Sozialgericht Oldenburg
Beschl. v. 25.09.2006, Az.: S 2 SO 138/06 ER
Bibliographie
- Gericht
- SG Oldenburg
- Datum
- 25.09.2006
- Aktenzeichen
- S 2 SO 138/06 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 44138
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOLDBG:2006:0925.S2SO138.06ER.0A
Fundstelle
- BtMan 2007, 42-43
In dem Rechtsstreit
der A.,
Antragstellerin,
gegen
die Stadt C., D.
Antragsgegnerin,
hat das Sozialgericht Oldenburg - 2. Kammer -am 25. September 2006 durch die Richterin am Sozialgericht de Groot - Vorsitzende -
beschlossen:
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig - unter dem Vorbehalt der Rückforderung - für die Zeit vom 1. Juli 2006 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsache, längstens jedoch für die Dauer von 12 Monaten, Sozialhilfe - Hilfe zur Pflege - gem. § 61 Abs. 1 Satz 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für ihre hauswirtschaftliche Versorgung im Umfang von 4 Stunden pro Woche zu gewähren.
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens um die Gewährung der Kosten für eine Haushaltshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Die im Jahre 1973 geborene Antragstellerin leidet seit ihrer Geburt an einer spastischen Paraplegie. Für sie ist ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen "G", "H", "RF" und "aG" anerkannt. Während sie außerhalb ihrer Wohnung auf einen Elektrorollstuhl angewiesen ist, bewegt sie sich innerhalb ihrer Wohnung mit zwei Unterarmgehstützen.
Die Antragstellerin erzielt aus einer Erwerbstätigkeit ein monatliches Einkommen von ca. 600,00 Euro brutto. Daneben bezieht sie seit dem 1. Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Ihren Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Pflege lehnte ihre Pflegeversicherung mit Bescheid vom 16. August 2006 ab, weil die Antragstellerin nach einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) vom 10. August 2006 keinen Hilfebedarf in der Grundpflege hat, lediglich ein Bedarf in der hauswirtschaftlichen Versorgung festgestellt werden konnte.
Unter Geltung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) erhielt die Antragstellerin von der Antragsgegnerin Sozialhilfe - laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Sie erhielt zusätzlich gem. § 11 Abs. 3 bzw. § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG wegen körperlicher Beeinträchtigungen Leistungen für die Bezahlung einer Haushaltshilfe. Die Haushaltshilfe wurde zwei Mal wöchentlich für jeweils zwei Stunden bewilligt. Dabei führte die Haushaltshilfe folgende Arbeiten aus: Böden wischen, Wäsche bügeln, Böden saugen, Betten beziehen, Bad gründlich säubern, Fenster putzen und die Terrasse fegen. Den Einkauf bewerkstelligt die Antragstellerin mittels ihres Rollstuhls selbst, wobei nur Kleinigkeiten transportiert werden können. Die Mittel für die Haushaltshilfe wurden der Antragstellerin bis Ende Februar 2005 gewährt.
Eine über den oben genannten Zeitraum hinausgehende Bewilligung lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 3. März 2005 und Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2005 ab: Da die Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II beziehe, sei sie von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII gem. § 21 SGB XII ausgeschlossen.
Hiergegen hat die Antragstellerin am 20. Dezember 2005 vor dem Sozialgericht Oldenburg Klage erhoben (Verfahren S 2 SO 299/05), über welche noch nicht entschieden worden ist.
In einem hierzu parallel geführten einstweiligen Rechtsschutzverfahren hatte die Antragstellerin Erfolg. Mit rechtskräftigem Beschluss des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 4. Januar 2006 wurde die Antragsgegnerin vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin bis zum 30. Juni 2006 Hilfe zur Pflege gem. § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII für ihre hauswirtschaftliche Versorgung im Umfang von 4 Stunden pro Woche zu gewähren (Verfahren L 8 SO 58/05 ER).
Den mit Schreiben der Antragstellerin vom 21. Juni 2006 gestellten Antrag auf Weitergewährung der Hilfe zur Pflege über den 30.06.2006 hinaus lehnte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 27. Juni 2006 und 29. Juni 2006, denen keine Rechtsbehelfsbelehrungen beigefügt waren, ab.
Ob die Antragstellerin gegen diese Schreiben mittlerweile Widerspruch erhoben hat, ist nicht bekannt.
Die Antragstellerin hat am 30. Juni 2006 die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Sie ist unter Hinweis auf die Rechtsprechung des LSG Niedersachsen-Bremen und des LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 07.03.2006 - L 7 SO 509/06 ER-B) der Auffassung, einen Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach § 61 Abs. 1 Satz 2, bzw. § 70 Abs. 1 SGB XII zu haben. Diese Vorschriften seien auch anwendbar, wenn der jeweilige Antragsteller - wie dies auch bei ihr der Fall sei - keinen Bedarf an Hilfe zur Pflege im Bereich der Grundpflege habe.
