Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 15.12.2016, Az.: 10 A 4259/15

Kriminalakte; personenbezogene Daten; polizeiliche Datenverarbeitung; Strafverfolgung; Wiederholungsprognose

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
15.12.2016
Aktenzeichen
10 A 4259/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 43425
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei einer Kriminalakte größeren Umfangs (hier: 113 Blatt, 39 Tatvorwürfe, 11 Verurteilungen zu Geld- und Freiheitsstrafen) können sich aus einer Gesamtschau des Akteninhalts Restverdacht, Wiederholungsprognose und Erforderlichkeit der Speicherung im Sinne des § 39 Abs. 3 Satz 2 Nds. SOG auch für einzelne, für sich genommenen nicht speicherungsbedürftige Einträge ergeben.

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Löschung der zu seiner Person geführten elektronischen Kriminalakte.

Er ist 1963 geboren und seit dem Jahr 1981 verschiedenfach und wiederholt polizeilich in Erscheinung getreten. Er wurde seit 1987 sechsmal erkennungsdienstlich behandelt. Ein Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 23. Juni 2015 weist keine Eintragungen auf; frühere Auszüge vom 17. April 2007 Einträge zu elf Entscheidungen und vom 10. Mai 1999 Einträge zu zehn Entscheidungen.

Beim Zentralen Kriminaldienst – KFI 5.3 – der Beklagten wurde über den Kläger zunächst die Kriminalakte C. geführt, die am 10. August 2015 nach Digitalisierung vernichtet worden ist und nunmehr digital geführt wird. Der von der Beklagten vorgelegte Ausdruck enthält – neben Vorblättern und Schriftverkehr – insgesamt 113 Blätter mit Mitteilungen und anderen polizeilichen Erkenntnissen zu 40 Vorfällen, darunter 46 polizeiliche Merkblätter und elf Mitteilungen in Strafsachen über Geld- und Freiheitsstrafen. Wegen Einbruchs-, Diebstahls- und Raubdelikten wurde gegen den Kläger insgesamt 15mal ermittelt (einmal davon wegen insgesamt sieben Taten), sieben weitere Male wegen Hehlerei.

Mit Schreiben vom 15. Mai 2015 ließ der Kläger bei der Beklagten die Löschung aller personenbezogenen Daten, die polizeilicherseits über ihn gesammelt seien, beantragen.

Mit Bescheid vom 27. Juli 2015 lehnte die Beklagte den Antrag auf Vernichtung der Kriminalakte ab. Der Kläger sei wiederholt polizeilich in Erscheinung getreten und als Tatverdächtiger geführt worden. Darauf stütze sich die Prognose, dass er auch künftig Straftaten begehen werde. Ältere Einträge, die teilweise keine Aktenzeichen enthielten, seien weiterhin erforderlich, um ein Gesamtbild der Persönlichkeit des Klägers zu zeigen. Das Aussonderungsprüfdatum sei auf den 10. November 2016 festgelegt worden.

Der Kläger hat am 26. August 2015 Klage erhoben. Er werde bei Polizeikontrollen wie ein Schwerverbrecher behandelt, obwohl im Bundeszentralregister keine Einträge mehr geführt seien und er deshalb als unbestraft gelte. In ihrem Bescheid vom 27. Juli 2015 nehme die Beklagte auf zahlreiche Verfahren Bezug, in denen gegen ihn niemals ermittelt worden sei. Zu löschen seien jedenfalls alle Verfahren, die aufgrund von § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden seien. Hierzu benennt der Kläger insgesamt 22 Vorgänge aus den Jahren 1981 bis 2013, bei denen er die Erforderlichkeit der Speicherung bestreitet.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 27. Juli 2015 zu verpflichten, die zu seiner Person geführte elektronische Kriminalakte zu löschen.

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid,

die Klage abzuweisen.

