Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 22.12.2010, Az.: L 1 KR 360/09
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 22.12.2010
- Aktenzeichen
- L 1 KR 360/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 47904
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG - 24.08.2009 - AZ: S 38 KR 45/09
Tenor:
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 24. August 2009 wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit S 38 KR 456/06 nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz beendet worden ist.
Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Hannover zurück verwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Der Streitwert wird auf 5.845,44 € festgesetzt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob das Klageverfahren durch die Rücknahmefiktion gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückgenommen ist.
In der Sache geht es um Kostenerstattung für Behandlungskosten in der psychiatrischen Klinik der Klägerin vom 1. März bis 25. März 2004 für die bei der Beklagten versicherte K. L.(Versicherte).
Die Versicherte wurde am 13. September 2003 nach § 18 Nds. PsychKG bei der Klägerin eingeliefert. Die Behandlung erfolgte wegen einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Die Versicherte befand sich vom 13. September 2003 bis 23. Dezember 2003 auf der Akutstation 50 A der Klägerin und wurde am 23. Dezember 2003 auf die Soziotherapiestation 51 A der Klägerin verlegt.
Die Beklagte übernahm zunächst die Kosten der Krankenhausbehandlung der Versicherten bis zum 15. Dezember 2003 und aufgrund eines Kostenübernahmeverlängerungsantrages vom 5. Dezember 2003 weiter bis zum 29. Februar 2004 (Schreiben vom 2. März 2004 an die Klägerin).
Einen neuen Antrag auf Kostenübernahmeverlängerung vom 16. März 2004 lehnte die Beklagte nach Einholung eines sozialmedizinischen Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) M. vom 26. März 2004 mit Schreiben vom 23. April 2004 ab. Sie führte zur Begründung aus, dass es sich bei dem Krankenhausaufenthalt um einen sog. Pflege- bzw. Eingliederungsfall handeln würde, so dass als Kostenträger das BSHG in Betracht komme. Eine Kostenübernahme über den 29. Februar 2004 hinaus sei nicht möglich. Die Klägerin wurde gebeten, sich wegen der Kostenübernahme an den zuständigen Sozialhilfeträger zu wenden.
Mit Schreiben vom 2. November 2004 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass sie nach Einschaltung der Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie von einer Herausgabe der Akte absehen möchte und verwies auf die Schreiben vom 8. Dezember 2003, 16. Februar 2004 und 16. März 2004. Bei weiterem Diskussionsbedarf würde die Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie zu einem Gespräch in die MHH einladen, bei dem Einblick in die Akte gewährleistet werden könne.
Am 10. Dezember 2004 ging bei der Beklagten die Endabrechnung über die Behandlung der Versicherten vom 1. März 2004 bis 24. März 2004 in Höhe von 5.845,44 € ein. Mit Schreiben vom 14. Dezember 2004 lehnte die Beklagte erneut die Kostenerstattung für den streitigen Zeitraum ab.
Am 25. August 2006 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover (Az: S 38 KR 456/06) wegen ausstehender Behandlungskosten erhoben. Sie hat zur Begründung ausgeführt, der MDK habe verkannt, dass es sich bei der Versicherten gerade in den Monaten Februar und März des Jahres 2004 um eine notwendige Akutmaßnahme gehandelt habe, die aus medizinischen Gründen nur im Rahmen eines Krankenhauses hätte durchgeführt werden können. An eine primär-rehabilitative Behandlungseinrichtung könne überhaupt erst nach Abschluss der Akutbehandlung zu denken sein, was nach Ansicht der behandelnden Ärzte erst ab dem 29. März 2004 der Fall gewesen sei. Die Ärzte des MDK hätten die Klägerin nie gesehen oder untersucht. Bei psychiatrisch behandlungsbedürftigen Patienten komme es nicht schon auf eine rein theoretische Möglichkeit ambulant-ärztlicher Versorgung an. Erforderlich wäre vielmehr der Nachweis einer tatsächlich vorhanden gewesenen und der Klägerin nachgewiesenen bedarfsgerechten, konkreten Behandlungsalternative in der zu beurteilenden Zeit. Weder der MDK noch die Beklagte hätten einen Nachweis über eine tatsächlich vorhandene Behandlungsalternative in einer Wohn- oder Pflegeeinrichtung für die Versicherte erbracht. Der MDK gehe davon aus, dass nach 5 1/2 Monaten eine Stabilität der Patientin gegeben sein müsse, die eine stationäre Behandlung überflüssig mache. Es wäre eine individuelle Betrachtung des Gesamtbehandlungsplanes für jeden Patienten notwendig gewesen. Eine Einladung der Klägerin, sich mit der Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie zu einem Gespräch über die Versicherte zusammenzusetzen und einen Einblick in die Krankenakte zu nehmen, sei von der Beklagten nicht wahrgenommen worden. Insgesamt sei der gesamte Aufenthalt der Versicherten nicht kürzer zu gestalten gewesen.
