006 - S 48 AS 791/05). Dabei werden vom Tatbestandsmerkmal "Klassenfahrten" i. S. des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II entgegen der Auffassung des Antragsgegners auch im klassenersetzenden Kursverband erfolgende Reisen umfasst, wenn diese mit dem Unterricht der jeweiligen Schule, auf der der Schulbesuch erfolgt, zusammenhängen (vgl. Lang in Eicher/Spellbrink, SGB II, Kommentar, 1. Auflage 2005, § 23, Rdnr. 110; Schmidt in Oestreicher, SGB XII/SGB II, Kommentar, Stand: Dezember 2005, § 23 SGB II, Rdnr. 55; SG Lüneburg, Beschluss vom 26.1.2005 - S 24 AS 4/05 ER). Dies ist hier der Fall. Aus der Stellungnahme der G. schule H. vom 2. Juni 2006 ergibt sich, dass es sich bei der Studienfahrt an den D. im E. um eine für die Fächer Kunst, Kultur (Musik), Biologie und Sport der Jahrgangsstufe 12 angebotene Schulveranstaltung handelt, welche im unmittelbaren Zusammenhang mit den Unterrichtszielen in diesen Fächern steht und damit die Arbeit in der Schule bereichert und ergänzt.

15

Da die Antragstellerin als Leistungskurs Biologie belegt hat, steht die Studienfahrt an den D. in direktem Zusammenhang mit ihrer Arbeit in der Schule.

16

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners knüpft ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Klassenfahrt, bzw. Studienfahrt auch nicht an das Alter des Betroffenen an. Denn § 23 Abs. 3 Nr. 3 SGB II sieht keine Altersbegrenzung vor. Auch der Hinweis auf die schulrechtlichen Bestimmungen in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II kann nicht entsprechend interpretiert werden. Dieses Tatbestandsmerkmal knüpft an die Klassenfahrt an und will damit die Erstattung von Kosten für Schulfahrten von vornherein auf die Fahrten begrenzen, die durch die zuständigen Instanzen (Schulleitung oder Schulbehörde) genehmigt worden sind (vgl. Fichtner/Wenzel, Kommentar zum SGB XII/SGB II, 3. Auflage, München 2005, § 23 SGB II, Rdnr. 12).

17

Weil die Antragstellerin auch offenbar nicht aus eigenen Kräften und Mitteln in der Lage ist, die Studienfahrt zu finanzieren - die geforderte Anzahlung von 100,00 Euro konnte sie nach eigenen Angaben bisher nicht aufbringen -, hat sie einen Anspruch auf Übernahme der entsprechenden Kosten durch den Antragsgegner. Dabei hat der Antragsteller die vollen Kosten der Studienfahrt in Höhe von 435,00 Euro zu tragen. Entgegen der in seinem Bescheid vom 17.3.2006 geäußerten Meinung ("Klassenfahrtzuschuss") ist die Leistung einer Pauschale nicht ausreichend, wie sich im Umkehrschluss aus § 23 Abs. 3 Satz 5 SGB II ergibt (so auch Landessozialgericht Hessen, Beschluss vom 20.9.2005 - L 9 AS 38/05; SG Oldenburg, a.a.O.; Hofmann in LPK-SGB II, § 23, Rdnr. 31; Schmidt in Oestreicher, SGB XII/SGB II, § 23, Rdnr. 56 m.w.N.).

18

Einen Anordnungsgrund hat die Antragstellerin ebenfalls glaubhaft gemacht, denn die für den I. geplante Studienfahrt an den D. steht unmittelbar bevor. Die Antragstellerin ist - wie bereits oben ausgeführt - nicht in der Lage, die Kosten für die Studienfahrt selbst aufzubringen.

19

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

de Groot