Die Einstellung von Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO stehe der weiteren Speicherung von Merkblättern in der Kriminalakte nicht entgegen, wenn ein Restverdacht gegen den Betroffenen fortbestehe. Dies sei angesichts der häufigen strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Kläger anzunehmen. Während des gerichtlichen Verfahrens hat die Beklagte mitgeteilt, dass in dem Bescheid vom 27. Juli 2015 wegen eines Büroversehens 22 polizeiliche Merkblätter und zehn Mitteilungen in Strafsachen erwähnt worden sind, die weder Bestandteile der Kriminalakte des Klägers waren oder sind noch sonst mit dem Kläger in Zusammenhang stehen.

Weiter hat sie mitgeteilt, dass den Kläger erneut strafrechtliche Ermittlungen geführt worden sind, die Kriminalakte ergänzt und das Aussonderungsprüfdatum auf den 13. April 2021 festgesetzt worden ist.

Wegen des weiteren Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Löschung seiner vollständigen Kriminalakte oder von Teilen daraus. Der angefochtene Bescheid, mit dem die Beklagte die Löschung bzw. Vernichtung der Kriminalakte abgelehnt hat, verletzt ihn daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Nach § 39 a Abs. 1 Satz 1 Nds. SOG besteht ein Anspruch auf Löschung der gespeicherten Daten, wenn eine Speicherung, Veränderung oder Nutzung personenbezogener Daten zu einem der in den §§ 38 und 39 Nds. SOG genannten Zwecke nicht mehr erforderlich ist.

Bei den in der Kriminalakte enthaltenen Daten handelt es sich um personenbezogene Daten, nämlich um Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse von bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Personen im Sinne von § 3 Abs. 1 NDSG.

Nach § 39 Abs. 3 Satz 1 und 2 Nds. SOG kann die Polizei personenbezogene Daten, die sie im Rahmen der Verfolgung von Straftaten über eine tatverdächtige Person rechtmäßig erhoben oder rechtmäßig erlangt hat, zur Verhütung von Straftaten nur speichern, verändern oder nutzen, wenn dies wegen der Art, Ausführung oder Schwere der Tat sowie der Persönlichkeit der tatverdächtigen Person zur Verhütung vergleichbarer künftiger Straftaten dieser Person erforderlich ist. Die Beklagte führt Kriminalakten zum Zwecke der präventiven Verhütung von Straftaten. Daher ist nach den vorstehend beschrieben Maßstäben für die weitere Datenspeicherung erforderlich, dass die betroffene Person verdächtig ist, eine Straftat begangenen zu haben, dass also ein Tatverdacht besteht, und dass die Besorgnis der Begehung weiterer vergleichbarer Straftaten besteht, also eine Wiederholungsgefahr gegeben ist.

Diese Bewertung ist unter Berücksichtigung kriminalistischer Erfahrungen sowie aller hier relevanten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 1.6.2006 – 1 BvR 2293/03 – juris; Nds. OVG, Beschluss vom 5.12.2001 – 11 LA 2741/01 –, n. v.; VG Hannover, Urteil vom 25.6.2001 – 10 A 1469/01 – n. v.). Zugunsten einer weiteren Aufbewahrung ist das prinzipielle Bedürfnis der Polizeipraxis zu berücksichtigen, in den polizeilichen Verbunddateien und Kriminalakten innerhalb der zeitlichen Grenzen der Aussonderungsprüffristen einen möglichst umfassenden Überblick über die kriminelle Aktivität und “Karriere” einer Person zu behalten. Durch die Auflistung und Aufbewahrung eines solchen “Werdeganges” kann den Intentionen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung wirksam entsprochen und auch die in den Polizeigesetzen verschiedentlich verlangte Prognose über einen Betroffenen gestellt werden. Auf der anderen Seite sind die Art und die Bedeutung der Daten in Rechnung zu stellen, deren Löschung in Streit steht. Je unbedeutender sich die Daten nach der Schwere der zugrundeliegenden Straftat und je uninteressanter sie sich unter kriminalistischen Aspekten darstellen, desto stärker schlagen die während der gesamten Aufbewahrungszeit andauernden und im Moment der Überprüfung aktuell werdenden Datenschutzbelange des Betroffenen zu Buche.

