Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 30.06.2006, Az.: L 5 B 3/05 SB SF

Anspruch auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft; Beschwerdeberechtigung einer Bezirksrevisorin; Ausschluss der Erhöhung des Grades der Behinderung bei fehlendem Nachweis hinsichtlich einer Gesundheitsverschlechterung; Kostenerstattung für ein Sachverständigengutachten lediglich bei wesentlicher Förderung der Sachverhaltsaufklärung; Unbeachtlichkeit der Förderung des subjektiven Verhaltens des Klägers durch das Gutachten

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
30.06.2006
Aktenzeichen
L 5 B 3/05 SB SF
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 18056
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0630.L5B3.05SB.SF.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim - 21.02.2005 - AZ: S 19 SB 38/02

Tenor:

Der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 21. Februar 2005 wird aufgehoben.

Der Kläger trägt die Kosten des von dem Sachverständigen Dr. F. (G.) gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erstatteten Gutachtens endgültig.

Gründe

1

I.

Das dem Beschwerdeverfahren zu Grunde liegende Klageverfahren betraf den Anspruch des Klägers auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 19. März 2003 hatte das Sozialgericht (SG) Hildesheim den Arzt für Chirurgie und Orthopädie Prof. Dr. H. als Sachverständigen gehört, der den Kläger vor der Sitzung untersucht hatte. In der Gesamtschau ergab sich, so Prof. Dr. H., orthopädisch-chirurgisch unverändert ein Grad der Behinderung (GdB) von 40, wie ihn die Versorgungsverwaltung im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren angenommen hatte. Das SG vertagte den Rechtsstreit und holte von dem Facharzt für HNO-Heilkunde Dr. I. von Amts wegen das Gutachten vom 9. August 2003 ein. Die von ihm festgestellte gering- bis mittelgradige Schwerhörigkeit bewertete der Gutachter mit einem GdB von 10.

2

Im weiteren Verlauf des Klageverfahrens holte das SG von Amts wegen das weitere orthopädische Gutachten des Dr. J. vom 12. Juli 2004 ein. Den Gesamt-GdB stufte Dr. J. mit 40 ein.

3

Auf die Anfrage des SG an den Bevollmächtigten des Klägers, ob die Klage in Kenntnis des Gutachtenergebnisses noch fortgeführt werde und auf den gerichtlichen Hinweis auf § 109 SGG beantragte der Kläger Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG von dem Facharzt für Chirurgie Dr. F., das dieser nach Einzahlung eines Kostenvorschusses unter dem 21. Dezember 2004 erstattete. Dr. F. erklärte, mit den Vorgutachtern Prof. Dr. H. und Dr. J. in der Bewertung des Gesamt-GdB mit 40 überein zu stimmen.

4

Mit Schriftsatz vom 11. Februar 2005 nahm der Kläger daraufhin die Klage zurück mit dem gleichzeitigen Antrag, die Kosten des nach § 109 SGG von Dr. F. eingeholten Gutachtens auf die Staatskasse zu übernehmen. Das Gutachten habe wesentlich zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts beigetragen. Zwar sei der Sachverständige letztlich nicht zu einem den Klageanspruch tragenden Ergebnis gekommen. Gleichwohl sei es ihm hierdurch leichter gefallen, die Klage zurückzunehmen.

5

Mit Beschluss vom 21. Februar 2005 hat das SG die durch die Anhörung des Dr. F. entstandenen Kosten sowie die baren Auslagen und den Zeitverlust des Klägers als Gerichtskosten auf die Staatskasse übernommen. Das Gutachten habe zur weiter gehenden Klärung des medizinischen Sachverhalts und schließlich zur endgültigen Erledigung des Rechtsstreits geführt und sei daher für das Verfahren erforderlich und fördernd gewesen.

6

Gegen diesen Beschluss hat die Bezirksrevisorin bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen am 11. März 2005 Beschwerde eingelegt. Der hier nach § 109 SGG beauftrage Gutachter habe im Ergebnis mit den Vorgutachtern übereingestimmt. Das Gutachten habe keine neuen entscheidungserheblichen Befunde erbracht und im Ergebnis auch nicht zum Klageerfolg geführt. Deshalb habe der Kläger die Kosten endgültig selbst zu tragen. Im Übrigen hält die Bezirksrevisorin die Landeskasse für beschwerdeberechtigt und stützt sich hierfür u.a. auf Beschlüsse des LSG Baden-Württemberg.

7

Die Bezirksrevisorin beantragt,

den Beschluss des SG Hildesheim vom 21. Februar 2005 aufzuheben und den Antrag des Klägers auf Übernahme der Kosten des nach § 109 SGG erstatteten Gutachtens des Dr. F. auf die Staatskasse abzulehnen.

8

Der Kläger beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

9

Er weist darauf hin, dass der den Gutachtenauftrag nach § 109 SGG zu Grunde liegende Beweisbeschluss gegenüber der Vorbegutachtung durch Dr. J. eine ergänzende Frage enthalten habe, nämlich welche und inwiefern die Gesundheitsstörungen die Belastungsfähigkeit des Klägers im allgemeinen Erwerbsleben einschränkten. Letztendlich habe das Gutachten von Dr. F. zur weiter gehenden Klärung des medizinischen Sachverhalts beigetragen, was schließlich zur Klagerücknahme geführt habe.

