Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 28.06.2006, Az.: L 4 KR 92/03
Kostenerstattung für Leistungen der häuslichen Krankenpflege; Fehlen eines Sachleistungsanspruchs auf häusliche Behandlungspflege in Bezug auf die Medikamentenabgabe; Begriff der Behandlungspflege; Fehlen eines eigenen Haushaltes bzw. des Lebens im Haushalt der Familie
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 28.06.2006
- Aktenzeichen
- L 4 KR 92/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 20474
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0628.L4KR92.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 27.02.2003 - AZ: S 16 KR 181/01
Rechtsgrundlagen
- § 58 S. 1 SGB I
- § 13 Abs. 3 SGB V
- § 37 Abs. 2 S. 1 Alt. 1, 2 SGB V
- § 143f SGG
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Unter Haushalt ist im Krankenversicherungsrecht die häusliche oder wohnungsmäßige Wirtschaftsführung zu verstehen, die auf die Umsetzung von Geldmitteln und Produkten für die existenziellen Bedürfnisse gerichtet ist.
- 2.
Unter dem Begriff "Familie" des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V ist die Gesamtheit der durch Ehe und Verwandtschaft verbundenen Personen zu verstehen.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten wegen der Kostenerstattung für Leistungen der häuslichen Krankenpflege (Medikamentenabgabe).
Die 1913 geborene und am 3. Oktober 2004 verstorbene Versicherte und vorherige Klägerin (nachfolgend: Versicherte) war Mitglied der Beklagten und bezog Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe 2. Sie litt unter einer rheumatischen Polyartrose und einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus. Die Versicherte lebte seit mehreren Jahren in dem Haus der Klägerin, die als Rechtsnachfolgerin diesen Rechtsstreit fortsetzt. Nach den Angaben der Klägerin bewohnte die Versicherte dort eine Dreizimmerwohnung mit Bad; eine Küche war nicht eingerichtet. Die Mahlzeiten wurden für die Versicherte von der Klägerin gekocht und in ihre Wohnung gebracht, wo sie allein aß. Sie zahlte eine monatliche Miete von 400,- Euro und zusätzlich ein Essensgeld.
Der behandelnde Arzt der Versicherten Dr. F., Arzt für Allgemeinmedizin, verordnete der Versicherten Leistungen der häuslichen Krankenpflege in Form von Blutzuckermessung, Verabreichung von Insulininjektionen und Verabreichung von Medikamenten. Es liegen u.a. Verordnungen für den Zeitraum vom 1. April 2001 bis 30. September 2001 vor (vgl Verordnungen vom 29. März, 10. Mai, 1. Juli und 19. Juli 2001). Nach den Unterlagen der Beklagten wurden die Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege, soweit Blutzuckermessungen und Injektionen betroffen waren, von der Beklagten übernommen (vgl Schreiben der Beklagten vom 17. September 2001).
Mit Bescheid vom 16. Mai 2001 lehnte die Beklagte die häusliche Krankenpflege zur Sicherung des ärztlichen Behandlungszieles für die Zeit vom 7. Mai bis 30. Juni 2001 ab. Nach den Informationen der Beklagten lebe die Versicherte im Haushalt von Frau G. (Klägerin), die in der Altenpflege ausgebildet sei. Die verordneten Maßnahmen könnten im Rahmen der häuslichen Gemeinschaft erbracht werden. Hiergegen legte die Versicherte mit Schreiben vom 31. August 2001 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie aus, sie sei nicht mit der Klägerin verwandt. Sie lebe lediglich in deren Haus, wo sie Zimmer gemietet habe. Sie sei nicht in den Haushalt integriert. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. November 2001 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Versicherten zurück.
Zur Durchführung der Medikamentenabgabe nahm die Versicherte im streitbefangenen Zeitraum die Ambulante Pflegedienst GmbH in Anspruch. Der Versicherten entstanden dadurch Kosten in Höhe von 1.741,72 Euro.
Die Versicherte hat am 12. Dezember 2001 Klage vor dem SG Lüneburg erhoben. Der Prozessbevollmächtigte der Versicherten hat vorgetragen, die Versicherte erhalte keine private Pflege, sondern Pflege durch den Pflegedienst. Der Pflegedienst führe auch die Behandlungspflege durch. Das SG hat die Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit der Versicherten nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch, Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) vom 7. September 1998, 3. August 2001 und vom 18. Februar 2002 beigezogen. Es hat einen Befundbericht bei Dr. F. eingeholt. Dieser hat in seinem Bericht vom 12. August 2002 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 15. September 2002 u.a. ausgeführt, die Versicherte könne die Medikamente selbstständig einnehmen, müsse aber daran erinnert werden. Eine regelmäßige Kontrolle der Medikamente sei sicherlich erforderlich.