Bei der Betrachtung einzelner Taten ist ein Tatverdacht jedenfalls in den Fällen ohne weiteres zu bejahen, in denen das Ermittlungsverfahren, das Gegenstand der gespeicherten Daten ist, zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt hat. Auch bei einer Verfahrenseinstellung nach § 153 oder § 153 a StPO bleibt der Beschuldigte in der Regel verdächtig, die ermittelten Taten begangen zu haben und es bestehen im Grundsatz keine Bedenken, auch die entsprechenden Daten (weiter) zu speichern (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 5.12.2001 – 11 LA 2741/01 – m. w. N., n. v.). Um in den Fällen des Freispruchs oder der Einstellung eines Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO einen weiterhin bestehenden Tatverdacht annehmen zu können, bedarf es hingegen grundsätzlich zusätzlicher – von der Polizeibehörde darzulegender und von ihr ggfs. zu ermittelnder – Anhaltspunkte, die sich insbesondere aus den Ausführungen im freisprechenden Urteil bzw. im Einstellungsbeschluss oder aus – zeitnah mit der Verfahrensbeendigung vorzunehmenden – Nachfragen bei der Staatsanwaltschaft ergeben können (vgl. VG Hannover, Urteil vom 25.6.2001 – 10 A 1469/01 – n. v.).

Diese Grundsätze beanspruchen jedoch bei der Abwägung keine uneingeschränkte Geltung. Sind – wie im Fall des Klägers – in der Kriminalakte zahlreiche Verfahren mit unterschiedlichem Ausgang gespeichert, geht es bei neu hinzutretenden Erkenntnissen nicht um die Frage, ob erstmalig eine Kriminalakte angelegt wird, sondern um deren Ergänzung. Entsprechend lassen sich bei einer Kriminalakte ab einem gewissen Umfang die darin enthaltenen Erkenntnisse nicht isoliert betrachten, sondern müssen am Gesamtbild gemessen werden, das sich aus einer Zusammenschau der Erkenntnisse ergibt (vgl. VG Hannover, Urteil vom 6.3.2015 – 10 A 5476/11 –). Auch aus diesem Gesamtbild können sich ein Restverdacht, die Wiederholungsprognose und die Erforderlichkeit der Speicherung ergeben. Die Zusammenschau mit anderen dokumentierten Vorfällen kann dabei auch Handlungen in einem anderen Licht erscheinen lassen, die für sich genommen neutral oder lediglich am Rande der Legalität sind oder deren Umstände schlicht nicht weiter aufklärbar sind.

Ein solches Gesamtbild zeigt auch der Fall des Klägers, der vor allem im Zusammenhang mit Eigentumsdelikten häufig in Erscheinung getreten ist, ohne dass ihm dabei strafbare Handlungen mit der für eine Verurteilung erforderlichen Gewissheit nachgewiesen werden konnten. Die zu seiner Person geführte Kriminalakte enthält 40 Einträge aus den Jahren 1981 bis 2016. Wegen Einbruchs-, Diebstahls- und Raubdelikten wurde gegen den Kläger insgesamt 15mal ermittelt (einmal davon wegen insgesamt sieben Taten), sieben weitere Male wegen Hehlerei. Der Kläger wurde elfmal zu Geldstrafen verurteilt, wobei aus zwei Verurteilungen nachträglich durch Beschluss eine Gesamtstrafe gebildet worden ist. Weiterhin wurde der Kläger sechsmal erkennungsdienstlich behandelt.

Der Einwand des Klägers, nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellte oder nicht mit ihrem Ausgang dokumentierte Verfahren müssten ohne weitere Betrachtung gelöscht werden, bleibt angesichts dessen ohne Erfolg.

