Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 09.12.2002, Az.: 4 B 218/02

Kindersitz; Rollstuhl; Rückhalteeinrichtung; Schülerbeförderung; zumutbare Bedingungen

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
09.12.2002
Aktenzeichen
4 B 218/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 41904
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Antragsgegner wird durch einstweilige Anordnung verpflichtet, vorläufig die Schülerbeförderung des Antragstellers von seiner Wohnung in {H.} zur Schule {K.} in {L.} und zurück in einem mit Sitzen ausgestatteten Fahrzeug sicherzustellen, wobei der Antragsteller während der Fahrt auf einem Sitz mit einer Rückhalteeinrichtung für Kinder zu sichern ist.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

1

1. Der am 24. November 2002 gestellte Eilrechtsschutzantrag hat Erfolg.

2

Der nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellte Antrag, mit dem der Antragsteller begehrt, die aufschiebende Wirkung seiner parallel erhobenen Klage (4 A 407/02) anzuordnen, mit der er sich gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 10. September 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 2002 wendet, ist entsprechend § 88 VwGO umzudeuten in einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO.

3

Mit den angefochtenen Bescheiden hat der Antragsgegner unter Anordnung sofortiger Vollziehung bestimmt, dass der körperbehinderte Antragsteller mit einem Fahrzeug sitzend in seinem Rollstuhl zur Schule und zurück befördert wird. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung geht ins Leere; denn durch die Bescheide wird die Gewährung einer Leistung, nämlich die Schülerbeförderung für den Antragsteller – sitzend im Rollstuhl – geregelt. Das Begehren des Antragstellers, das darauf gerichtet ist, auf einem Sitz eines Fahrzeugs befördert zu werden, kann nicht dadurch erreicht werden, dass die ihm von dem Antragsgegner gewährte Beförderung – sitzend im Rollstuhl – aufgehoben wird, vielmehr bedarf es dazu im Hauptsacheverfahren eines Verpflichtungsantrags und entsprechend im Eilverfahren des Erlasses einer einstweiligen Anordnung. Die Umdeutung des gestellten Eilantrags ist nicht zuletzt auch im Hinblick auf die rechtliche Vorgehensweise des Antragsgegners nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO geboten.

4

Der Erlass einer hier allein näher in Betracht zu ziehenden Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO setzt voraus, dass ein vorläufiger Zustand in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zu regeln ist und diese Regelung vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO iVm § 920 Abs. 2 ZPO).

5

Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

6

Nach § 114 NSchG hat der Träger der Schülerbeförderung die in seinem Gebiet wohnenden Schülerinnen und Schüler unter zumutbaren Bedingungen zur Schule zu befördern oder ihnen oder ihren Erziehungsberechtigten, die notwendigen Aufwendungen für den Schulweg zu erstatten, wobei die Beförderungs- und Erstattungsfähigkeit in jedem Fall besteht, wenn Schülerinnen oder Schüler wegen einer dauernden oder vorübergehenden Behinderung befördert werden müssen.

7

Hier steht außer Frage, dass der Antragsteller gegen den Antragsgegner, der Träger der Schülerbeförderung ist, einen Anspruch auf Schülerbeförderung hat. Durch die dem Antragsteller durch die angegriffenen Bescheide gewährte Beförderung – sitzend im Rollstuhl – erfüllt der Antragsgegner bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung den Beförderungsanspruch des Antragstellers nicht. Vielmehr kann der Antragsteller beanspruchen, dass er wenigstens vorläufig wie tenoriert befördert wird.

8

Der Anspruch nach § 114 NSchG ist darauf gerichtet, dass die Schülerbeförderung unter zumutbaren Bedingungen durchgeführt wird. „Zumutbare Bedingungen“ im Sinne des § 114 NSchG ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der den Maßstab für die Beförderungsbedingungen bildet, wie sie sich für die Schülerinnen und Schüler darstellen und wie sie sich auf diese unter Berücksichtigung der allgemeinen Belastbarkeit von Kindern in den bestimmten Altersstufen auswirken, d.h. z.B. welche Zeitdauer danach eine Wegstrecke betragen darf oder welches Verkehrsmittel zu wählen ist, usw. Unerheblich sind die für den Träger der Schülerbeförderung durch die Beförderung entstehenden Kosten insoweit, als diese Kosten nicht Richtschnur für die Bestimmung der Zumutbarkeit einer Beförderung sein dürfen.

