Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 23.12.2010, Az.: L 15 SF 5/09 (P)

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
23.12.2010
Aktenzeichen
L 15 SF 5/09 (P)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 36584
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2010:1223.L15SF5.09P.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - AZ: S 29 P 111/08

Tenor:

Es wird bestimmt, dass das Sozialgericht Lüneburg das zuständige Gericht ist.

Gründe

1

I. Im vorliegenden Verfahren geht es um die Frage, welches Sozialgericht erstinstanzlich zuständig ist.

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Gegenstand der von der Klägerin am 22.08.2008 erhobenen Klage ist die Frage, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin bestimmte Abschläge schriftlich nachzuweisen, was - nach Ansicht der Klägerin - aus § 27 Absatz 4 Satz 2 des bis zum 31.12.2006 geltenden Landesrahmenvertrages (gem. § 75 Sozialgesetzbuch 11. Buch-Soziale Pflegeversicherung-SGB XI) folgen soll. Das Sozialgericht Lüneburg, in dessen Bezirk die Beklagte ihren Sitz hat, hat nach Eingang der Klage mit Verfügung vom 29.08.2008 die Beteiligten darauf hingewiesen, das "die örtliche Zuständigkeit des Sozialgerichts Lüneburg für den hier zu entscheidenden Rechtsstreit nicht gegeben sein dürfte." Zur Erläuterung hat es folgendes angeführt: Nach § 57 a Absatz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der ab 10.04.2008 geltenden Fassung sei in Angelegenheiten, die Entscheidungen oder Verträge auf Landesebene beträfen, soweit das Landesrecht nichts Abweichendes bestimme, das Sozialgericht zuständig, in dessen Bezirk die Landesregierung ihren Sitz habe. Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreites seien Ansprüche aus dem Landesrahmenvertrag zur vollstationären Dauerpflege und damit aus einem Vertrag auf Landesebene. Das Sozialgericht, in dessen Bezirk die Landesregierung ihren Sitz habe, sei das Sozialgericht Hannover. Es sei daher beabsichtigt, den Rechtsstreit dorthin zu verweisen. Nachdem die Beklagte dazu Stellung genommen hat, hat das SG Lüneburg mit Beschluss vom 14.10.2008 den Rechtsstreit an das Sozialgericht Hannover verwiesen. Dem Beschluss wurde keine Begründung beigefügt.

3

Das SG Hannover hat mit Verfügung vom 08.05.2009 ebenfalls rechtliche Bedenken gegen seine Zuständigkeit angemeldet. Beide Beteiligten vertraten demgegenüber die Auffassung, dass das SG Hannover zuständig sei.

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Mit Beschluss vom 14.07.2009 hat sich das Sozialgericht Hannover für örtlich unzuständig erklärt und das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts angerufen. Zur Begründung hat es angeführt, dass nach § 58 Absatz 1 Nummer 4 SGG das Landessozialgericht das zuständige Sozialgericht bestimme, soweit sich sowohl das verweisende als auch das Gericht, an das verwiesen worden sei, für örtlich unzuständig erklärten. Im vorliegenden Fall sei gem. § 57 Absatz 1 Satz 2 SGG das SG Lüneburg das örtlich zuständige Gericht. Denn eine Sonderzuständigkeit für das SG Hannover nach § 57 a Absatz 3 SGG greife nicht ein. Auch nach der Neufassung des § 57 a SGG auf Grund der ab 01.04.2008 eingetretenen Änderung seien Angelegenheiten der Pflegeversicherung keine Streitigkeiten, die die Zuständigkeiten des Sozialgerichtes begründeten, in dessen Bezirk die Landesregierung ihren Sitz habe. Diese Vorschrift greife nicht für Angelegenheiten der Pflegeversicherung ein, da sie nach der Gesetzesbegründung (BR-Drs 820/07 S 20) nur Fragen der gesetzlichen Krankenversicherung regele. § 57 a unterscheide danach vier Fallgruppen für eine spezielle örtliche Zuständigkeit in Fragen der gesetzlichen Krankenversicherung. Dabei bezögen sich die Absätze 1 und 2 ausschließlich auf das Vertragsarztrecht, Absatz 3 betreffe sowohl vertragsärztliche als auch nicht-vertragsärztliche Fragen auf Landesebene, während Absatz 4 eine Parallelregelung zu Absatz 3 auf Bundesebene darstelle. Auch wenn der Gesetzgeber in § 57 a Absatz 3 SGG dem Wortlaut nach lediglich von Angelegenheiten spreche, die Entscheidungen auf Landesebene betreffen, lasse sich aus dem Fehlen der in Absatz 1 und Absatz 2 enthaltenen Einschränkungen auf die Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht folgern, dass diese Zuständigkeitsregelung auch für andere Rechtsgebiete gelten solle. Der Gesetzgeber habe in seiner Begründung die Notwendigkeit der redaktionellen Überarbeitung mit der Uneinigkeit in der Rechtsprechung und in der Literatur über die Auslegung der Vorschrift begründet. Auf Grund dieser Motivation sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber einfach die Formulierung der alten Fassung übernommen habe, die die Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung vor die Klammer gezogen habe. Bei der Trennung der Fallgruppen dürfte übersehen worden sein, diese bei Absatz 3 und 4 neu zu erwähnen. Folglich habe Absatz 3 Alleingeltung für Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung.

