Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 10.04.2018, Az.: 4 A 443/16

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
10.04.2018
Aktenzeichen
4 A 443/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 73944
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 05. September 2016 verpflichtet, dem Kläger Hilfe für junge Volljährige in Form von Vollzeitpflege nach §§ 41, 33 SGB VIII durch Unterbringung bei seiner Pflegemutter/Betreuerin Frau C. zu gewähren.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Weitergewährung von Jugendhilfeleistungen in Form der Unterbringung bei seiner Pflegemutter/Betreuerin.

Der am F. 1995 geborene Kläger lebte zunächst bei seinen Eltern in G.. Aufgrund von massiven Konflikten in der Herkunftsfamilie wurde der Kläger im Jahr 1999 zunächst von dem Jugendamt des Beigeladenen in Obhut genommen und bei der in A-Stadt lebenden ausgebildeten Erzieherin Frau C. untergebracht. Seit April 2000 wandelte das Jugendamt des Beigeladenen das Bereitschaftspflegeverhältnis in eine sozialpädagogische Vollzeitpflege (§ 33 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VIII -) um. Mit Schreiben vom 17. Juli 2002 bat der Beigeladene den Beklagten um Übernahme des Falles in eigener Zuständigkeit, da der Kläger über zwei Jahre bei seiner Pflegemutter lebte. Seit dem 01. Oktober 2003 führt der Beklagte den Jugendhilfefall in eigner Zuständigkeit (vgl. Bl. 74 der Verwaltungsvorgänge - VV -, Beiakte 002). Die entstandenen Kosten (insbesondere gezahltes Pflegegeld) wurden in der Vergangenheit von dem Beigeladenen bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres des Klägers (vgl. Bl. 242 VV, Beiakte 003) erstattet.

Der Kläger lebt seit der Inobhutnahme im Jahr 1999, mit einer kurzen Unterbrechung von Mai bis Juni im Jahre 2001, wo er kurzzeitig in der Erziehungsstelle H. lebte, als Pflegekind in dem Haushalt von Frau C.. Ab dem 01. November 2004 wurde das Pflegeverhältnis in eine Sonderpflege umgewandelt. Der Beklagte und die Pflegemutter des Klägers schlossen daraufhin unter dem 01. Dezember 2004 einen entsprechenden Pflegevertrag ab. Der Pflegemutter wurde in der Vergangenheit fortlaufend Pflegegeld, das sich unter anderem aus den Kosten für materielle Aufwendungen und einem Erziehungsbeitrag zusammensetzt, bewilligt. Seit dem 01. Oktober 2003 erhält der Kläger zudem laufende Geldleistung zum Unterhalt nach § 39 SGB VIII (vgl. Bl. 17 VV, Beiakte 001). Die Pflegemutter wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Uelzen vom 30. November 2007 (Az. I.) zunächst zum Vormund und nach Eintritt der Volljährigkeit des Klägers mit weiterem Beschluss vom 29. November 2012 (Az. J.) des Klägers bestellt.

Der Kläger leidet unter anderem an starken Entwicklungsverzögerungen, einer Lernbehinderung, an einer schweren psychosozialen Deprivation, einer reaktiven Bindungs- sowie sekundären Verhaltensstörung. Ferner besteht der Verdacht auf ein fetales Alkoholsyndrom. Er ist zu 80% schwerbehindert mit dem Merkzeichen B und erfüllt die Voraussetzungen für die Pflegestufe I. Der Kläger verließ die Hauptschule K. im Sommer 2012 ohne Abschluss. Im Anschluss absolvierte er ein Berufsvorbereitungsjahr. Im Sommer 2013 besuchte er eine Maßnahme der L., die zum Ziel hatte, durch die Ableistung von Praktika einen adäquaten Arbeitsplatz zu finden. Von August 2013 bis April 2014 wurde der Kläger durch die Unterstützte Beschäftigung vom M. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt begleitet. Zu Mai 2014 startete der Kläger das Eingangsverfahren in dem Bereich Garten- und Landschaftsbau im Berufsbildungsbereich. Während der Arbeitszeiten fand eine Ergotherapie begleitend statt. Im „Ergebnis des ersten Jahres Berufsbildungsbereich und Eingliederungsplan“ vom 15. Juni 2015 (Bl. 219 ff. VV, Beiakte 004) wurde unter anderem festgehalten, dass die Werkstatt für behinderte Menschen die geeignete Einrichtung für die Teilnahme am Arbeitsleben sei. Seit Mai 2016 ist der Kläger in der Werkstatt für Behinderte in N. in Vollzeit beschäftigt. Nach Angaben der Pflegemutter/Betreuerin in der mündlichen Verhandlung beabsichtigt der Kläger seinen Schulabschluss im Sommer 2018 nachzuholen.