9

Wird die Beförderung der Schülerin oder des Schülers mit einem Kraftfahrzeug durchgeführt, dann muss dieses Fahrzeug den straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften entsprechen und entsprechend diesen Vorschriften betrieben werden. Bei der Personenbeförderung von Kindern gilt es daher § 21 Abs. 1a StVO zu beachten, wonach Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr, die kleiner als 150 cm sind, in Kraftfahrzeugen auf Sitzen, für die Sicherheitsgurte vorgeschrieben sind, nur mitgenommen werden dürfen, wenn Rückhalteeinrichtungen für Kinder benutzt werden, die amtlich genehmigt oder für das Kind geeignet sind. Dies gilt nicht in Kraftomnibussen mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 3,5 t. Nach der VwV zu § 21 Abs. 1a sind Rückhalteeinrichtungen für Kinder, die entsprechend der ECE-Regelung Nr. 44 (BGBl 1984 II S. 458, m.w.Änderungen) gebaut, geprüft, genehmigt und entweder mit dem nach ECE-Regelung Nr. 44 vorgeschriebenen Genehmigungszeichen oder mit dem nationalen Prüfzeichen nach der Fahrzeugteileverordnung gekennzeichnet sind, geeignet.

10

Da hier ein Transport mit einem Kraftomnibus mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 3,5 t nicht in Rede steht, ist zunächst vom Grundsatz her festzustellen, dass ein Transport entsprechend der Regelung des § 21 Abs. 1a Satz 1 StVO mit einer vorgeschriebenen Rückhalteeinrichtung für Kinder vorgenommen werden muss.

11

Dass der Transport des Antragstellers unter Verzicht auf diese Sicherung noch einen Transport unter zumutbaren Bedingungen darstellt, wenn der Antragsteller stattdessen sitzend in seinem Rollstuhl in einem Fahrzeug befördert wird, kann die Kammer anhand der in den Akten enthaltenen Unterlagen nicht feststellen. Der Antragsteller hat durch die vorgelegte Stellungnahme vom 23. Juli 2001 der Firma {M.} GmbH sowie durch die Stellungnahme vom 28. August 2002 des Dipl.-Ing. {N.} {O.}, der Regierungsdirektor bei der Bundesanstalt für Straßenwesen ist, glaubhaft gemacht, dass die Beförderung eines Behinderten in einem Rollstuhl sitzend in einem Kraftfahrzeug mit erheblichen Sicherheitseinschränkungen verbunden ist, die dann hinnehmbar erscheinen, wenn der Behinderte anders nicht oder nur unter sehr großen Schwierigkeiten befördert werden könnte. Es ist nach der genannten Stellungnahme des Dipl.-Ing. {O.} zwar wohl möglich, einen Rollstuhl in einem Kraftfahrzeug relativ stabil zu befestigen mit einem Rückhaltesystem, das der DIN-Norm 75078 entspricht, aber ein Rollstuhl bietet aufgrund seiner Konstruktion selbst bei der Nachrüstung einzelner Elemente offenbar nicht annähernd die Sicherheit, die bei einer Beförderung auf einem Fahrzeugsitz mit Sicherheitsgurt bzw. speziellem Rückhaltesystem für Kinder gegeben ist. Die Firma {M.} führt in der genannten Stellungnahme u.a. aus:

12

„Wie Testberichte aus der Automobil-Industrie belegen, können im Autoverkehr z.B. beim Bremsen oder bei Unfällen Kräfte auftreten, die erheblich höher sind als für einen Rollstuhl mit Insassen zu Grunde gelegt werden, und natürlich auch vielfältiger. Einzelne Bauteile oder die Gesamtkonstruktion des Rollstuhls halten unter Umständen diesen Belastungen nicht stand, extreme Szenarien können die Folge sein. Die Anforderungen an einen Rollstuhl, der zum Personentransport in Fahrzeugen geeignet sein könnte, sind ungleich anders und zu Ende gedacht sogar kontraproduktiv gegenüber dem Ausgangsauftrag, geeignete Mobilitätshilfen zur Verfügung zu stellen. Um es zu verdeutlichen, ein neuzeitlicher Rollstuhl sollte wendig, leicht und bezogen auf den Einsatz funktional sein. Eine Rollstuhlkonstruktion, die eine annähernde Sicherheit bieten würde wie ein KFZ Sitz-Rückhaltesystem, müßte deren Attribute haben wie Sitzverankerung und Personenrückhaltesystem, hohe Rückenlehne, Kopfstütze, Front und Seiten-Airbag. Die angesprochenen Komponenten müssten die zu erwartende Beanspruchung berücksichtigend, dimensioniert werden. Zudem müsste dieses Konstrukt an die jeweiligen Verhältnisse des gerade benutzten KFZ’s Anpassung finden.“