10

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem LSG zur Entscheidung vorgelegt. Im Nichtabhilfebeschluss heißt es: Das Gutachten des Dr. F. habe den medizinischen Sachverhalt aus Sicht des Gerichts weiter aufgeklärt und auf eine weitere Grundlage gestellt, so dass das Gericht in der mündlichen Verhandlung die gegen das von Amts wegen eingeholte Gutachten erhobenen Einwendungen nunmehr aus Sicht zweier unabhängiger Mediziner habe widerlegen können. Dies habe zur unstreitigen Erledigung des Rechtsstreits geführt, der ansonsten hätte ausgeurteilt werden müssen.

11

Dem Beschwerdeverfahren hat die Prozessakte zu Grunde gelegen; auf ihren Inhalt wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.

12

II.

Der Beschluss des SG vom 21. Februar 2005 war auf die Beschwerde der Bezirksrevisorin aufzuheben.

13

Die Bezirksrevisorin ist beschwerdeberechtigt. Der Senat schließt sich insoweit den Entscheidungen des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Februar 1982 - L 10/Ko 48/83 B - und vom 7. Oktober 1982 - L 10/Ko 108/82 B - an, denen das Hessische Landessozialgericht im Beschluss vom 11. Dezember 1984 - L 3/B-4/84 - gefolgt ist. Dem Beschwerderecht des Vertreters der Staatskasse steht weder das Gewaltenteilungsprinzip entgegen noch die grundsätzliche Kostenfreiheit des sozialgerichtlichen Verfahrens.

14

Zu Recht hat die Vertreterin der Staatskasse die Übernahme der Kosten des nach § 109 SGG eingeholten Sachverständigengutachtens auf die Staatskasse beanstandet.

15

Eine Kostenübernahme kann nur dann erfolgen, wenn das Gutachten die Sachaufklärung wesentlich gefördert hat (Meyer-Ladewig, SGG, § 109 Rn. 16 m.w.N.). Die im Ermessen des Gerichts liegende Entscheidung ist im Beschwerdeverfahren voll nachprüfbar (vgl. hierzu auch Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Juli 2003 - L 10 U 964/03 KO-B/L 10 U 2023/01 KO-B).

16

Das Gutachten des Dr. F. hat die Sachverhaltsaufklärung n i c h t wesentlich gefördert. Der Gutachter hat vielmehr in der Gesamtbewertung des GdB mit den Vorgutachtern Prof. Dr. H. und Dr. J. übereingestimmt. Auch sonst hat sein Gutachten keine wesentlich neuen Erkenntnisse zum Gesundheitszustand des Klägers erbracht, die über diejenigen der Vorgutachten hinausgingen (siehe ausdrücklich die Feststellung von Dr. F. auf Seite 23 seines Gutachtens, dass wesentliche Neuerkrankungen, die nicht bereits im Rahmen der Vorgutachten erwähnt worden seien, nicht bestünden). Zwar hat die Untersuchung durch Dr. F. ergeben, dass die rechte Schulter nur noch bis 100 ° gehoben werden konnte, während Dr. J. hier ein Bewegungsausmaß von noch 120 ° festgestellt hatte. Auf die Höhe des Gesamt-GdB wirkt sich das nach dem Urteil des Dr. F. jedoch nicht aus. Eine solch geringfügige Veränderung lässt den medizinischen Sachverhalt in seiner Gesamtheit unberührt, so dass diese Erkenntnis nicht als wesentlich für die Sachverhaltsaufklärung bezeichnet werden kann.

17

Eine Förderung der Sachverhaltsaufklärung ist jedenfalls durch das nach § 109 SGG eingeholte Gutachten nicht eingetreten. Es kommt entgegen der Ansicht des SG und des Klägers n i c h t darauf an, dass der Kläger sich durch das Gutachten von Dr. F. zur Klagerücknahme hat bewegen lassen. Zur Kostenübernahme kann nicht führen, dass ein weiteres Gutachten eingeholt wurde, dieses Gutachten die Einwendungen des Klägers gegen die von Amts wegen erstatteten Vorgutachten widerlegte und dies zur unstreitigen Erledigung des Rechtsstreits führte, der ansonsten hätte ausgeurteilt werden müssen. Der medizinische Sachverhalt ist dadurch in keiner Weise weiter aufgeklärt worden. Es ist nicht zulässig, eine Verbindung herzustellen zwischen der Förderlichkeit eines nach § 109 SGG eingeholten Gutachtens für die Sachverhaltsaufklärung und dem späteren Prozessverhalten des Klägers. Der Anspruch auf Kostenübernahme kann nicht schon deshalb bestehen, weil der Kläger durch Herbeiführen einer unstreitigen Erledigung dem Gericht eine Entscheidung erspart. Letztlich liefe eine Kostenübernahme in Fällen der hier vorliegenden Art dazu, dass bei streitiger Erledigung nach Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG der "unbotmäßige" Kläger sanktioniert würde, indem er allein wegen seines Prozessverhaltens die Kosten des auf seinen Antrag hin eingeholten Gutachtens selbst zu tragen hätte. Daran wird ersichtlich, dass es bei der Frage der Kostenübernahme durch die Staatskasse richtigerweise auf die objektive Förderung der Sachverhaltsaufklärung ankommt und nicht auf die Förderung des subjektiven Verhaltens des Klägers mit dem Ziel einer unstreitigen Erledigung. Die Kostenübernahme im Rahmen des § 109 SGG ist kein Instrument zur Steuerung klägerischen Verhaltens (dafür geeignete Grundlage ist allenfalls § 192 SGG).

18

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).