In der Vergangenheit wurde zwischen dem Beklagten und dem Beigeladenen mehrfach streitig erörtert, ob bei dem Kläger aufgrund der diagnostizierten Einschränkungen gegebenenfalls die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) vorliegen (vgl. u.a. Bl. 31, 40, 45 VV Beiakte 001). Der Beklagte gewährte dem Kläger auch über das 18. Lebensjahr hinaus Hilfe für junge Volljährige in Form von Sonderpflege. Hierzu erließ er in der Vergangenheit jeweils befristete Bewilligungsbescheide. Erstmals bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 12. November 2012 Hilfe für junge Volljährige durch weitere Unterbringung bei seiner Pflegemutter und Betreuerin Frau C.. Mit Bescheid vom 22. Juli 2014 bewilligte der Beklagte dem Kläger die Sonderpflege (lediglich) als „vorläufige Leistung“ gemäß § 43 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) bis zum 31. Januar 2015. In den Verwaltungsvorgängen findet sich hierzu der Vermerk, dass es sich um eine vorläufige Gewährung handele, da die Abgabe an das Sozialamt des Beigeladenen geprüft werden solle (vgl. Bl. 218 VV, Beiakte 001). Den hiergegen geführten Rechtsstreit (Az. 4 A 240/14) erklärten die Beteiligten übereinstimmend für erledigt, nachdem der Beklagte mit weiterem Bescheid vom 23. Januar 2015 die Hilfe wiederum in Form einer vorläufigen Leistung bis zum 31. Juli 2015 bewilligt hatte. Gegen die Befristung im Bescheid vom 23. Januar 2015 erhob der Kläger erneut unter dem 06. Februar 2015 Klage (4 A 39/15). Mit Bescheid vom 09. Juli 2015 bewilligte der Beklagte sodann die Weitergewährung der Leistung bis zum 31. Juli 2016, woraufhin die Beteiligten das Klageverfahren zu dem Aktenzeichen 4 A 39/15 ebenfalls für erledigt erklärten. Auch gegen den Bescheid vom 09. Juli 2015 erhob der Kläger Klage mit dem Ziel der unbefristeten Gewährung der Hilfe für junge Volljährige gemäß §§ 41, 33 SGB VIII bis längstens zur Vollendung des 27. Lebensjahres (Az. 4 A 235/15). Dieser Rechtsstreit endete durch gerichtlichen Vergleich vom 25. April 2016 mit dem Inhalt:

„1. Der Beklagte verpflichtet sich, dem Kläger Hilfe für junge Volljährige in Form von Sonderpflege gemäß §§ 41, 33 SGB VIII bei Frau C. in unbefristeter Form zu erteilen. Den Beteiligten ist bewusst, dass die Hilfegewährung aufgehoben werden kann, wenn die Voraussetzungen für eine Hilfegewährung nicht mehr vorliegen. Zudem ist ihnen bewusst, dass die Hilfe spätestens mit Vollendung des 27. Lebensjahres endet.

2. Die Betreuerin des Klägers verpflichtet sich, einer Begutachtung des Klägers im Gesundheitsamt des Landkreises Lüneburg zuzustimmen, mit dem Ziel der Klärung, welche Art die Behinderung bei dem Kläger vorliegt.“

Mit Änderungsbescheid vom 16. Juni 2016 hob der Beklagte die in dem Bescheid vom 09. Juli 2015 festgelegte Befristung auf.

Mit Schreiben vom 26. April 2016 sowie weiterem Schreiben vom 07. Juni 2016 ersuchte der Beklagte das Gesundheitsamt des Beigeladenen um die Erstellung einer sozialmedizinischen Stellungnahme. Nachdem der Beigeladene die Erstellung dies mangels örtlicher Zuständigkeit und aufgrund fehlender Kapazitäten abgelehnt hatte, bat der Beklagte die Pflegemutter/Betreuerin des Klägers darum, mit dem Zweckverband Gesundheitsamt O. Kontakt aufzunehmen, um abzuklären, ob der Kläger von einer geistigen Behinderung betroffen oder bedroht ist. Nachdem die Pflegemutter/Betreuerin des Klägers diese Aufforderung mit Schreiben vom 11. Juni 2016 abgelehnt hatte, forderte der Beklagte sie erneut mit Schreiben vom 15. Juni 2016 auf, die Begutachtung durch das Gesundheitsamt P. bis zum 31. Juli 2016 durchführen zu lassen.

Mit Bescheid vom 05. September 2016 stellte der Beklagte die Hilfegewährung mit Ablauf des 30. September 2016 ein und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass der Kläger seiner Verpflichtung nicht nachgekommen sei, sich zur Erstellung einer sozialmedizinischen Stellungnahme von einem Amtsarzt des Zweckverbandes Gesundheitsamt O. begutachten zu lassen.

Daraufhin hat der Kläger am 04. Oktober 2016 Klage erhoben und unter dem 06. Oktober 2016 einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Mit Beschluss der Kammer vom 10. November 2016 (Az. 4 B 146/16) wurde der Beklagte im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Kläger bis zu einer erstinstanzlichen Entscheidung im Klageverfahren vorläufige Hilfeleistungen in Form der weiteren Unterbringung bei der Pflegemutter und Betreuerin Frau C. zu gewähren. Der Beklagte gewährte dem Kläger daraufhin mit Bescheid vom 22. November 2016 ab dem 01. Oktober 2016 eine vorläufige Leistung gemäß § 43 SGB I in Verbindung mit §§ 41, 33 SGB VIII in Form von Hilfe für junge Volljährige. Die Hilfe wird durch Frau  C. geleistet.