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Die Verweisung des SG Lüneburg sei auch willkürlich, weil sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar sei, so dass sich der Schluss aufdränge, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhe und deshalb auch Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz verletze. Für die vom SG Lüneburg gezogene Schlussfolgerung, die Zuständigkeitsregelung des § 57 a Absatz 3 SGG gelte nunmehr auch für andere Rechtsgebiete, gebe es keine Grundlage.

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Der Senat hat den hier in Rede stehenden Rahmenvertrag beigezogen.

7

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes sowie der von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze wird auf die Gerichtsakte verwiesen, die dem Senat vorgelegen hat und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.

8

II. Für das Verfahren ist das Sozialgericht Lüneburg örtlich zuständig, da die Verweisung durch den Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 14.10.2008 nicht bindend ist.

9

Nach § 58 Absatz 1 Nummer 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist das gemeinsame nächst höhere Gericht zur Bestimmung des zuständigen Gericht berufen, wenn sich in einem Rechtsstreit verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, rechtskräftig für unzuständig erklärt haben (sogenannter negativer Kompetenzkonflikt).

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Das Prinzip der Bindungswirkung des zuerst ergangenen Verweisungsbeschlusses (§ 98 SGG i. V. m. § 17 a Absatz 2 Satz 3 GVG) liegt auch der Regelung des § 58 Absatz 1 Nummer 4 SGG zu Grunde. Danach ist ein Beschluss, der ein Verfahren wegen örtlicher oder sachlicher Zuständigkeit an ein anderes Gericht verweist, bindend. Dieses Prinzip dient der Prozessökonomie und dem Rechtsfrieden, indem es sogenannte "Kettenverweisungen" verhindert (vgl. BSG, Beschluss vom 08.05.2007 AZ: B 12 SF 3/07 S). Das bedeutet wiederum, dass die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses nur durchbrochen wird, wenn dieser willkürlich bzw. grob verfahrensfehlerhaft ist oder wenn die Voraussetzungen des § 58 Absatz 1 Nummer 1 SGG vorliegen (vgl. Meyer/Ladewig-Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008 § 58 Rdn. 2f und § 98 Rdn. 9). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben, so dass der Verweisungsbeschluss des SG Lüneburg keine Bindungswirkung entfaltet.

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Zunächst ist dem SG Hannover darin zuzustimmen, dass es für Verfahren der vorliegenden Art nicht das zuständige Gericht im Sinne des § 57 a Absatz 3 SGG ist. Vielmehr verbleibt es im vorliegenden Fall bei dem Grundsatz der örtlichen Zuständigkeit im Sinne von § 57 Absatz 1 Satz 2 SGG. Danach ist der Sitz des Beklagten maßgebend, wenn dieser eine natürliche Person oder eine juristische Person des Privatrechtes ist, wenn eine Körperschaft des öffentlichen Rechts in Angelegenheiten nach dem 11. Buch Sozialgesetzbuch klagt. Im vorliegenden Fall ist die Pflegekasse bei der AOK eine solche Körperschaft des öffentlichen Rechts und der Gegenstand des anhängigen Verfahrens ist ein solcher des 11. Buches Sozialgesetzbuch - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI). Eine besondere örtliche Zuständigkeit für das vorliegende Verfahren ergibt sich - entgegen dem SG Lüneburg - nicht aus § 57 a Absatz 3 SGG. Diese Vorschrift bestimmt: In Angelegenheiten, die Entscheidungen oder Verträge auf Landesebene betreffen ist, - soweit das Landesrecht nichts Abweichendes bestimmt - das Sozialgericht zuständig, in dessen Bezirk die Landesregierung ihren Sitz hat. Zwar ist dem SG Lüneburg zuzugeben, das die im Gesetz genannten Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind, der Senat ist jedoch der Überzeugung, das die genannte Vorschrift auf Angelegenheiten der Pflegeversicherung nicht anzuwenden ist. Sie gilt vielmehr nur für Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung und des Kassenarztrechtes (Meyer-Ladewig/Keller ebda. § 57 a Rdn. 6, Lüdtke/Groß: SGG § 57 a Rdn. 6, Breitkreuz/Fichte/Wolff-Dellen: SGG, § 57 a Rdn. 8).