Das SG hat eine Schweigepflichtentbindungserklärung von der Versicherten sowie die Krankenhausbehandlungsunterlagen angefordert und diese der Beklagten übersandt. Mit Schriftsatz vom 11. Februar 2008 hat die Beklagte die in Kopie übersandten Krankenhausunterlagen zurückgesandt und ein Gutachten des MDK vom 23. Januar 2008 vorgelegt. Darin heißt es unter "Beurteilung" u.a.:
„Auch nach Einblicknahme in die Krankenblattunterlagen, die in Fotokopie vorliegen und mit den Ziffern 1 bis 231 paginiert wurden, kann die Notwendigkeit einer stationären Krankenhausbehandlung im strittigen Zeitraum nicht nachvollzogen werden. Zur Begründung sei ausgeführt:
1. Für den strittigen Zeitraum liegen keine ärztlichen Verlaufseintragungen im Krankenblatt vor. Die dokumentierte Überwachung der nicht vorliegenden Suizidialität, die nicht ärztlicherseits erfolgte, begründet die stationäre Krankenhausbehandlung nicht. Auch bei einer Verlegung in eine beschützende Einrichtung oder bei Entlassung in eine ambulante Behandlung ist eine adäquate Beobachtung der Suizidialität erforderlich. Im längerfristigen Verlauf ist eine latente oder akute Suizidialität langfristig seit der Verlegung auf die Soziotherapiestation nicht festgestellt worden.
2. Eine ärztlich oder psychologisch durchgeführte Psychotherapie ist im Verlauf nicht dokumentiert.
3. Die medikamentöse Behandlung mit Risperdal, Akineton und Timonil sowie einer Bedarfsmedikation begründen die Notwendigkeit der stationären Krankenhausbehandlung ebenfalls nicht, eine solche Medikation ist ambulant fortzusetzen. Die Medikation wurde auf der Station bereits längerfristig als im strittigen Zeitraum von der Versicherten selbst gestellt und selbst eingenommen. Eine Bedarfsmedikation wurde zweimalig angefordert (Truxal).
4. Die Versicherte erhielt uneingeschränkt Ausgang ohne Begleitung längerfristig bereits vor dem strittigen Zeitraum.
5. Im strittigen Zeitraum wurden Leistungen erbracht, wie sie durchweg in einer ambulanten Behandlung sichergestellt werden können. Ein Krankenhausaufenthalt in dem genannten Zeitraum vom 1. März bis 25. März 2004 ist nicht plausibel dokumentiert."
