Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 09.01.2017, Az.: 13 B 6976/16
Aufenthaltstitel; drittschützende Wirkung; Visum; drittschützende Wirkung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 09.01.2017
- Aktenzeichen
- 13 B 6976/16
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 53570
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 19 Abs 1 EUV 604/2013
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 28. November 2016 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.11.2016 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage.
Bei dem Antragsteller handelt es sich um einen türkischen Staatsbürger, der in der Bundesrepublik Deutschland um Asyl nachgesucht hat.
Der Antragsteller hatte zuvor bereits in Finnland einen Asylantrag gestellt. Mitte des Jahres 2012 reiste der Antragsteller legal mit einem Visum zum Zwecke des Ehegattennachzuges in Deutschland ein. Nachdem die zuständige Ausländerbehörde aufgrund der Trennung von der Ehefrau dem Antragsteller einen weiteren Aufenthaltstitel verweigerte, stellte der Antragsteller in Deutschland am 27.06.2016 ebenfalls einen Asylantrag.
Die Antragsgegnerin richtete daraufhin ein Übernahmeersuchen an Finnland. Nachdem die finnischen Behörden sich Anfang Juli 2016 zur Übernahme des Antragstellers bereit erklärten, lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 09.11.2016, zugestellt am 23.11.2016, den erneuten Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab, verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG und ordnete die Abschiebung nach Finnland an.
Der Antragsteller hat am 28.11.2016 Klage hiergegen erhoben und gleichzeitig um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.
Er hält den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.11.2016 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie tritt dem Bescheid entgegen.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
II.
Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 AsylG durch den Einzelrichter.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelf (§ 80 Abs. 1 VwGO) ganz oder teilweise wiederherstellen bzw. in Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO die aufschiebende Wirkung anordnen. Dabei prüft das Gericht zum einen, ob im Fall des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die Anordnung der sofortigen Vollziehung ordnungsgemäß nach § 80 Abs. 3 VwGO begründet wurde. Zum anderen trifft das Gericht eine eigene Interessenabwägung zwischen dem privaten Interesse des bzw. der Antragsteller, vorläufig von den Wirkungen des angefochtenen Verwaltungsaktes verschont zu bleiben (Aufschubinteresse) und dem besonderen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsaktes (Sofortvollzugsinteresse). Bei dieser Interessenabwägung sind wiederum zunächst die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs des bzw. der Antragsteller in der Hauptsache zu berücksichtigen, soweit diese bei summarischer Prüfung absehbar sind. Bestehen bereits bei summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes (vgl. § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO) und wird der Rechtsbehelf deshalb in der Hauptsache mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben, ist dem Antrag regelmäßig stattzugeben, denn ein überwiegendes öffentliches (oder anderes privates) Interesse am sofortigen Vollzug eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kommt nicht in Betracht. Bestehen solche Zweifel nicht, erweist sich also der angegriffene Verwaltungsakt bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig und wird der Rechtsbehelf in der Hauptsache deshalb mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben, so ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in der Regel abzulehnen. Im vorliegenden Fall spricht jedoch alles dafür, dass sich der Bescheid vom 09.11.2016 als rechtswidrig erweisen wird.
Die Bundesrepublik Deutschland ist nach Art. 19 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 für die Bearbeitung des Asylantrages des Antragstellers zuständig. Nach dieser Vorschrift obliegen dem Mitgliedstaat, der einem Antragsteller einen Aufenthaltstitel erteilt, die Pflichten nach Artikel 18 Absatz 1.
Dem Antragsteller wurde unstreitig - die Antragsgegnerin ist dem entsprechenden Vortrag nicht entgegengetreten - ein Visum erteilt. Ein Visum stellt nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG jedoch einen Aufenthaltstitel dar.
Mit Erteilung des Visums ist die Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 19 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 für die Bearbeitung des Asylantrages des Antragstellers zuständig geworden.
Der Antragsteller kann sich auch auf den Zuständigkeitswechsel berufen. Die Vorschrift hat drittschützende Wirkung.
Zwar hat das VG Gelsenkirchen in seinem Urteil vom 25.11.2014 (6a K 3817/14.A) ausgeführt, es spreche Überwiegendes dafür, dass Art. 19 der Dublin III-Verordnung keine subjektiven Rechte eines Antragstellers begründen, dass sein Asylverfahren im „richtigen“, d.h. zuständigen Mitgliedstaat durchgeführt wird.
Nach dem Urteil des EuGH - Große Kammer - vom 07.06.2016 - C-155/15 - ist nunmehr jedoch davon auszugehen, dass auch die Vorschrift des Art. 19 der Dublin-III-Verordnung ein individuelles Recht eines Asylbewerbers begründet.
Der EuGH hat in der genannten Entscheidung zu Art. 19 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 u.a. ausgeführt:
„Auch wenn im Übrigen die Anwendung der Verordnung Nr. 604/2013 im Wesentlichen auf der Durchführung eines Verfahrens zur Ermittlung des zuständigen Mitgliedstaats beruht, der aufgrund der in Kapitel III der Verordnung festgelegten Kriterien bestimmt wird (Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash, C-63/15, Rn. 41), wird doch durch die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung der Rahmen bestimmt, in dem dieses Verfahren durchzuführen ist, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige nach der ersten Stellung eines Asylantrags in einem Mitgliedstaat das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, bevor er einen neuen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat. Dieser Regelung ist nämlich, wie oben in Rn. 17 ausgeführt, zu entnehmen, dass in einem solchen Fall der Mitgliedstaat, bei dem der neue Asylantrag gestellt worden ist, das Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats durchzuführen hat, der für die Prüfung dieses neuen Antrags zuständig ist. Dieses neue Verfahren der Zuständigkeitsbestimmung unterscheidet sich von dem ursprünglich durch den Mitgliedstaat, bei dem der erste Asylantrag gestellt worden war, durchgeführten Verfahren und kann zur Bestimmung eines neuen zuständigen Mitgliedstaats aufgrund der in Kapitel III der Verordnung Nr. 604/2013 normierten Kriterien führen. Daher muss das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht, um sich zu vergewissern, dass diese Entscheidung nach einer fehlerfreien Durchführung des in der Verordnung vorgesehenen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ergangen ist, das Vorbringen eines Asylbewerbers prüfen können, mit dem ein Verstoß gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung geltend gemacht wird. Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 im Licht ihres 19. Erwägungsgrundes dahin auszulegen ist, dass in einem Sachverhalt wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung einen Verstoß gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung geltend machen kann“ (EuGH, Urteil vom 07. Juni 2016 – C-155/15 –, Rn. 27, juris).“
Diese Entscheidung ist zwar zu Art. 19 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung ergangen. Sowohl Abs. 1 als auch Abs. 2 dieser Vorschrift regeln den Übergang der Zuständigkeit von einem anfänglich zuständigen Staat auf einen anderen Staat. Bei Absatz 1 hängt der Übergang der Zuständigkeit von der Erteilung eines Aufenthaltstitels ab, bei Absatz 2 von der Zeitdauer des Verlassens des Hoheitsgebietes. Die Erwägungen des EuGH hinsichtlich des Art. 19 Abs. 2 sind nach alledem, weil im Grundsatz die gleichen Rechtsinteressen berührt werden, auch auf den Abs. 1 des Art. 19 Dublin III-Verordnung anzuwenden mit der Folge, dass der Antragsteller eine Verletzung dieser Vorschrift in diesem Verfahren rügen kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).