Eilbedürftigkeit sei vorliegend ebenfalls gegeben, denn sie sei nicht in der Lage, die Kosten für die erforderliche Haushaltshilfe vorläufig selbst zu tragen.
Die Antragstellerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ab 1. Juli 2006 Hilfe zur Pflege für ihre hauswirtschaftliche Versorgung im Umfang von 4 Stunden pro Woche zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Sie ist der Auffassung, dass der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch nach § 27 Abs. 3, bzw. § 28 Abs. 2 Satz 2 SGB XII zu prüfen ist, weil der festgestellte Bedarf rein hauswirtschaftlicher Natur ist. Da die Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II beziehe, sei ein entsprechender Anspruch nach § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II ausgeschlossen. Die im SGB II bestehende Regelungslücke sei durch analoge Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII zu schließen, wobei für die entsprechende Bewilligung der SGB II-Träger zuständig sei. Eine Zuordnung der beantragten Leistung zu den §§ 61 ff. SGB XII würde der Gesetzessystematik zuwiderlaufen. Auch der Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 4. Januar 2006 (L 8 SO 58/05 ER) gebiete keine andere Auslegung, denn dieser habe noch nicht berücksichtigen können, dass bei der Antragstellerin kein Bedarf an Grundpflege gegeben ist.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet. Die Antragsgegnerin hat die Kosten für die hauswirtschaftliche Versorgung der Antragstellerin im Umfang von 4 Stunden pro Woche vorläufig zu übernehmen.
Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis nur zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die einstweilige Anordnung dient lediglich der Sicherung von Rechten eines Antragstellers, nicht aber ihrer Befriedigung. Sie darf deshalb grundsätzlich nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen. Etwas anderes gilt ausnahmsweise, wenn ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung ein wirksamer Rechtsschutz nicht erreicht werden kann und dieser Zustand dem Antragsteller unzumutbar ist (Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar, 8. Aufl. 2005, § 86 b Rdnr. 31). Sowohl die schützenswerte Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist, als auch die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).
Die Voraussetzungen für den Erlass einer Regelungsverfügung gem. § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG liegen vor.
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch auf die vorläufige Gewährung der Kosten der begehrten Haushaltshilfe glaubhaft gemacht. Hilfe zur Pflege ist nach § 61 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. SGB XII auch Kranken und behinderten Menschen zu leisten, die einen geringeren Bedarf als nach Satz 1 haben. Dieser spezielle sozialhilferechtlich erweiterte Pflegebegriff trägt den vorliegend streitbefangenen Haushaltshilfeanspruch als Teilleistung der Hilfe zur Pflege. Die Antragstellerin hat einen geringeren Pflegebedarf als nach § 61 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, denn sie ist behindert (die Antragstellerin leidet seit ihrer Geburt an einer spastischen Paraplegie) und benötigt "für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höheren Maße der Hilfe" nicht. Diese einfache Pflegebedürftigkeit ("Pflegestufe Null") der Antragstellerin ergibt sich aus dem Gutachten des MDKN vom 10. August 2006, auf welches der Bescheid der Pflegeversicherung der Antragstellerin vom 16. August 2006 gestützt ist. Die Pflegestufenzuordnung ergibt sich nachvollziehbar aus dem Umstand, dass die Antragstellerin Leistungen der Grundpflege gar nicht benötigt und die Voraussetzungen der Pflegestufe I (vgl. § 64 Abs. 1 SGB XII; § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 3 Nr. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB XI: Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung, deren wöchentlicher Zeitaufwand im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten beträgt, wovon auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen) nicht gegeben sind. Im Bereich der einfachen Pflegebedürftigkeit ("Pflegestufe Null") ist ein zeitlicher Mindestaufwand als Leistungsvoraussetzung nicht erforderlich. Jeder messbare Bedarf ist relevant. Der bei der Antragstellerin festgestellte hauswirtschaftliche Bedarf (Böden wischen, Wäsche bügeln, Böden saugen, Betten beziehen, Bad gründlich säubern, Fenster putzen und die Terrasse fegen) entspricht den tatbestandlichen Voraussetzungen der entsprechenden gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen nach § 61 Abs. 5 Nr. 4 SGB XII.
Die Antragstellerin vermag die Kosten für die benötigte Haushaltshilfe nicht aus eigenen Mitteln aufzubringen, weil sie zur Sicherung ihres Lebensunterhalts im Übrigen der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II bedarf, zu denen nach den bisherigen entsprechenden Bewilligungsbescheiden Haushaltshilfe nicht zählt.