Mit Verfügung vom 14. Februar 2008 hat die Vorsitzende der 38. Kammer das Gutachten des MDK an die Klägerin zur Stellungnahme übersandt und angefragt, mit welcher Begründung die Klage aufrechterhalten bleiben solle. Sie hat die Klägerin mit Verfügung vom 26. März 2008 an die Übersendung der Stellungnahme erinnert. Mit Schreiben 21. April 2008 hat die Klägerin ausgeführt, dass sie das Gutachten an die Fachabteilung mit der Bitte um Stellungnahme weitergeleitet habe. Sie bitte um kurze Mitteilung, welche Gebietsbezeichnung (Fachrichtung) der Arzt des MDK tragen würde. Daraufhin hat die Beklagte mit Schreiben vom 6. Mai 2008 mitgeteilt, dass es sich bei dem Gutachter des MDK um einen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie handeln würde, der bereits mehrere Stellungnahmen erstellt hätte. Dieses Schreiben hat die Vorsitzende der 38. Kammer mit Verfügung vom 8. Mai 2008 an die Klägerin übersandt und mit Verfügung vom 25. Juni 2008 nochmals an die Übersendung der erbetenen Stellungnahme erinnert. Mit Verfügung vom 20. August 2008 hat die Vorsitzende der 38. Kammer an die Erledigung der richterlichen Verfügungen vom 14. Februar 2008, 26. März 2008, 8. Mai 2008 und 25. Juni 2008 erinnert und nunmehr um Erledigung gebeten. In dem Schreiben heißt es wörtlich:
"Sie werden hiermit aufgefordert, das Verfahren durch eingehende Auseinandersetzung mit dem MDK-Gutachten vom 23. Januar 2008 zu betreiben und darzulegen, warum die Klage dennoch aufrechterhalten bleiben soll.
Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn die Klägerin das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt, § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008, in Kraft getreten am 1. April 2008, BGBl. I S. 444 (SGG n.F.).
Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs. 1 Satz 2 SGG n.F.). Auf die Kostenfolgen aus § §§ 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG, 155 Abs. 2 VwGO wird ergänzend hingewiesen.
Eine weitere Erinnerung/Fristsetzung sowie Aufforderung zur Verfahrensbetreibung wird nicht erfolgen."
Diese Verfügung hat die Vorsitzende der 38. Kammer mit vollem Namen unterschrieben Sie ist der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis am 25. August 2008 zugestellt worden.
Die Klägerin hat mit Schreiben vom 26. August 2008 darauf hingewiesen, dass auf das Gutachten der Gegenseite bislang noch keine Einlassung erfolgt sei. Es sei durch eine Stelle erstellt worden, die für ein Gerichtsverfahren nur als äußerst befangen einzustufen sei. Gleichwohl sehe der Unterzeichner, dass eine medizinische Auseinandersetzung mit der Argumentation (die im Grunde genommen ja nur aus fünf aufgezählten Sätzen auf der S. 6 bestehe), unbedingt eingegangen werden müsse. Die Fachabteilung sei daher noch einmal eindringlich an die erbetene Stellungnahme erinnert worden. Selbstverständlich werde sich hiernach entscheiden, ob das Verfahren weiter betrieben werden solle.
Am 8. Dezember 2008 hat die Vorsitzende der 38. Kammer vermerkt, dass die Klägerin das Verfahren länger als drei Monate nicht betrieben hätte. Die Klage gelte gemäß § 102 Abs. 2 SGG n.F. als zurückgenommen und das Verfahren sei auszutragen.
Das Verfahren S 38 KR 456/06 ist sodann ausgetragen worden.
Mit Schreiben vom 14. Januar 2009 hat die Klägerin der Feststellung widersprochen, dass die Klage zurückgenommen sei. Sie habe darauf hingewiesen, dass eine Stellungnahme zu dem Gefälligkeitsgutachten der Gegenseite beabsichtigt sei, insoweit könne das Gericht diesen Fall nicht mit jenem gleichsetzen, in dem das Verfahren nicht betrieben werde. Der Unterzeichner habe trotz mehrfacher Anmahnung eine medizinische Stellungnahme bisher jedoch nicht erhalten können. Da die Fachabteilung inzwischen eine neue Leitung erhalten habe, die dieses Manko wohl erkannt habe und ihm begegnen wolle, werde eine Stellungnahme auch in diesem Fall wohl noch erarbeitet werden. Bei dem Gutachten des MDK handele es sich um Parteivorbringen, dem kein formaler Beweiswert zugemessen werden könne.