Zur Begründung seiner Klage macht der Kläger im Wesentlichen geltend, dass bei ihm weiterhin ein Hilfebedarf vorliege. Eine Begutachtung durch das Gesundheitsamt des Beklagten komme unter keinen Umständen in Betracht, da sich die Mitarbeiter/innen gegenüber dem Kläger mehrfach diskriminierend geäußert hätten. Dies sei bereits Gegenstand der gerichtlichen Vergleichsverhandlungen zu dem Aktenzeichen 4 A 235/15 gewesen. Daher habe man sich damals im gerichtlichen Vergleich geeinigt, eine Begutachtung durch das Gesundheitsamt des Beigeladenen durchführen zu lassen. Ein Rechtskreiswechsel vom SGB VIII zum SGB XII komme bereits deshalb nicht in Betracht, weil der Beklagte gemäß § 14 SGB Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (IX) als erstangegangener Träger zuständig geworden sei. Daher sei auch die Begutachtung des Klägers nicht erforderlich, um den Anspruch zu begründen. Da sich seine Persönlichkeitsentwicklung und Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensführung durch die bisher gewährten Leistungen verbessert hätten, sei die konkrete Hilfeart auch geeignet. Im Übrigen sei im Falle einer Abgabe an das Sozialamt nicht der Beigeladene als Sozialhilfeträger örtlich zuständig, da der Kläger volljährig sei.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 05. September 2016 zu verpflichten, ihm Jugendhilfe für junge Volljährige gemäß §§ 41, 33 SGB VIII in Form der Unterbringung bei seiner Pflegemutter/Betreuerin Frau C. zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung trägt er vor, dass die Hilfe aufgrund mangelnder Mitwirkung des Klägers und der Pflegemutter eingestellt worden sei. Die Hilfe sei bereits nur vorläufig bewilligt worden, da gegebenenfalls ein Rechtskreiswechsel vom SGB VIII zum SGB XII anstehe. Sollte die Begutachtung ergeben, dass eine geistige Behinderung bei dem Kläger im Vordergrund stehe, so sei der Hilfefall an das Sozialamt des Beigeladenen abzugeben. § 14 SGB IX stehe einem Wechsel nicht entgegen, da sich diese Vorschrift lediglich auf die zeitnahe Prüfung der Zuständigkeit und die Bearbeitung der Anträge beziehe. Der Fall, dass sich im Verlauf einer Hilfeleistung Bedingungen ändern, werde von dieser Regelung nicht erfasst. Es lägen mehrere Anhaltspunkte vor, die für eine geistige Behinderung sprechen würden. Daher sei die Begutachtung des Klägers erforderlich, zumal die letzte Begutachtung des Klägers im Jahre 2012 stattgefunden habe. Eine Begutachtung durch das im gerichtlichen Vergleich vom 25. April 2016 vereinbarte Gesundheitsamt des Beigeladenen habe nicht stattgefunden, da der Beigeladene eine Begutachtung mangels örtlicher Zuständigkeit und aufgrund fehlender Kapazitäten abgelehnt habe. Er, der Beklagte, habe in eigener Zuständigkeit die interne Dienstanweisung erlassen, dass eine Erstellung einer sozialmedizinischen Stellungnahme nur durch das Gesundheitsamt in Betracht komme. Ferner habe der Kläger lediglich mit dem Amtsarzt Herrn Dr. Q. vom Gesundheitsamt des Beklagten angeblich in der Vergangenheit Probleme gehabt. Eine Begutachtung käme dagegen auch durch andere Amtsärzte, unter anderem Frau Dr. R., in Betracht. Ein vereinbarter Termin für den 12. Juli 2016 sei ohne Angaben von Gründen nicht wahrgenommen worden.

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat Erfolg.

Die Klage ist zulässig. Insbesondere fehlt dem Kläger nicht das für eine weitere Rechtsverfolgung erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Das Rechtschutzinteresse fehlt unter anderem dann, wenn die Klage für den Kläger offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann (vgl. nur Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 23. Auflage, 2017, Vorb. § 40, Rn. 38). Zwar gewährt der Beklagte dem Kläger auf den gerichtlichen Beschluss vom 10. November 2016 (Az. 4 B 146/16) hin mit Bescheid vom 22. November 2016 ab dem 01. Oktober 2016 eine vorläufige Leistung gemäß § 43 SGB I in Verbindung mit §§ 41, 33 SGB VIII in Form von Hilfe für junge Volljährige. Die Hilfe wird aber ausdrücklich nur vorläufig gemäß § 43 SGB I gewährt. Der Kläger begehrt mit seiner aufrechterhaltenen Klage dagegen eine endgültige Leistungsbewilligung. Die vorläufige Leistungsgewährung stellt gegenüber der endgültigen Leistungsgewährung ein aliud dar (vgl. nur BSG, Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 119/10 R -, juris Rn. 20 m.w.N.; Wagner in: jurisPK-SGB I, 2. Auflage, 2011, Stand: 1.10.2011, § 43 Rn. 35). Materiell-rechtlich handelt es sich mithin um zwei verschiedene Ansprüche. Vorläufigen Entscheidungen nach dem Sozialgesetzbuch kommt allein die Funktion zu, eine (Zwischen-) Regelung bis zur endgültigen Klärung der Sach- und Rechtslage zu treffen. Der Anspruch auf die endgültige Bewilligung einer Sozialleistung wird deshalb durch die Gewährung vorläufiger Leistungen grundsätzlich nicht berührt. Zwar führen die tatsächlich geleisteten vorläufigen Leistungen, wie sich aus § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB I in Verbindung mit § 42 Abs. 2 Satz 1 SGB I ergibt, grundsätzlich zur Erfüllung des Anspruchs auf die endgültigen Leistungen. Eine Anrechnung der vorläufig erbrachten Leistungen auf die endgültigen Leistungen setzt jedoch schon begrifflich die Feststellung der endgültigen Leistungen voraus. Soweit es um die Gewährung der endgültigen Leistungen mit Wirkung für die Zukunft geht, wird dieser Anspruch ohnehin durch die vorläufige Leistungsgewährung nicht berührt. Schon aus diesem Grund muss es Hilfebedürftigen möglich sein, die endgültige Ablehnung einer Sozialleistung anzufechten, auch wenn sie vorläufige Leistungen erhalten (vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 4.2.2015 - L 9 SO 427/14 B - sowie Beschluss vom 22.3.2016 - L 7 AS 354/16 B ER -, zitiert jeweils nach juris).