12

Bereits aus der Überschrift des § 57 a SGG ergibt sich, das diese Vorschrift nicht für Angelegenheiten der gesetzlichen Pflegeversicherung gilt, denn sie lautet: "Örtliche Zuständigkeit in Krankenversicherung". Entscheidender ist jedoch, dass sich § 57 a Absatz 1, Absatz 2 und Absatz 4 eindeutig nur mit Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung bzw. des Vertragsartsrechts befassen. Vor diesem Hintergrund wäre die Systematik der genannten Vorschrift folgende: Absatz 1 regelt die Zuständigkeit in Vertragsarztangelegenheiten bei Fragen der Zulassung oder Ermächtigung. Absatz 2 regelt die Zuständigkeit für andere Vertragsarztangelegenheiten. Absatz 3 regelt - wie bereits oben aufgeführt - die Zuständigkeit in Angelegenheiten über Entscheidungen oder Verträge auf Landesebene. Absatz 4 beschäftigt sich mit Angelegenheiten, die Entscheidungen oder Verträge auf Bundesebene betreffen. Das zuständige Gericht ist danach dasjenige, in dessen Bezirk die Kassenärztliche Bundesvereinigung oder die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung ihren Sitz hat. Die genannte Vorschrift beschäftigt sich mithin in drei ihrer Absätze ausdrücklich und ausschließlich nur mit Krankenversicherungsangelegenheiten (im weitesten Sinne), es wäre daher unsystematisch und sinnwidrig, wenn sich Absatz 3 auch auf Entscheidungen oder Verträge auf Landesebene im Bereich der Pflegeversicherung beziehen soll. Insbesondere im Zusammenhang mit Absatz 4 macht Absatz 3 nur Sinn, wenn er sich ausschließlich auf das Vertragsarztrecht (einschließlich der Krankenversicherung) bezieht. Denn beiden Absätzen ist gemeinsam, dass sie die Zuständigkeit für Angelegenheiten regeln, die Entscheidungen oder Verträge betreffen. Absatz 3 betrifft solche Entscheidungen oder Verträge auf Landesebene. Da sich Absatz 4 jedoch seiner eindeutigen Formulierung nach nur auf das Kassenarztrecht bezieht, kann für Absatz 3 dessen Gültigkeit jedoch nicht auf die gesetzliche Pflegeversicherung erstreckt werden. Dies gilt insbesondere, weil es auch in der gesetzlichen Pflegeversicherung Entscheidungen oder Verträge auf Bundesebene gibt. Die abweichende Auffassung (Krasney/Udsching: Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens VII, Rdn. 41, 5. Auflage 2008) vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Sie meint, dass § 57 a Absatz 3 SGG auch auf Angelegenheiten der gesetzlichen Pflegeversicherung anzuwenden ist. Zur Begründung führt sie folgendes an: Das BSG habe § 57 a Absatz 1 Satz 1 SGG so ausgelegt, dass diese Vorschrift nur das Kassenarztrecht betreffe, nicht aber sonstige Leistungserbringer - Streitigkeiten der gesetzlichen Krankenversicherung. Dem habe der Gesetzgeber bei der Abfassung des SGG - Änderungsgesetzes aus dem Jahr 2008 widersprochen (dies ergebe sich aus der BR-Drucks. 820/07 Seite 20). Durch die sprachliche Klarstellung und die Unterteilung in vier Absätze - statt wie bisher nur eines Absatzes - werde jetzt klargestellt, das die Sonder-Regelung sich auf alle Regelungsbereiche beziehe, wobei ihr aber nur für die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung praktische Bedeutung zukomme. Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs (BT-Drucks. 16/7716, Seite 17 unter Nr. 12) findet diese Auffassung im Gesetzgebungsverfahren jedoch keine Stütze. Dort wird vielmehr die Intention des Gesetzgebers wie folgt umschrieben: "§ 57 a unterscheidet vier Fallgruppen für eine spezielle örtliche Zuständigkeit der Sozialgerichte in Fragen der gesetzlichen Krankenversicherung". Im Übrigen schließt sich der Senat der Argumentation des SG Hannover in seinem Beschluss vom 17.07.2009 an, wonach die Gesetzgebungsgeschichte, insbesondere die Unzulänglichkeiten der Vorgängerregelung, für die hier getroffene Auslegung spricht. Gerade die Geschichte der Vorschrift des § 57 a SGG belegt, sich die Regelung immer nur auf den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und das Kassenarztrecht bezog (so auch: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11.12.2008, L 4 B 79/08 KR)

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Außerdem ist die Verweisung des SG Lüneburg an das SG Hannover sowohl willkürlich als auch grob verfahrensfehlerhaft.

14

Insbesondere das Fehlen einer Begründung macht vorliegend die Verweisung willkürlich. Denn jedenfalls dann, wenn die Verweisung auf einer Rechtsauffassung beruht, die in der Literatur bzw. Rechtssprechung kaum vertreten wird, ist eine Begründung erforderlich, aus der sich ergibt, aus welchen Gründen das verweisende Gericht einer solchen Mindermeinung folgt. Vor diesem Hintergrund führt der Mangel an jeglicher und daher auch sachlicher Begründung zu dem Schluss, dass die Verweisung an ein anderes Gericht willkürlich ist. Im Übrigen verlangt § 17 a Abs. 4 GVG (auf den § 98 SGG verweist), dass der Beschluss zu begründen ist.

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Der Beschluss leidet auch an einem gravierenden Verfahrensmangel. Er weist in seinem Rubrum neben der Vorsitzenden auch den ehrenamtlichen Richter Wohlfeil als Mitglied der entscheidenden Kammer aus. Eine solche Besetzung kennt das SGG nicht.

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Dieser Beschluss ist gem. § 177 SGG unanfechtbar.