Es werde der Antrag gestellt, den Sachverständigen wegen Befangenheit abzulehnen und das Gutachten durch einen unabhängigen und sachverständigen Arzt erstellen zu lassen. Die Norm, auf die sich das Gericht beziehe, sei § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) / § 81 Asylverfahrensgesetz nachgebildet. Die Norm würde wegen ihrer weitreichenden Konsequenzen nur Ausnahmecharakter besitzen. Konkrete Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses könnten sich zwar aus der Verletzung von Mitwirkungspflichten ergeben, aber es müsste sich stets auch ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Rechtsverfolgung ableiten lassen. Schon die Betreibensaufforderung durch das Gericht dürfe nur dann erfolgen, wenn das Gericht sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses hätte, wobei diese so gravierend sein müssten, dass der spätere Eintritt der Klagerücknahmefiktion als gerechtfertigt erscheine. An der Betreibensaufforderung vom 20. August 2008 sei formal nichts zu beanstanden, aber die Klägerin habe mit Schriftsatz vom 26. August 2008 deutlich gemacht, dass sie nach wie vor bemüht sei, von dem seinerzeit behandelnden Arzt eine Stellungnahme zu erhalten. Ohne eine solche ärztliche Stellungnahme hätte sich der Unterzeichner lediglich auf die Oberflächlichkeit des MDK-Gutachtens beziehen können, objektiv möge diese Einlassung zu dem MDK-Gutachten noch keine ausreichende Begründung gewesen sein, um das Gericht zu überzeugen, dass der Klageanspruch bestehe, aber dieses Schreiben könne vernünftigerweise nur so ausgelegt werden, dass die Klägerin weiterhin an dem Betreiben des Prozesses interessiert sei. Unabhängig davon hätte der Satz des MDK-Gutachters: „Die dokumentierte Überwachung der nicht vorliegenden Suizidialität, die ärztlicherseits erfolgt sei, begründet die stationäre Krankenhausbehandlung nicht", das Gericht von Amts wegen bewegen können, einen unabhängigen Sachverständigen zu beauftragen.
Mit Verfügung vom 29. Juni 2009 hat die Vorsitzende der 38. Kammer die Beteiligten darauf hingewiesen, dass das Gericht durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung gemäß § 105 SGG entscheiden werde und Gelegenheit zur Stellungnahme bis 27. Juli 2009 gegeben.
Mit Gerichtsbescheid vom 24. August 2009 hat das SG festgestellt, dass das Verfahren S 38 KR 456/06 durch die Fiktion der Klagerücknahme erledigt sei. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass auf den auf Fortsetzung des Verfahrens gerichteten Antrag der Klägerin die Beendigung des Klageverfahrens in Anwendung der Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG durch Urteil festzustellen sei. Nach dieser Vorschrift gelte die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger sie trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibe. Diese Voraussetzungen lägen hier vor. Die Klägerin hätte innerhalb der ihr gesetzten Frist keine das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Einer solchen Äußerung hätte es im Hinblick auf das letzte Gutachten des MDK auch aus der Sicht der Klägerin bedurft. Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin seien die Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht nur dann erfüllt, wenn begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses der Klägerin vorliegen. Vielmehr liege ein Nichtbetreiben im Sinne der Vorschrift auch dann vor, wenn sich der Kläger auf die Aufforderung des Gerichts nicht oder nur unzureichend innerhalb von drei Monaten äußere und deshalb nicht dargelegt sei, dass das Rechtsschutzbedürfnis ungeachtet der vorliegenden Indizien fortbestehe. Die Klägerin sei mit am 25. August 2008 zugestellter Verfügung unter Hinweis auf § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG aufgefordert worden, das Verfahren durch eingehende Auseinandersetzung mit dem letzten Gutachten des MDK zu betreiben. Dies hätte sie nicht binnen drei Monaten nach Zustellung der Verfügung getan und damit dokumentiert, dass sie kein Interesse mehr an der Fortsetzung des Verfahrens hätte.