Das Fehlen eines messbaren Grundpflegebedarfs schließt die Zuordnung des Bedarfs zur Hilfe zur Pflege nach § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII in Abgrenzung zur "großen Haushaltshilfe" nach § 70 SGB XII einerseits und zur "kleinen Haushaltshilfe" nach § 27 Abs. 3 SGB XII andererseits entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht von vornherein aus. Das wirtschaftlich einheitliche Begehren auf Übernahme der Kosten für eine Haushaltshilfe ist vielmehr nach allen drei im SGB XII normierten Anspruchsgrundlagen zu prüfen (vgl. Krahmer in LPK-SGB XII, 7. Auflage, § 61 Rdnr. 26a; so bereits zum BSHG Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 4. Dezember 2000 - 3 R 35/99; LSG Hessen, Beschluss vom 4. Juli 2006 - L 9 SO 24/06 ER). In Verfolgung dieses Ansatzes ergibt die Prüfung zu § 70 SGB XII, dass die dort geregelte Hilfe zur Weiterführung des Haushalts auf den Haushalt als Ganzes zur Vermeidung seiner Auflösung bezogen ist und eine vorübergehende Notlage voraussetzt. Beide Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt, weil die Antragstellerin lediglich bei vereinzelten Verrichtungen (Böden wischen, Wäsche bügeln, Böden saugen, Betten beziehen, Bad gründlich säubern, Fenster putzen und die Terrasse fegen) und nicht nur vorübergehend Hilfe benötigt und auch in der Vergangenheit benötigte. Die Prüfung zu § 27 Abs. 3 SGB XII ergibt, dass die erweiterte Hilfe zum Lebensunterhalt Personen erfasst, die einen geringen Unterstützungsbedarf haben, welchen sie - auch trotz ausreichendem Einkommen oder Vermögen - aufgrund ihrer persönlichen Verfassung in eigener Verantwortung nicht organisieren können. Bei atypischen Bedarfslagen ist zu prüfen, ob der Bedarf durch speziellere Anspruchsgrundlagen erfüllt werden kann (Grube/Wahrendorf, SGB XII, Kommentar, § 28 Rdnr. 11; LSG Hessen, a. a. O.). Zu erbringen ist die Leistung, die den Bedarf wirksamer deckt (Schoch in LPK-SGB XII, § 27 Rdnr. 41). Für Personen, die wegen Krankheit oder Behinderung grundsätzlich berechtigt sind, Leistungen der Hilfe zur Pflege in Anspruch zu nehmen, sind Leistungen zur Pflege die umfassenderen Leistungen. Die Gewährung von Haushaltshilfe nach § 61 Abs. 1 SGB XII geht deshalb derjenigen nach § 27 Abs. 3 SGB XII vor (Hauck/Noftz, SGB XII, Kommentar, Band 1, Stand: Juni 2006, § 27 Rdnr. 29 und § 70 Rdnr. 3 unter Bezugnahme auf OVG Hamburg, Beschluss vom 19. März 1996 - Bs IV 266/95; LSG Hessen, a. a. O.).
Die Antragstellerin ist von der Hilfe zur Pflege nach § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII auch nicht ausgeschlossen, weil sie Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nach dem SGB II bezieht. Als Inhaberin eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ist sie nach § 5 Abs. 2 SGB II und § 21 Satz 1 SGB XII lediglich von Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches (§§ 27 - 40 SGB XII) ausgeschlossen, zu denen die Hilfe zur Pflege (§§ 61 - 66 SGB XII) nicht zählt (LSG Hessen, a. a. O.; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 7. März 2006 - L 7 SO 509/06 ER-B und Beschluss vom 15. Mai 2006 - L 13 AS 1708/06 ER-B). Demnach hat die Antragstellerin - neben Leistungen nach dem SGB II - Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII.
Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls gegeben. Die Antragstellerin vermag die Kosten für die benötigte Haushaltshilfe nicht aus eigenen Mitteln, d. h. aus dem Arbeitslosengeld II und ihrem bescheidenen Arbeitsentgelt aufzubringen, so dass beim Abwarten der Hauptsacheentscheidung eine Unterversorgung im vitalen Bereich der Haushaltsführung entstünde. Auch ist eine einstweilige Anordnung im Sinne des § 86b Abs. 2 SGG nötig, wenn andernfalls ein menschenwürdiges Leben im Sinne des § 1 SGB XII nicht gewährleistet ist. Dies wäre hier der Fall, da die Antragstellerin die Leistungen zur Aufrechterhaltung ihrer hauswirtschaftlichen Versorgung dringend benötigt, sie andernfalls zu verwahrlosen droht.
Bei der Dauer der Verpflichtung der Antragsgegnerin hat die Kammer den Gedanken des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII zugrunde gelegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.