Das SG hat H. (die jetzige Klägerin) als Zeugin gehört. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift vom 27. Februar 2003 Bezug genommen. Es hat die Klage mit Urteil vom 27. Februar 2003 abgewiesen. Gemäß § 37 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch, Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) bestehe ein Anspruch auf häusliche Krankenpflege nur, soweit eine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen oder versorgen könne. Dies sei bei der Versicherten nicht der Fall. Diese lebe zur Überzeugung des Gerichts im Haushalt der Zeugin I ... Im Einfamilienhaus der Familie I. bewohne sie 3 Zimmer, 1 Schlaf- und 1 Wohnzimmer sowie einen Abstellraum, mit einem kleinen Badezimmer. Zwar entrichte sie einen Mietpreis von 400,- Euro und habe zusätzlich Essensgeld zu zahlen. Gleichwohl sei die Kammer davon überzeugt, dass die Versicherte im Haushalt der Familie Ahlden wohne. So habe sie keine eigene Küche und werde seit ihrem Einzug vor zehn Jahren von der Zeugin Ahlden essenmäßig versorgt. Sie werde auch von ihr gewaschen und gebadet und nehme an Familienfeiern der Familie I. teil. Die Zeugin I. könne der Versicherten die erforderlichen Medikamente verabreichen. Dieses sei im Rahmen der Verabreichung der drei Mahlzeiten pro Tag möglich.
Der Prozessbevollmächtigte der Versicherten hat gegen dieses ihm am 12. März 2003 zugestellte Urteil am 11. April 2003 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt der Prozessbevollmächtigte u.a. vor, entgegen der Auffassung des SG lebe die Versicherte nicht mit der Zeugin I. in einem gemeinsamen Haushalt. Hinsichtlich des Haushaltsbegriffes verweist er auf einen Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart zum Verfahren S 8 KR 121/00 ER.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 27. Februar 2003 und den Bescheid der Beklagten vom 16. Mai 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. November 2001 aufzuheben und
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für Medikamentenabgabe in der Zeit vom 7. Mai 2001 bis 30. September 2001 1.741,72 Euro zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts für zutreffend.
Mit den Beteiligten hat am 21. Dezember 2005 ein Erörterungstermin vor dem Berichterstatter des Senats stattgefunden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten des ersten und zweiten Rechtszuges sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die nach § 143 f Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und im Übrigen form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig.
Das Rechtsmittel ist nicht begründet.
Die Klägerin kann als Rechtsnachfolgerin der verstorbenen Versicherten grundsätzlich zwar einen Anspruch der Versicherten auf Geldleistung gegen die Beklagte geerbt haben (§ 58 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch, Allgemeiner Teil). Der Versicherten stand jedoch kein Anspruch auf Kostenerstattung für die Medikamentenabgabe im Rahmen der häuslichen Krankenpflege gegen die Beklagte zu.
Nach § 13 Abs. 3 SGB V in der im Jahre 2001 geltenden Fassung sind Kosten in der entstandenen Höhe von der Krankenkasse zu erstatten, wenn eine Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (Variante 1) oder wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (Variante 2) und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind.
Der Senat lässt die Frage offen, ob die Versicherte den nach § 13 Abs. 3 SGB V gebotenen Beschaffungsweg eingehalten hat. Selbst wenn das der Fall ist, scheidet ein Anspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V aus.
Ein Kostenerstattungsanspruch setzt voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, die die Krankenkassen als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung des Senats - vgl. u.a. Urteil vom 15. Juni 2005 - L 4 /16 KR 8/02 m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall. Der Versicherten stand kein Sachleistungsanspruch auf häusliche Behandlungspflege in Bezug auf die Medikamentenabgabe zu.
Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (so genannte Behandlungssicherungspflege). Der krankenversicherungsrechtliche Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungssicherungspflege besteht neben dem Anspruch auf Leistungen bei häuslicher Pflege aus der sozialen Pflegeversicherung. Zur Behandlungspflege gehören alle Pflegemaßnahmen, die nur durch eine bestimmte Krankheit verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern, wobei diese Maßnahmen typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Hilfsberufe oder auch von Laien erbracht werden (vgl BSG, Urteil vom 17. März 2005 - B 3 KR 9/04 R - m.w.N.).