Gegen den am 7. September 2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 1. Oktober 2009 Berufung vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen erhoben. Sie hat beantragt festzustellen, dass das Verfahren S 38 KR 456/06 nicht durch die Fiktion der Klagerücknahme erledigt sei. Das Gericht sei der geäußerten Bitte der Klägerin, wegen der Erkrankung eines Facharztes zuzuwarten, nicht nachgekommen und hätte sich besonders auch nicht mit dem Antrag der Klägerin auseinandergesetzt, den Gutachter des MDK für befangen zu erklären, sofern dem Gutachten ein formaler Beweiswert zugemessen werden solle. Auch auf den gleichzeitig gestellten Antrag, ein unabhängiges Sachverständigengutachten einzuholen, sei das Gericht nicht eingegangen. Im Rahmen der Amtsmaxime wäre hierzu aber zumindest eine Auseinandersetzung notwendig gewesen. Der MDK-Gutachter hätte überhaupt nicht die speziellen Instrumente der psychiatrischen stationären Behandlung angesprochen, sodass die Klägerin zunächst vermuten musste, dass es sich wieder um einen MDK-Arzt einer fremden Gebietsbezeichnung handeln würde. Die Klägerin hätte vorprozessual den MDK gebeten, die Patientin selbst zu untersuchen, was dieser abgelehnt hätte. Die Fiktion des Nichtbetreibens könne daher nicht gestellt werden. Die Absichtserklärung des SG vom 29. Juni 2008 sei überraschend gekommen und sei genau in die Ferienzeit gefallen. Das SG sei darüber hinaus auch nicht auf die vorherige Rücknahmefiktion eingegangen, so dass gar nicht erkennbar gewesen sei, dass das Verfahren wieder neu eingetragen worden sei. Das SG hätte das Verfahren zunächst wieder offiziell eröffnen und zu dem Beweisantrag der Klägerin Stellung nehmen müssen. Die Klägerin hat eine medizinische Stellungnahme von Prof. Dr. N. -O., Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, MHH, vom 22. September 2009 vorgelegt.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 24. August 2009 aufzuheben und festzustellen, dass das Verfahren S 38 KR 456/06 nicht durch die Fiktion der Klagerücknahme erledigt worden ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Die Klägerin sei ganz konkret aufgefordert worden, sich zu einem einzelnen Punkt, nämlich zu dem Gutachten des MDK, zu äußern und sich damit auseinanderzusetzen. Bis zur Klagerücknahmefiktion am 8. Dezember 2008 seien mittlerweile knapp 10 Monate vergangen gewesen. Die Klägerin hätte genügend Zeit gehabt, sich mit dem MDK-Gutachten auseinanderzusetzen. Soweit die Klägerin vortrage, im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes wäre ein unabhängiges Sachverständigengutachten einzuholen gewesen bzw. eine Auseinandersetzung insoweit erforderlich gewesen, so möge dieses zutreffend sein. Das Gericht hätte aber doch nur dann Anlass ein Gutachten einzuholen, wenn es von der Klägerin eine Stellungnahme zum MDK-Gutachten erhalten hätte. Nur dann hätte das Gericht genügend Anhaltspunkte gehabt, um zu entscheiden, ob die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich gewesen sei. So sei es vielmehr erschienen, als dass die Klägerin kein wirkliches Interesse an der Fortführung des Verfahrens gehabt hätte. Dass die Klägerin mit Schriftsatz vom 26. August 2008 erklärt hätte, die Fachabteilung sei nochmals eindringlich an die erbetene Stellungnahme erinnert worden, zeige, dass ein Desinteresse seitens der Klägerin an der weiteren Rechtsverfolgung bestanden hätte. Interne und organisatorische Probleme seitens der Klägerin könnten hier nicht von Bedeutung sein. Die Klagerücknahmefiktion sei gerechtfertigt, insbesondere deshalb, weil das SG die Klägerin nicht bloß zur Fortführung des Verfahrens aufgefordert hätte, sondern konkret aufgefordert hätte, sich zu einem einzelnen Punkt näher zu äußern.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten und der Gerichtsakte Bezug genommen. Diese haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung geworden.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§ 143 f. SGG form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig.
Sie ist auch begründet.
Der Gerichtsbescheid des SG Hannover vom 24. August 2009 war aufzuheben und festzustellen, dass der Rechtsstreit S 38 KR 456/06 vor dem SG Hannover nicht durch Klagerücknahmefiktion in der Hauptsache erledigt worden ist. Die Voraussetzungen des § 102 Abs 1 Satz 2, Abs 2 Satz 1 SGG liegen nicht vor.
§ 102 Abs. 2 SGG ist mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGG-Änderungsgesetz) vom 26. März 2008 (BGBl I 444) mit Wirkung zum 1. April 2008 in das Gesetz eingefügt worden.