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 05. September 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf (endgültige) Weitergewährung von Hilfe für junge Volljährige in Form der Vollzeitpflege gemäß §§ 41, 33 SGB VIII. Dabei kann offenbleiben, ob sich der Anspruch des Klägers bereits aus Ziffer 1. des zwischen ihm und dem Beklagten geschlossenen gerichtlichen Vergleichs vom 25. April 2016 (Az. 4 A 235/15) ergibt, oder aber, ob die in Ziffer 1. des Vergleichs vereinbarte Weitergewährung der Jugendhilfe nur unter der Bedingung erfolgen sollte, dass sich der Kläger - wie in Ziffer 2. vereinbart - einer Begutachtung unterzieht. Dies bedarf keiner abschließenden Entscheidung, denn der Anspruch des Klägers ergibt sich - unabhängig von dem Inhalt des gerichtlichen Vergleichs - aus den gesetzlichen Regelungen der §§ 41, 33 SGB VIII.

Nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII soll einem jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe auf Grund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Die Hilfe wird in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt; in begründeten Einzelfällen soll sie für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden (§ 41 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).

Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten nach § 41 Abs. 2 SGB VIII der § 27 Absatz 3 und 4 sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten oder des Kindes oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt. Gemäß § 33 Satz 1 SGB VIII soll Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Diese Voraussetzungen liegen vor.

Bei dem Kläger liegt - insoweit unstreitig - ein weiterer Hilfebedarf vor. Für den Kläger ist eine Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung aufgrund seiner individuellen Situation möglich und notwendig. Etwas anderes wird auch von dem Beklagten nicht vorgetragen. In den Verwaltungsvorgängen des Beklagten ist vielmehr mehrfach festgehalten worden, dass der Kläger nicht die Entwicklung eines ihm Gleichaltrigen habe und er weiter die Unterstützung durch die Pflegemutter/Betreuerin sowohl im lebenspraktischen als auch im Bereich der Ausbildung bedürfe (vgl. bspw. Bl. 102 VV, Beiakte 003). Nach Aktenlage erstreckt sich der Hilfebedarf nicht nur auf die materiellen Lebensbedürfnisse (Unterkunft, Bekleidung, Ernährung). Es besteht darüber hinaus ein erheblicher Betreuungs- und Unterstützungsbedarf in allen Lebenssituationen (vgl. u.a. Psychiatrisches Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Frau S. vom 28. Oktober 2012, Attest der Praxis T. vom 12. Dezember 2012). Der Kläger hat einen Schwerbehinderungsgrad von 80%, ihm wurden das Merkzeichen B zuerkannt, er hat einen Betreuungsbedarf, welcher der Pflegestufe I entspricht, und er ist aufgrund seiner festgestellten Einschränkungen (zumindest bisher) nicht in der Lage, ein eigenständiges Leben zu führen.

Dem Anspruch aus §§ 41, 33 SGB VIII steht nicht entgegen, dass der Kläger die Befähigung zu einer eigenständigen Lebensführung bis zur Vollendung seines 21. Lebensjahres nicht erreicht hat. Dabei verkennt die Kammer vorliegend nicht, dass die Fortschritte des Klägers in seiner Persönlichkeitsentwicklung und im Bereich der eigenständigen Lebensführung aufgrund der vielfältigen Beeinträchtigungen des Klägers (unter anderem schwere psychosoziale Deprivation, reaktive Bindungs- und Verhaltensstörung und dem Verdacht des Vorliegens eines fetalen Alkoholsyndroms) gering sind und dass er bis zu einem begrenzten Zeitraum über sein 21. Lebensjahr hinaus, maximal bis zum 27. Lebensjahr (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII; vgl. u.a. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.12.2013 - 12 A 391/13 -, juris; Schellhorn/Fischer/ Mann/Kern, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 5. Auflage, § 41 Rn. 15), die Befähigung zu einer eigenständigen Lebensführung vermutlich nicht erreichen wird. Die Hilfe nach § 41 SGB VIII setzt hingegen nicht voraus, dass Aussicht besteht, dass der junge Volljährige innerhalb eines bestimmten Zeitraums seine Verselbstständigung erreichen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.9.1999 - 5 C 26/98 -, juris). Es genügt vielmehr, dass (wahrscheinlich) ein erkennbarer Entwicklungsprozess in der Persönlichkeitsentwicklung und in der Befähigung zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gegeben ist, der noch gefördert werden kann, unabhängig davon, wann dieser Entwicklungsprozess zum Abschluss kommen und ob jemals das „Optimalziel“ erreicht wird (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.1.2016 - 12 A 2117/14 -, juris). Erst nach der Vollendung des 21. Lebensjahrs des Hilfeempfängers stellt der Gesetzgeber erhöhte Anforderungen an die Notwendigkeit der Hilfegewährung für junge Volljährige. Es muss dann eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass ein erkennbarer und schon Fortschritte zeigender Entwicklungsprozess zur Erreichung der in § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII genannten Ziele vorliegt, der durch die Weitergewährung der Hilfemaßnahme gefördert werden könnte (vgl. u.a. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.1.2016 - 12 A 2117/14 -, juris Rn. 9 f.; Sächsisches OVG, Urteil vom 25.11.2014 - 1 A 742/12 -, juris Rn. 25 m.w.N.). Auf der anderen Seite ist wiederum zu beachten, dass ein begründeter Einzelfall im Sinne des § 41 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 SGB VIII in der Regel vorliegt, wenn es aufgrund der individuellen Situation des Hilfesuchenden inhaltlich nicht sinnvoll ist, die Hilfe - wie im Regelfall - mit dem 21. Lebensjahr zu beenden (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.12.2013 - 12 A 391/13 -, juris). Erforderlich, aber auch ausreichend ist bei einem Hilfebeginn vor Vollendung des 21. Lebensjahres, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein erkennbarer Entwicklungsprozess in der Persönlichkeitsentwicklung und in der eigenverantwortlichen Lebensführung gegeben ist, der noch gefördert werden kann, die Eignung der Hilfemaßnahme also nicht völlig ausgeschlossen ist. Anders als die Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII, die die doppelte Aufgabe hat, zum einen einer (drohenden) seelischen Behinderung zu begegnen oder zu mildern und zum anderen den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern, ist die Hilfe für junge Volljährige auf - nicht mehr, aber auch nicht weniger - einen Fortschritt in einem noch andauernden Entwicklungsprozess gerichtet (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 23.9.1999 - 5 C 26/98 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.12.2013 - 12 A 391/13 -, zitiert jeweils nach juris; Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Auflage, § 41 Rn. 7). Nur wenn auf der Grundlage einer nach den gewonnenen Erkenntnissen sorgfältig zu erstellenden Prognose nicht einmal Teilerfolge zu erwarten sind, die Persönlichkeitsentwicklung vielmehr stagniert, ist die Hilfe mangels Eignung und Erfolgsaussicht zu versagen. Letzteres ist vorliegend nicht der Fall.

Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig, dass die bislang gewährte Hilfe in Form der Unterbringung bei der Pflegemutter und Betreuerin Frau C. eine geeignete Hilfemaßnahme darstellt, um eine Betreuung des Klägers sicherzustellen und dass der Kläger in der Vergangenheit - zumindest kleine - Fortschritte in seiner Persönlichkeitsentwicklung und im Bereich der eigenverantwortlichen Lebensführung gemacht hat (vgl. bspw. Schriftsatz des Beklagten vom 9.7.2015 in dem Verfahren 4 A 39/15, Bl. 113 VV, Beiakte 003). Dass diese Hilfeart auch aus Sicht des Beklagten grundsätzlich geeignet ist, ergibt sich zudem aus dem Umstand, dass er in der mündlichen Verhandlung vom 25. April 2016 in dem Verfahren 4 A 235/15 einen Vergleich dahingehend geschlossen hat, dem Kläger die weitere (unbefristete) Unterbringung des Klägers bei seiner Pflegemutter zu bewilligen.

Nach Auswertung der vorliegenden Verwaltungsvorgänge und dem Vortrag der Beteiligten steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Vollzeitpflege durch Frau C. die Persönlichkeitsentwicklung des Klägers und seine Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensführung gefördert hat und auch künftig fördern kann. Zur Feststellung dieser Fortschritte und der Prognose für die zukünftige Entwicklung des Klägers bedarf es nach Auffassung der Kammer - anders als der Beklagter in der mündlichen Verhandlung vorgebracht hat - keiner sozialmedizinischen Begutachtung des Klägers. Die (zumindest kleinen) Fortschritte in der Persönlichkeitsentwicklung und im Bereich der eigenverantwortlichen Lebensführung lassen sich den in den Verwaltungsvorgängen des Beklagten vorhandenen und von diesem inhaltlich nicht in Frage gestellten Entwicklungsberichten der Pflegemutter/Betreuerin Frau C. entnehmen. Während es beispielsweise in dem Entwicklungsbericht vom 31. Mai 2014 (vgl. Bl. 53 ff. VV, Beiakte 005) noch heißt, dass alte Verhaltensweisen des Klägers, wie ständiges Verneinen oder Essenhorten und die Weigerung einer angemessenen Körperpflege, wieder aufgetreten seien, sich aber auf den häuslichen Bereich beschränkten, heißt es in den Entwicklungsberichten vom 04. Juli 2016, 31. Dezember 2016, 20. Juni 2017 und 03. Januar 2018 (vgl. Bl. 213 ff. VV, Bl. 287 ff., Bl. 299 ff. und Bl. 331 ff. VV, Beiakte 004) durchgehend, dass diese Verhaltensweisen zwar noch vorhanden seien, aber nur noch in Stresssituationen auftreten würden. Zudem übernehme der Kläger Arbeiten im Haushalt, ohne dazu aufgefordert zu werden und er sei selbständiger in Alltagsdingen geworden, wie beispielweise Einkaufen (vgl. unter anderem Entwicklungsbericht vom 13. Juni 2015, Bl. 119 ff. VV, Beiakte 005 sowie Entwicklungsbericht vom 03. Januar 2018, Bl. 331 VV, Beiakte 004). In dem Entwicklungsbericht vom 31. Mai 2014 (Bl. 53 ff. VV, Beiakte 005) heißt es demgegenüber noch, dass der Kläger Hausarbeiten nur auf Aufforderung erledige. In dem Entwicklungsbericht vom 04. Juli 2016 wird ferner ausgeführt, dass der Kläger Zukunftspläne mache und klare Vorstellungen von seinem beruflichen Weg habe. Er sei gefestigter in seiner Persönlichkeit, was sich vor allem bei der Arbeit zeige. Er beginne, Konflikte, zum Beispiel bei der Arbeit, selbständig zu klären. Zwar benötige er noch eine intensive Vor- und Nachbereitung dieser Gespräche, aber er traue sich, die Klärung eigenständig in die Wege zu leiten (vgl. Bl. 213 ff. VV, Beiakte 004). In den Entwicklungsberichten vom 31. Dezember 2016 und vom 20. Juni 2017 heißt es weiter, dass sich die gute Entwicklung des Klägers im Großen und Ganzen fortgesetzt habe, er allerdings durch den großen emotionalen Stress (u.a. Tod einer Katze) immer wieder Phasen durchlebe, in denen er verstärkt in Phantasiewelten flüchte. Anders als früher sei er aber in der Lage zu erkennen, dass er Phantasie und Wirklichkeit vertausche und er beginne in Ansätzen dieses Verhalten zu verstehen. Er könne seine Gefühle benennen und erklären und finde eigene Mechanismen, mit unerwünschten Gefühlen wie Wut oder Angst umzugehen. Er übernehme Aufgaben im Haus und es sei nicht mehr nötig, die Ausführung der Arbeiten zu begleiten, was aus Sicht seiner Betreuerin/Pflegemutter einen sehr großen Schritt in seiner Entwicklung darstelle (vgl. Bl. 287 ff. VV und Bl. 299 ff. VV, Beiakte 004). Im aktuellsten Entwicklungsbericht vom 03. Januar 2018 (Bl. 331 VV, Beiakte 004) heißt es zudem, dass der Kläger im letzten halben Jahr selbständiger geworden sei. Bei Auftreten von Problemen suche er (teilweise) selbst nach Lösungen. Aktuell überlege der Kläger zudem den Hauptschulabschluss nachzuholen. In der mündlichen Verhandlung teilte die Pflegemutter/Betreuerin in diesem Zusammenhang mit, dass der Kläger nunmehr den eindeutigen Entschluss gefasst habe, im Sommer seinen Hauptschulabschluss nachzuholen. Zuzugeben ist zwar, dass die in den Entwicklungsberichten verzeichneten Fortschritte eher gering sind. Allerdings stagniert die Persönlichkeitsentwicklung des Klägers nicht, sondern hat sich fortlaufend in den vergangenen Jahren weiterentwickelt und der Kläger ist in kleinen Teilbereichen des alltäglichen Lebens selbständiger geworden. Vor diesem Hintergrund geht die Kammer davon aus, dass auch in Zukunft Teilerfolge in der Persönlichkeitsentwicklung und im Bereich der eigenständigen Lebensführung zu erwarten sind, die durch die Weitergewährung der Jugendhilfeleistungen gefördert werden können.