Auch wenn ein Strafverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist, kann schon der Umstand, dass gegen den Betroffenen wegen gleichartiger oder ähnlicher Delikte bereits mehrfach erfolglos ermittelt worden ist, die Speicherung des Verfahrensausgangs rechtfertigen, selbst wenn sich der Restverdacht wegen der Vernichtung der Akten nicht mehr konkret belegen lässt. Das gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – der übrige Inhalt der Kriminalakte die Prognose einer Wiederholungsgefahr zweifellos trägt.

Bei sieben Verfahren ist die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO dokumentiert, bei 26 Verfahren kein Verfahrensausgang. In 29 der vorgenannten Fälle enthalten die Eintragungen in der Kriminalakte allerdings dokumentierte Verdachtsmomente, etwa dass der Kläger von Zeugen wiedererkannt worden ist, wegen Tatverdachts die Durchsuchung seiner Wohnung durch das Amtsgericht beschlossen wurde oder das Auto des Klägers verwendet worden ist. In neun Fällen wurden bei dem Kläger oder in seiner Wohnung Gegenstände gefunden, die aus Eigentumsdelikten herrührten. In sieben Fällen wurde der Kläger am Tatort beobachtet oder festgenommen.

Eine Zusammenschau dieser Erkenntnisse lässt erkennen, dass der Kläger nicht vereinzelt oder zufällig, sondern mit einer gewissen Regelmäßigkeit in den Fokus polizeilicher Ermittlungen geraten ist. Er ist auch regelmäßig nicht als Beteiligter offenkundig ausgeschieden oder allein aufgrund einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung der Polizeibehörden als mutmaßlicher Täter angesehen worden, sondern aufgrund konkreter Anhaltspunkte, die sich mit ihm in nachvollziehbarer Weise in Verbindung bringen ließen. Dass sich der Tatvorwurf in den meisten Fällen nicht in einer die Anklageerhebung tragenden Weise erhärten ließ oder das dem Kläger vorgeworfene Verhalten letztlich als geringfügig bzw. unterhalb der Strafbarkeitsschwelle eingestuft wurde, steht dem nicht entgegen.

Schließlich kann der Kläger einen Anspruch auf Löschung seiner personenbezogenen Daten auch nicht darauf stützen, dass diese aufgrund bloßen Zeitablaufs nicht mehr erforderlich wären. Die Beklagte ist aufgrund von § 47 Abs. 1 Nds. SOG verpflichtet, nach Ablauf konkreter Fristen zu prüfen, ob die Daten noch erforderlich sind. Diese Prüffrist ist nicht zugleich eine Speicherungshöchstfrist – die erforderliche Prüfung kann vielmehr auch ergeben, dass eine weitere Speicherung der Daten erforderlich ist. Zwar ist § 47 Abs. 1 Nds. SOG erkennbar von der Erwägung geprägt, dass dies jedenfalls nach Ablauf der gesetzlichen Höchstdauer der Prüffristen regelmäßig nicht mehr der Fall ist. Diese Vermutung wird jedoch dann erschüttert, wenn sich die zu einer Person gespeicherten Erkenntnisse nicht auf einen einzelnen Datensatz (d. h. einen Lebenssachverhalt) beziehen, sondern weitere Datensätze hinzukommen. In diesem Fall kann es gerechtfertigt sein, die Prüffristen in angemessenem Umfang zu verlängern. Insbesondere angesichts der Regelmäßigkeit, mit der der Kläger bisher polizeilich in Erscheinung getreten ist, ist die Verlängerung der Prüffrist bis zum 13. April 2021 von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Selbst der Ablauf der (verlängerten) Frist zur erneuten Prüfung begründet im Übrigen für sich genommen noch keinen Löschungsanspruch.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 Satz 1 und 2 ZPO.

Gründe, gemäß § 124 Abs. 2 Nrn. 3 und 4, § 124 a Abs. 1 VwGO die Berufung zuzulassen, sind nicht ersichtlich. Weder hat der Rechtsstreit über den konkreten Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung, noch weicht das Gericht von der Rechtsprechung der dort genannten Obergerichte ab.