§ 102 Abs. 2 SGG lautet:
Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Abs. 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.
§ 102 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 SGG erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.
Zwar liegen die formellen Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG hier vor.
Die Klägerin hat im vorliegenden Fall am 25. August 2006 Klage vor dem SG Hannover erhoben. Das SG hat der Klägerin mit Verfügung vom 20. August 2008 eine Betreibensaufforderung übersandt. Diese ist von dem zuständigen Richter, der Vorsitzenden der 38. Kammer, verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet worden (vgl. dazu BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 58/09 R Rdnr. 49). Auch in der gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG an die Beteiligten abgesandten Abschrift ist der volle Name der Richterin aufgeführt und erkennbar, dass die Betreibensforderung von ihr stammt (dazu ebenfalls BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 58 R Rdnr. 49 aE).
Die Dreimonatsfrist des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG ist durch Übersendung des gerichtlichen Schreibens vom 20. August 2008 wirksam in Lauf gesetzt worden.
Die Klägerin hat dieses Schreiben - wie sie auf dem Empfangsbekenntnis bestätigt hat - am 25. August 2008 erhalten.
Das SG hat die Klägerin zu einer bestimmten Verfahrenshandlung, nämlich einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem Gutachten des MDK vom 23. Januar 2008, aufgefordert und sie auf die sich aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 155 Abs. 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hingewiesen.
Im vorliegenden Fall hat das SG jedoch zu Unrecht angenommen, dass das Interesse der Klägerin an einer Entscheidung des SG weggefallen sei.
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGG-Änderungsgesetz, BT-Drucksache 16/7716 S. 19 zu Nr. 17 - 102; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., 2008, vor § 51 Rdnr. 16).
In dem Gesetzesentwurf heißt es, dass die Fiktion einer Klagerücknahme für die Fälle eingeführt wird, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion des Abs. 2 ist an § 92 Abs. 2 der VwGO angelehnt, der mit dem 6. VwGO-Änderungsgesetz vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) eingefügt wurde und § 81 des Asylverfahrensgesetzes nachgebildet ist. Die Verkürzung auf die Zweimonatsfrist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl I S. 2198) wurde wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens auf drei Monate erstreckt. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die vor den SGen vorwiegend klagenden Bedürftigen oder kranken Menschen zur Entscheidungsfindung über die Klagerücknahme mehr Zeit brauchen.
Der Wegfall des Rechtsschutzinteresses bedeutet ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung des Begehrens. Dies ist nach der Rechtsprechung nur in seltenen Ausnahmefällen zu unterstellen (vgl. Leitherer, Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.0., § 102 Rdnr. 8a mwN auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts). Die Vorschriften über die Beendigung des Gerichtsverfahrens wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses haben strengen Ausnahmecharakter. Das Gericht kann im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Ausdrücklich hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich ist (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 = DVBl 1999, 166, 167). Die §§ 81 Asylverfahrensgesetz, 92 Abs. 2 VwGO, 102 Abs. 2 SGG unterstellen, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist, wenn ein Kläger in dem von ihm angestrengten Verfahren über einen bestimmten Zeitraum nicht oder in nicht hinreichendem Maße tätig geworden ist. Bei der Anwendung und Auslegung dieser Vorschriften ist immer ihr Ausnahmecharakter zu beachten. Dies hat auch der Gesetzesentwurf zum SGG-ArbGGÄnderungsgesetz aufgenommen, denn dort wird auf die Rechtsprechung des BVerfG und des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 12. April 2001 - 8 B 2/01 - ) Bezug genommen und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen darf“ (BT-Drucksache 16/7716 S. 19 zu Nr. 17 - § 102 -).
Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses können sich aus der Verletzung der prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers (§103 Satz 1 2. Halbsatz SGG) ergeben. Daraus muss sich aber der Schluss auf einen Wegfall des Sachbescheidungsinteresses, also des Desinteresses des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, ableiten lassen. Die Klagerücknahmefiktion ist kein Hilfsmittel zur bequemen Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen (BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 74/09 R Rdnr. 51 mwN).