Dem Kläger steht nach den vorstehenden Ausführungen ein Anspruch auf Hilfe in Form der Vollzeitpflege und nicht lediglich ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neubescheidung zu. § 41 Abs. 1 SGB VIII ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet und gewährt dem Leistungsberechtigten im Regelfall einen Rechtsanspruch auf die Leistungsgewährung. Eine Ablehnung ist bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nur zulässig, wenn ein atypischer Sachverhalt dies ausnahmsweise erlaubt (vgl. u.a. Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 5. Auflage, 2015, § 41 Rn. 25; VG Greifswald, Beschluss vom 17.1.2014 - 2 B 1179/13 -, juris). Eine derartige atypische Situation wurde weder vorgetragen noch ist eine solche sonst ersichtlich.

Darüber hinaus hat der Kläger Anspruch auf unbefristete (Weiter-) Bewilligung der Jugendhilfeleistung, auch wenn er das 21. Lebensjahr bereits vollendet hat. Einer unbefristeten Bewilligung steht die Regelung des § 41 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 SGB VIII nicht entgegen. Hiernach soll zwar eine Hilfegewährung über Vollendung des 21. Lebensjahres hinaus nur in begründeten Einzelfällen für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden. § 41 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 SGB VIII engt mithin die Regelung im Hinblick auf die Dauer („für einen begrenzten Zeitraum“) ein. Dieser Zeitraum kann aber nicht schematisch, sondern nur im Hinblick auf den konkreten Hilfebedarf im Einzelfall bestimmt werden. Eine absolute Grenze findet die Zuständigkeit der Jugendhilfe nur in der Vollendung des 27. Lebensjahres des Hilfebedürftigen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 25.1.2000 - 4 L 2934/99 -, juris; Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 5. Auflage, 2015, § 41 Rn. 26). Aus § 41 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 SGB VIII folgt demnach nicht, dass eine Bewilligung über das 21. Lebensjahr hinaus stets nur in befristeter Form möglich ist. Die in der Praxis teilweise als Orientierungswert gesetzte Zeitspanne von einem halben Jahr oder einem ganzen Jahr, wie dies auch der Beklagte in seiner bisherigen Bewilligungspraxis angewendet hat (vgl. die bisherigen Klageverfahren zu den Az. 4 A 240/14, 4 A 39/15 und 4 A 235/15), ist weder vom Gesetzestext noch von der Intention des Gesetzgebers gedeckt (vgl. Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Auflage, § 41 Rn. 9 m.w.N.). Der Begriff „für einen begrenzten Zeitraum“ ist ferner nicht dahingehend auszulegen, dass eine vor dem 21. Lebensjahr begonnene Hilfe dann nicht fortgesetzt werden kann, wenn von vornherein absehbar ist, dass sie bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres - also während des gesamten Zeitraums - erforderlich bleibt (vgl. Schellhorn/Fischer/Mann/Kern, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 5. Auflage, § 41 Rn. 16). Allerdings ist das Kriterium „für einen begrenzten Zeitraum“ auch nicht unbeachtlich. Vielmehr kann in geeigneten Fällen die Hilfe hinsichtlich des Zeitraums nach der Vollendung des 21. Lebensjahres durchaus begrenzt werden, beispielsweise wenn die Maßnahme in der Ermöglichung eines zeitlich absehbaren Ausbildungsabschlusses besteht oder wenn eine Therapie regelmäßig für einen bestimmten Zeitraum durchgeführt zu werden pflegt. In anderen Fällen kann jedoch der „begrenzte Zeitraum" mit der Vollendung des 27. Lebensjahres, also dem Ende der Zeit zusammenfallen, in der der Hilfeempfänger als „junger Volljähriger" anzusehen ist (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 25.1.2000 - 4 L 2934/99 -, juris). Wie bereits ausgeführt, ist das Fortbestehen eines weiteren Hilfebedarfs unstreitig. Überdies ist nicht absehbar, ob und gegebenenfalls wann der Hilfebedarf des Klägers vor Vollendung des 27. Lebensjahres entfällt, womit dem Kläger die Hilfe (zunächst) in unbefristeter Form weiter zu gewähren ist. Die unbefristete (Weiter-) Bewilligung führt auch nicht dazu, dass der Kläger tatsächlich bis zur Vollendung seines 27. Lebensjahres Anspruch auf Hilfe in Form der Vollzeitpflege nach den Regelungen des Jugendhilferechts hat. Ergeben sich neue Tatsachen und Umstände, die zu einem späteren Entfallen der Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 41, 33 SGB VIII führen, so steht es dem Beklagten selbstredend offen, die Bewilligung nachträglich aufzuheben. Eine fortwährende Überprüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen ist bereits dadurch gewährleistet, dass nach § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII regelmäßig zu prüfen ist, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist, was in der Regel im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Hilfeplangespräche geschieht. In diesem Rahmen kann unter anderem auch geprüft werden, ob der Kläger weiter Fortschritte in seiner Persönlichkeitsentwicklung und der Fähigkeit zur eigenständigen Lebensführung macht und es kann festgestellt werden, ob die pädagogische Ausrichtung der Jugendhilfe weiterhin die richtige Hilfeart ist, oder ob gegebenenfalls andere Hilfen in Betracht kommen.