13

Der Dipl.-Ing. {O.} äußert in seiner genannten Stellungnahme, Rollstühle seien – im Gegensatz zu Fahrzeugsitzen – nicht für die Belastungen ausgelegt, die bei einem sehr schweren Aufprall einwirken könnten. Trotzdem werde in der Praxis die Beförderung von Menschen in Kraftfahrzeugen sitzend in einem Rollstuhl durchgeführt, weil ein Umsetzen auf einen Fahrzeugsitz meist nicht möglich sei (z.B. Spezialsitze erforderlich oder hohes Gewicht des Behinderten). Um überhaupt eine weitere Mobilität zu gewährleisten, werde dann der Behinderte mit samt Rollstuhl im Fahrzeug befördert. ... Im Hinblick auf die Sicherung eines behinderten Menschen bei einem schweren Verkehrsunfall sei zunächst immer zu prüfen, ob ein Umsetzen  möglich sei.“

14

Es unterliegt hier keinem Zweifel, dass ein Umsetzen des Antragstellers von seinem Rollstuhl auf einen Fahrzeugsitz ohne weiteres möglich ist. Der Antragsteller wiegt etwa 20 kg und ist 1,30 m groß. Grundsätzlich müsste eine erwachsene Person in der Lage sein, das Umsetzen des Antragstellers, wobei dieser offenbar auch mithelfen kann, alleine vorzunehmen. Sollte dies im Einzelfall nicht möglich sein oder arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen entgegenstehen, was die Kammer an dieser Stelle nicht zu prüfen hat, dann ist eine weitere Person für das Umsetzen hinzuzuziehen. Dies ist kein Aufwand, der unter Berücksichtigung des geschilderten Sicherheitsaspektes außer Verhältnis steht. Soweit der Antragsgegner meint, er könne aufgrund der angespannten Haushaltslage eine zusätzliche Begleitperson nicht stellen, tragen diese Erwägungen nicht; denn Kostengesichtspunkte finden dann keine Berücksichtigung, wenn eine zumutbare Transportalternative – wie hier – nicht besteht .

15

Im Übrigen ist es fraglich, ob nicht auch bei dem von dem Antragsgegner vorgesehenen Schülertransport, mehrere Schülerinnen und/oder Schüler in Rollstühlen sitzend in einem Fahrzeug, eine Begleitperson vorzusehen wäre. Der Gemeinde-Unfallversicherungsverband {P.} äußert in seiner an den Antragsgegner gerichteten Stellungnahme vom 14. Juni 2002, es erscheine wichtig, dass es für einen derartigen Behindertentransport Begleitpersonen gebe, damit die Beobachtung der Schülerinnen und Schüler während der Fahrt nicht ausschließlich dem Fahrzeugführer obliege. Mit solchen Maßnahmen sei zweifellos eine Erhöhung des Sicherheitsstandards verbunden.

16

Hier wäre, wenn der Antragsteller auf einem Fahrzeugsitz sitzend befördert würde, eine zusätzliche Begleitperson nicht unbedingt erforderlich. Bei der Abfahrt von zu Hause und bei der Rückkehr dorthin helfen dem Antragsteller seine Eltern. Der Antragsgegner müsste lediglich dafür Sorge tragen, dass jemand zur Verfügung stünde, den Antragsteller bei der Ankunft und der Abfahrt von der Schule umzusetzen. Dies könnte eine Hilfsperson sein, die nur am Schulort zum Einsatz käme.

17

Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Der Antragsteller muss seine Schulpflicht erfüllen und deshalb unter zumutbaren Beförderungsbedingungen schultäglich nach {L.}.

18

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

19

2. Der Prozesskostenhilfeantrag wird abgelehnt; denn der Antragsteller hat seinen Antrag gestellt, ohne die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse abzugeben, obwohl er hierzu ausdrücklich aufgefordert worden ist. Gemäß § 166 VwGO iVm § 117 Abs. 2 bis 4 ZPO ist der dort vorgeschriebene Erklärungsvordruck zu verwenden.