Es kann hier unter Berücksichtigung der strengen Anforderungen an die Auslegung des § 102 Abs 2 SGG und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in den Urteilen vom 1. Juli 2010 - B 13 R 58/09 R und B 13 R 74/09 R nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin kein Interesse mehr an der Fortsetzung des Rechtsstreits S 38 KR 456/06 hatte. Dieser Annahme steht hier entgegen, dass die Klägerin umgehend nach Erhalt der Betreibensaufforderung am 25. August 2008 ihr Interesse an der Fortsetzung des Rechtsstreits bekundet hat. In ihrem Schreiben vom 26. August 2008 - eingegangen beim SG am 28. August 2008 - hat die Klägerin ausgeführt, sie bedauere, dass auf das Gutachten der Gegenseite noch keine Einlassung erfolgt sei, sie würde sehen, dass eine medizinische Auseinandersetzung mit der Argumentation unbedingt eingegangen werden müsse. Sie hätte die Fachabteilung noch einmal eindringlich an die erbetene Stellungnahme erinnert. Aus diesem Schreiben geht das Interesse der Klägerin an der Fortsetzung des Verfahrens und der weiteren Verfolgung ihres Begehrens eindeutig hervor.
Zwar hat die Klägerin auf die Aufforderung des SG vom 14. Februar 2008, eine Stellungnahme zu dem Gutachten des MDK vom 23. Januar 2008 abzugeben und zu prüfen, mit welcher Begründung die Klage aufrechterhalten bleiben solle, sowie auf die Erinnerung vom 26. März 2008 nicht reagiert. Sie hat auch nach der Betreibensaufforderung des SG vom 20. August 2008 keine inhaltliche Stellungnahme abgegeben und sich über neun Monate inhaltlich nicht im Verfahren geäußert. Sie hat weder um Fristverlängerung gebeten noch mitgeteilt, dass der zuständige Arzt länger erkrankt gewesen ist (vgl Schriftsätze im Berufungsverfahren vom 7. September und 10. November 2009) und damit trotz eindeutiger und ausdrücklicher Aufforderungen des Gerichts nicht dazu beigetragen, den Prozess zu fördern. Eine derartige Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten muss das Gericht nicht hinnehmen. Ihr kann etwa durch die Anwendung der Präklusionsregelung des § 106 a SGG Rechnung getragen werden (vgl Leiterer, aaO., § 106 a SGG).
Die Voraussetzungen des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG sind durch das Verhalten der Klägerin allerdings noch nicht erfüllt, denn diese Vorschrift dient nicht der Sanktionierung prozessleitender Verfügungen (BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 74/09 R Rdnr. 51 mwN). Es genügt für eine Betreibensaufforderung im Sinne des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG nicht jegliche Verletzung einer Mitwirkungspflicht, sondern nur das Unterlassen solcher prozessualer Mitwirkungshandlungen, die für die Feststellung von entscheidungserheblichen Tatsachen bedeutsam sind und die für das Gericht - nach seiner Rechtsansicht - notwendig sind, um den Sachverhalt zu klären und eine Entscheidung zu treffen (BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 74/09 R Rdnr. 52).
Es ist hier nicht ersichtlich, dass eine Stellungnahme der Klägerin zu dem Gutachten des MDK vom 23. Januar 2008 zur Feststellung weiterer entscheidungserheblicher Tatsachen oder zur Klärung des Sachverhaltes zwingend erforderlich war. Das SG, das nach § 103 Satz 2 SGG an das Vorbringen der Beteiligten nicht gebunden ist, hätte hier auch ohne die Stellungnahme der Klägerin zu dem Gutachten des MDK entscheiden oder im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 106 SGG weiter ermitteln können.
Da das SG wegen der zu Unrecht angenommenen Wirksamkeit der Klagerücknahme in der Sache nicht entschieden hat, wird der Rechtsstreit an das SG Hannover zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten, da der Rechtsstreit S 38 KR 456/06 noch nicht beendet ist.
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47, 63, 52 Abs.1 und 3 GKG.
Es hat kein gesetzlicher Grund vorgelegen, die Revision zuzulassen (§160 Abs 2 SGG).