Soweit der Beklagte gegen die Weiterbewilligung der Vollzeitpflege einwendet, dass eine solche erst nach einer erforderlichen sozialmedizinischen Begutachtung des Klägers möglich sei, da gegebenenfalls ein Rechtskreiswechsel vom SGB VIII zum SGB XII und damit eine Abgabe an das Sozialamt anstehe, steht dies dem geltend gemachten Anspruch des Klägers nicht entgegen. Die Kammer versteht dieses Vorbringen dahingehend, dass sich der Beklagte auf ein Nachrangverhältnis nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII beruft.

§ 10 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 SGB VIII regelt das Verhältnis zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe. Nach § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII gehen Leistungen nach dem SGB VIII Leistungen nach dem SGB XII grundsätzlich vor. Abweichend hiervon gehen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für junge Menschen, die körperlich und/oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem SGB VIII vor (vgl. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII). Ungeschriebene Voraussetzung dieser Konkurrenzregel ist, dass die Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (vgl. nur BVerwG, Urteile vom 13.6.2013 - 5 C 30/12 -, vom 2.3.2006 - 5 C 15/05 - sowie vom 23.9.1999 - 5 C 26/98 -, zitiert jeweils nach juris). Im Falle bestehender Mehrfachbehinderungen ist dabei - anders als der Beklagte meint - nicht auf den Schwerpunkt der Behinderungen, sondern allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen abzustellen (vgl. u.a. BVerwG, Urteile vom 23.9.1999 - 5 C 26/98 - sowie vom 13.6.2013 - 5 C 30/12 -, zitiert jeweils nach juris). Eine Differenzierung danach, ob der Schwerpunkt des Bedarfs oder Leistungszwecks eher auf der Jugendhilfe oder eher auf der Eingliederungshilfe liegt, ist nicht zulässig. Für den Vorrang der Eingliederungshilfeleistungen nach dem SGB XII genügt bereits jede Überschneidung der Leistungsbereiche; es ist dafür nicht (weitergehend) erforderlich, dass der Schwerpunkt des Hilfebedarfs beziehungsweise Hilfezwecks im Bereich einer der den Eingliederungsbedarf auslösenden Behinderungen liegt oder eine von ihnen für die konkrete Maßnahme ursächlich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 9.2.2012 - 5 C 3/11 -, juris). Leistungen nach den §§ 53 ff. SGB XII sind auch dann vorrangig, wenn die Leistungen zumindest auch auf den Hilfebedarf wegen geistiger oder körperlicher Behinderung eingehen (vgl. Bay. LSG, Urteil vom 16.11.2017 - L 9 SO 284/16 -; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29.10.2015 - L 8 SO 122/12, zitiert jeweils nach juris).