Die von dem Hausarzt der Versicherten verordnete Medikamentenabgabe zählt zwar zu den verordnungsfähigen Leistungen im Rahmen der Behandlungspflege (vgl Nr. 26 der Anlage der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 und Abs. 7 Satz 1 SGB V vom 16. Februar 2000, BAnz Nr. 91 vom 13. Mai 2000). Ein Anspruch der Versicherten entfällt aber, weil sie in den gemieteten Räumen der Klägerin weder einen eigenen Haushalt i.S.d. § 37 Abs. 2 Satz 1 Alternative 1 SGB V führte, noch im Haushalt ihrer Familie lebte (§ 37 Abs. 2 Satz 1 Alternative 2 SGB V).
Unter Haushalt ist die häusliche oder wohnungsmäßige Wirtschaftsführung zu verstehen, die auf die Umsetzung von Geldmitteln und Produkten für die existenziellen Bedürfnisse gerichtet ist (vgl. hierzu auch Töns in BKK 1986, 273, 276). Eines der wichtigsten existenziellen Bedürfnisse eines jeden Menschen ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Die haushaltsmäßige Wirtschaftsführung wird daher vor allem durch die Nahrungszubereitung, d.h. durch das Kochen und die Aufbewahrung von Lebensmitteln, geprägt (vgl hierzu auch Mengert in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Band 2, Stand: 1. Oktober 2005, § 37 Rdnr 60). Als eigener Haushalt ("in ihrem Haushalt") gilt derjenige Haushalt, dem der Versicherte vorsteht, für den er also die Kosten im Wesentlichen selbst trägt. Nach Ansicht des BSG kommt diesem Punkt in Wohnheimen, Wohnstiften und Altenheimen besondere Bedeutung zu, weil davon die Abgrenzung zur stationären Unterbringung in diesen Einrichtungen abhängt. Entscheidend - so das BSG - ist hier, ob dem Betroffenen noch eine eigenverantwortliche Wirtschaftsführung möglich ist, er sich also wirtschaftlich selbst versorgen kann (BSG, Urteil vom 1. September 2005 - B 3 KR 19/04 R -). Als "Haushalt ihrer Familie" ist der Haushalt zu verstehen, der von einer anderen Person geführt wird, dem der Versicherte als Familienangehöriger angehört (Gerlach, in Hauck/Haines, SGB V 2. Band, Stand: 2005, § 37 Rdnr 27 m.w.N.).
Die Versicherte verfügte in ihren gemieteten Räumen nicht über einen eigenen Haushalt. Abgesehen von der Frage, ob sie in der streitigen Zeit körperlich und geistig überhaupt noch in der Lage war, sich wirtschaftlich selbst zu versorgen, scheitert ein eigener Haushalt schon an dem Fehlen einer Küche oder einer anderen räumlichen Gelegenheit zur Nahrungszubereitung. Die Klägerin hat vor dem SG selbst ausgeführt, dass der Raum, den die Versicherte zum Kochen hätte nutzen können, nicht als Küche eingerichtet war, sondern als Abstellraum benutzt wurde. Fehlt es aber bereits an der räumlichen Möglichkeit einer Wirtschaftsführung, scheidet die Annahme eines eigenen Haushalts i.S.d. § 37 Abs. 2 Satz 1 Alternative 1 SGB V aus.
Die Versicherte hat in der streitbefangenen Zeit schließlich auch nicht im Haushalt ihrer Familie gelebt (§ 37 Abs. 2 Satz 1 Alternative 2 SGB V). Unter dem Begriff "Familie" des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V ist nach der Systematik des § 37 SGB V die Gesamtheit der durch Ehe und Verwandtschaft verbundenen Personen zu verstehen (siehe zum Begriff "Familie": Brudermüller in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 2006, Einl. vor § 1297 Rdnr. 1). Nach dem ausdrücklichen Gesetzestext reicht es nicht aus, dass lediglich eine Haushaltsgemeinschaft besteht. Hätte der Gesetzgeber das gewollt, hätte er eine entsprechende Formulierung wählen müssen. Er hat aber sowohl in Absatz 1 Satz 1 als auch in Absatz 2 Satz 1 des § 37 SGB V ausdrücklich von dem "Haushalt ihrer Familie" gesprochen, während er demgegenüber in § 37 Abs. 3 SGB V von der "im Haushalt lebenden Person" gesprochen hat. Die unterschiedlichen Formulierungen in den Absätzen 1 und 2 einerseits und in Absatz 3 andererseits belegen, dass der Begriff der Familie bewusst und gewollt gewählt wurde.
Die Versicherte war - wie die Klägerin vor dem SG angegeben hat - mit der Klägerin weder verwandt noch verschwägert. Der Haushalt der Klägerin war daher nicht der Haushalt der Familie der Versicherten.
Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf häusliche Krankenpflege für die Verabreichung von Medikamenten liegen also nicht vor. Damit scheitert auch der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG.