Sozialgericht Oldenburg
Urt. v. 29.03.2006, Az.: S 48 AS 791/05
Möglichkeit und Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen nach SGB II für mehrtägige Klassenfahrten auch ins Ausland nach Ende der allgemeinen Schulpflicht; Zulässigkeit der Pauschalierung oder Festlegung einer Obergrenze für Leistungen nach den Vorschriften des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II) für mehrtägige Klassenfahrten; Beurteilungskompetenz des Leistungsträgers, ob eine Klassenfahrt sinnvoll und notwendig ist
Bibliographie
- Gericht
- SG Oldenburg
- Datum
- 29.03.2006
- Aktenzeichen
- S 48 AS 791/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 18422
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOLDBG:2006:0329.S48AS791.05.0A
Rechtsgrundlage
- § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3, S. 4, S. 6 SGB II
Redaktioneller Leitsatz
Leistungen für mehrtägige Klassenfahrten sind nicht von den Regelleistungen umfasst, sondern gesondert in tatsächlicher Höhe zu erbringen.
Die Beurteilung, ob eine Klassenfahrt pädagogisch wertvoll ist, obliegt nicht dem Leistungsträger.
In dem Rechtsstreit
hat das Sozialgericht Oldenburg - 48. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 29. März 2006
durch
den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Hoffmeyer - Vorsitzender - sowie
die ehrenamtlichen Richter Tammen und Rohlfing
für Recht erkannt:
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 12. August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. September 2005 wird abgeändert.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger weitere 45,00 Euro für die streitbefangene Klassenfahrt zu gewähren.
Die außergerichtlichen Kosten des Klägers sind zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger bezieht für sich und seine Familie, u.a. den 1992 geborenen Sohn E., Leistungen nach dem SGB II. Der Sohn besucht des Alte Gymnasium in Oldenburg und nimmt an der Fachgruppe Französisch teil. Diese führte im September 2005 eine Projekt- und Klassenfahrt nach Mesquur/Bretagne/Frankreich durch. Die Kosten der Fahrt beliefen sich auf insgesamt 250,00 EUR für die Fahrt-, Unterkunfts-, Vollpensions- und Programmkosten für das Projekt vor Ort. Auf den entsprechenden Antrag bewilligte die Beklagte gemäß Bescheid vom 12. August 2005 lediglich 205,00 EUR, da die Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers ergeben habe, dass er selbst in der Lage sei, einen Teil der Kosten aus eigenen Mitteln zu decken. Hierbei sei das Einkommen berücksichtigt worden, dass er voraussichtlich in den nächsten sechs Kalendermonaten erzielen werde. Diese Entscheidung beruhe auf § 23 Abs. 3 SGB II, nach der hierzu ergangenen Rechtsverordnung würden entsprechende Kosten lediglich in "pauschaler Höhe" übernommen. Der Betrag wurde an die Schule ausgezahlt.
Hiergegen legte der Kläger am 22. August 2005 Widerspruch ein und betonte, er habe keinen Einfluss auf die Höhe der Kosten gehabt und könne den fehlenden Betrag auch nicht aus seinen Einnahmen bestreiten. Da nach den gesetzlichen Bestimmungen die Leistungen für mehrtägige Klassenfahrten nicht von den Regelleistungen erfasst würden, sei der volle Betrag zu übernehmen. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 5. September 2005 zurück.
Mit der am 21. September 2005 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren auf Zahlungen der gesamten Kosten für die Schulfahrt unter Wiederholung und Vertiefung seines Vorbringens, insbesondere unter Anführung der einschlägigen Rechtsprechung der Sozial- und Verwaltungsgerichte weiter. Ergänzend betont er, dass für eine Klassenfahrt grundsätzlich zusätzliche Kosten, wie beispielsweise auch die Anschaffung spezieller Kleidung oder Schuhwerk entsprechend den örtlichen Gegebenheiten, erforderlich sei.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 22. August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. September 2005 zu verpflichtet, ihm weitere 45,00 EUR für die streitbefangenen Klassenfahrt zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen
und verweist zur Begründung auf die Ausführung der angefochtenen Bescheide.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend Bezug genommen auf die Gerichtsakte sowie den vorgelegten Verwaltungsvorgang der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 22. August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. September 2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten gem. § 54 SGG. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung der weiteren Kosten der Klassenfahrt in Höhe der restlichen 45,00 EUR.
Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II sind Leistungen für mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen nicht von der Regelleistung umfasst. Sie werden gesondert erbracht. Dies soll auch für Fahrten ins Ausland und nach Ende der allgemeinen Schulpflicht gelten (vgl. Hofmann in LPK-SGB II, 1. Aufl. 2005, § 23 Rn. 31). Nach Ansicht der Kammer stellt auch die Fahrt einer Projektgruppe eine solche Klassenfahrt dar. Die Frage, ob die streitige Fahrt sinnvoll und notwendig ist, ist pädagogischer Natur und nicht vom Leistungsträger zu beurteilen (Kallhorn in Hauck/Noftz, SGB II, Stand: 2005, K § 23 Rdnr. 24). Entgegen der Entscheidung des SG Lüneburg im Beschluss vom 26. Januar 2005 - S 24 AS 4/05 ER - geht das erkennende Gericht allerdings davon aus, dass eine Beihilfe nicht nur bis zur Höchstgrenze von 205,- Euro und darüber hinaus gegebenenfalls nur darlehensweise zu bewilligen ist. Ausgehend von der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zu den früher einschlägigen Regelungen des BSHG (s. z.B. Beschluss des VG Lüneburg vom 19.6.2003 - 6 B 114/03 -) stellt insbesondere nach dem Urteil des BVerwG vom 9. Februar 1995 - 5 C 2.93 -, E 97, S. 376, der
"aus Anlass einer mehrtägigen Klassenfahrt entstehende Bedarf... keinen - durch die Regelsatzleistungen abgegoltenen - Regelbedarf dar. Es handelt sich vielmehr um einen einmaligen Bedarf, für den einmalige Leistungen in Betracht kommen."
Von dieser in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB IIübernommenen Regel ausgehend ist, dieser Rechtsprechung folgend, entscheidungserheblich im Einzelfall ausgehend von der - hier nicht angezweifelten - schulrechtlichen Rechtmäßigkeit der Bestimmung der Klassenfahrt und der dadurch den Eltern aufzuerlegenden Kosten allein die Frage, ob durch eine etwaige Nichtteilnahme eines hilfebedürftigen Schülers eine soziale Ausgrenzung aus der Klassen- bzw. Lerngemeinschaft zu besorgen ist. Auch diese Frage ist von den Beteiligten aber nicht aufgeworfen worden.
Danach sind die Leistungen für mehrtägige Klassenfahrten in tatsächlicher Höhe zu erbringen: Eine Pauschalierung oder Festlegung einer Obergrenze ist grundsätzlich nicht zulässig (so auch das LSG Hessen, Beschluss vom 20. September 2005 - L 9 AS 38/05 ER -). Soweit nach Satz 6 der Vorschrift von einer "Bemessung der Pauschale" im Einzelfall ausgegangen wird, kann sich diese Regelung nur auf Unkosten beziehen, die nicht aufgrund der schulrechtlichen Bestimmungen bei der Festlegung der entstehenden Kosten von vornherein feststehen, wie z.B. im Falle der erforderlichen Anschaffung konkreter Ausrüstungsgegenstände etc. Insbesondere eine allgemeine Pauschalisierung von Kosten der Klassenfahrten unberücksichtigt des Anlasses, der Dauer wie des Zielortes, des Schultyps usw. ist nach den Regelungen des § 23 Abs. 3 SGB II unzulässig (a.A. SG Aschen, Beschluss vom 18. November 2005 - S 8 AS 39/95 ER - für die Bestimmung von "Höchstbeträgen").
Im Übrigen sind auch seitens der Beklagten keine substantiierten Anhaltspunkte dafür vorgetragen bzw. gar belegt worden, dass der Kläger innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 23 Abs. 3 Satz 4 SGB II berücksichtigenswerten Einkünfte erwerben konnte oder erworben hat, die anspruchsmindernd hätten angerechnet werden dürfen.
Dementsprechend war über die Kosten gemäß § 193 Abs. 1 SGG nach Grundsätzen der Billigkeitzu entscheiden, weshalb es im Hinblick auf den Erfolg der Klage geboten war, die außergerichtlichen Kosten des Klägers für erstattungsfähig zu erklären, da er mit seinem Begehren voll obsiegt hat.