Dies vorangestellt, ist dem Beklagten zwar insoweit beizupflichten, als er als Jugendhilfeträger im Falle einer bestehenden Mehrfachbehinderung des Klägers gegebenenfalls nachrangig verpflichtet wäre. Vorliegend kann allerdings dahinstehen, ob neben dem Beklagten als Jugendhilfeträger gegebenenfalls auch der Sozialhilfeträger sachlich zuständig wäre und falls ja, welcher Sozialhilfeträger örtlich zuständig wäre. Es muss ebenfalls nicht abschließend geklärt werden, ob ein Anspruch des Klägers auf Eingliederungshilfe durch Unterbringung in einer Pflegefamilie nach § 54 Abs. 3 SGB XII, die der Hilfe für junge Volljährige in Form der Vollzeitpflege nach §§ 41, 33 SGB VIII entspricht, im Hinblick auf den zwischenzeitlichen Eintritt der Volljährigkeit des Klägers überhaupt besteht (bejahend etwa: OVG Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.8.2017 - 12 B 754/17 -, juris Rn. 24; ablehnend dagegen: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.6.2014 - L 8 SO 147/10 -, juris Rn. 27. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu, dass durch den offenen Leistungskatalog des § 54 SGB XII die Möglichkeit der Betreuung von Erwachsenen in Pflegefamilien unberührt bleibe, vgl. BT-Drs. 16/13417, S. 6) und ob beide Ansprüche überhaupt vollständig deckungsgleich wären, woran zumindest im Hinblick auf die Sicherstellung des Lebensunterhalts bei der Unterbringung in einer Pflegefamilie Zweifel bestehen, da diese zwar zu den Leistungen der Hilfe zur Erziehung nach den §§ 41, 33, 27, 39 SGB VIII, nicht aber zur Eingliederungshilfe nach §§ 54 ff. SGB XII gehören (vgl. hierzu nur BVerwG, Urteil vom 2.3.2006 - 5 C 15/05 -; Nds. OVG, Beschluss vom 15.4.2010 - 4 LC 266/08 -, zitiert jeweils nach juris). Denn selbst wenn ein entsprechender Anspruch des Klägers auf Eingliederungshilfe nach dem SGB XII bestünde, könnte der Beklagte gegenüber dem hier geltend gemachten Anspruch des Klägers nicht mit Erfolg einwenden, nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII zur Gewährung der beantragten Jugendhilfe nicht verpflichtet zu sein.

Ein Nebeneinander möglicher gleichgerichteter Leistungsansprüche ist Voraussetzung dafür, dass Regelungen zum Rangverhältnis verschiedener Sozialleistungen anzuwenden sind, überführt das Rangverhältnis indes nicht in ein Spezialitätsverhältnis, bei dem der Existenz eines gleichgerichteten Leistungsanspruches nach einer anderen Norm unmittelbar anspruchsvernichtende Wirkung zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.10.2009 - 5 C 19/08 -, juris Rn. 18). Ein Nachrang der Jugendhilfe hat keine Auswirkungen auf das Leistungsverhältnis zwischen dem Hilfesuchenden (hier dem Kläger) und dem Jugendhilfeträger. Die Konkurrenzbestimmungen des § 10 Abs. 4 SGB VIII lassen das Bestehen der Ansprüche unberührt. Auf der Ebene der Verpflichtung zum Hilfesuchenden bewirkt ein Nachrang der Jugendhilfe keine Freistellung des nachrangig verpflichteten Jugendhilfeträgers und keine alleinige Zuständigkeit des vorrangig verpflichteten Sozialhilfeträgers. Im Falle sich überschneidender Zuständigkeiten sind im Interesse des Hilfeempfängers, der hierdurch keinen Nachteil erleiden soll, beide Hilfeträger zur Leistung verpflichtet. Ein möglicher Nachrang ist nur für die Bestimmung der (endgültigen) Kostenträgerschaft und gegebenenfalls Kostenerstattung von Bedeutung (st. Rspr. des BVerwG, vgl. nur BVerwG, Urteile vom 9.2.2012 - 5 C 3/11 -, vom 19.10.2011 - 5 C 6/11, vom 22.10.2009 - 5 C 19/08 -, vom 22.5.2008 - 5 B 203/07 - sowie Urteil vom 23.9.1999 - 5 C 26/98 -; zitiert jeweils nach juris; vgl. auch Nds. OVG, Beschluss vom 2.11.2012 - 4 LA 241/12 -, Veröffentlichung nicht bekannt; Nds. OVG, Beschluss vom 15.4.2010 - 4 LC 266/08 - sowie Urteil vom 25.7.2007 - 4 LB 90/07 -, zitiert jeweils nach juris; Sächs. OVG, Urteil vom 25.11.2014 - 1 A 742/12 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.8.2009 - 12 E 627/09 -, zitiert jeweils nach juris). Deshalb besteht der Anspruch des Klägers nach §§ 41, 33 SGB VIII auch für den Fall, dass dem Kläger noch zusätzlich ein Hilfeanspruch wegen geistiger Behinderung nach dem SGB XII zustehen sollte. Der Kläger kann, solange die benötigte Hilfe aussteht, frei entscheiden, welche Leistung und welchen Leistungsträger er in Anspruch nimmt. Dementsprechend muss im vorliegenden Verfahren auch nicht abschließend geklärt werden, ob der Kläger gegebenenfalls auch an einer geistigen Behinderung leidet.

Da sich der Beklagte gegenüber dem Kläger nicht auf einen gegebenenfalls bestehenden Nachrang berufen kann und er gegenüber dem Kläger zur Leistung verpflichtet ist, muss die zwischen den Beteiligten streitig erörterte Frage, ob der Beklagte (zusätzlich) über § 14 SGB IX endgültig zuständig geworden ist, nicht geklärt werden. Lediglich der Vollständigkeit halber weist die Kammer aber darauf hin, dass zumindest Zweifel bestehen, ob diese Regelung vorliegend Anwendung findet. Der Beklagte hat als Jugendhilfeträger die Leistungen der Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege erbracht, sodass fraglich ist, ob er überhaupt als Rehabilitationsträger im Sinne der §§ 6 Abs. 1 Nr. 6, 5 Nr. 1, 2 oder 4 SGB IX tätig geworden ist (ablehnend beispielsweise: Bay LSG, Urteil vom 16.11.2017 - L 8 SO 284/16 -, juris Rn. 27; anders dagegen anscheinend: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.8.2017 - 12 B 754/17 -, juris Rn. 12).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2, 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, da dieser keinen Antrag gestellt hat und sich daher nicht einem Kostenrisiko unterworfen hat (vgl. §§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit § 709 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Berufung gemäß § 124 a Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO durch das Verwaltungsgericht liegen nicht vor.