Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 14.11.2012, Az.: 11 A 3061/12

Aufenthaltserlaubnis; humanitäre Gründe; faktischer Inländer; Integration; Verwurzelung

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
14.11.2012
Aktenzeichen
11 A 3061/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44478
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Für ein Ausreisehindernis aus dem Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK ist neben der reinen Aufenthaltszeit auch maßgeblich, wie lange der Aufenthalt rechtmäßig war und ob der Aufenthaltszweck potentiell dauerhafter oder von vornherein nur vorübergehender Natur war. Bei einem weit überwiegend legalen und ursprünglich auf Dauer angelegten Aufenthalt können in gewissem Umfang geringere Anforderungen an Aufenthaltszeit und Integration gestellt werden.
2. Reintegrationsschwierigkeiten im Heimatland sind auch zu berücksichtigen, wenn sie die Schwelle des § 60 AufenthG nicht erreichen. Sie führen aber nicht per se, sondern nur in Zusammenschau mit der in Deutschland erreichten Integration und nach Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zu einem Ausreisehindernis.
3. Der Maßstab des "faktischen Inländers" wurde in Ausweisungsfällen entwickelt und kann nicht ohne weiteres auf einen Ausländer übertragen werden, der lange Jahre rechtmäßig in Deutschland gelebt hat und keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK.

Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger. Er wurde am ...             1974 im I. geboren. Er ist körperlich schwer behindert und sitzt im Rollstuhl.

Am 5. Februar 2001 beantragte der Kläger in Deutschland Asyl, wobei er zwar seine zutreffende Staatsangehörigkeit, aber einen falschen Namen und ein falsches Geburtsdatum angab. Mit Bescheid vom 3. Mai 2001 stellte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft (damals: § 51 Abs. 1 AuslG; heute: § 60 Abs. 1 AufenthG) fest. Dabei rekurrierte es entscheidend auf die irakische Staatsangehörigkeit des Klägers und die allen Irakern damals wegen der Asylantragstellung drohende Verfolgungsgefahr.

Ab dem 23. Juli 2001 erhielt der Kläger von der Beklagten Aufenthaltsbefugnisse, nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Die letzte Aufenthaltserlaubnis lief am 3. August 2007 ab. Danach erhielt der Kläger bis zur Entscheidung über seinen Verlängerungsantrag (13. Oktober 2010) Fiktionsbescheinigungen.

Zwischen 2003 und 2005 wurde der Kläger dreimal wegen Ladendiebstählen verurteilt, wobei bei den ersten beiden Verurteilungen jeweils eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen und bei der letzten Verurteilung eine Freiheitsstrafe von 2 Monaten verhängt wurde, deren Vollstreckung für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die letzte Tat war am 2. April 2005. Seither wurde der Kläger nicht erneut wegen Straftaten verurteilt.

Mit Bescheid vom 4. Juli 2005 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingsanerkennung des Klägers. Der Widerruf wurde nach erfolglosem Klageverfahren (VG Oldenburg - 3 A 2952/05 -) am 19. Januar 2008 rechtskräftig. Am 14. April 2009 offenbarte der Kläger der Beklagten seine richtigen Personalien; am 23. April 2010 legte er einen irakischen Reisepass vom 6. Februar 2010 vor. Seine Anträge auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bzw. Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wurden von der Beklagten mit Bescheid vom 13. Oktober 2010 abgelehnt. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger keinen Rechtsbehelf ein. Er wird seither im Hinblick auf den Abschiebestopp für irakische Staatsangehörige geduldet.

Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 17. November 2011 beantragte der Kläger die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, hilfsweise einer Aufenthaltserlaubnis. Zur Begründung berief er sich auf seine Schwerbehinderung und den Umstand, dass er seit über 10 Jahren in Deutschland lebe.

Nach Anhörung des Klägers lehnte die Beklagte die Anträge mit Bescheid vom 23. Februar 2012 ab. Bezüglich der Niederlassungserlaubnis führte sie aus, dass eine solche schon deshalb nicht erteilt werden könne, weil der Kläger aktuell keine Aufenthaltserlaubnis besitze. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG könne ebenfalls nicht erteilt werden. Insbesondere bestehe in der Person des Klägers kein Ausreisehindernis aus dem Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK. Der Kläger sei erst im Alter von 27 Jahren nach Deutschland eingereist, habe also seine prägenden Kindheits- und Jugendjahre im Irak verbracht. Er spreche arabisch und habe bis auf einen Bruder keine verwandtschaftlichen Bindungen an Deutschland, während im Irak noch seine Mutter und ein weiterer Bruder lebten. Seinen Lebensunterhalt könne er nicht selbständig bestreiten. Außerdem sprächen die Identitätstäuschung und die Vorstrafen gegen eine gelungene Integration.

Der Kläger hat gegen diesen Bescheid am 27. März 2012 insoweit Klage erhoben, als die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG abgelehnt wurde. Zur Begründung verweist er erneut auf seine Behinderung und die lange Aufenthaltszeit. Als Rollstuhlfahrer könne er sich im Irak nicht mehr reintegrieren und wäre zu einem Leben auf der Straße gezwungen. Auch sei zu berücksichtigen, dass die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG im Jahr 2010 nur knapp an der Nichterfüllung der zeitlichen Voraussetzungen um 6 Monate gescheitert sei.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen und den Bescheid des Beklagten vom 23. Februar 2012 aufzuheben, soweit er dem entgegen steht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG.

In der Person liegt ein rechtliches Ausreisehindernis aus Art. 8 EMRK vor. Der Schutz des Privatlebens nach dieser Vorschrift steht dem Ansinnen der deutschen Behörden, der Kläger solle in den Irak ausreisen, entgegen.

Für ein solches Ausreisehindernis maßgeblich sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts in Deutschland, die Kenntnisse der deutschen Sprache und die soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, in einem festen Wohnsitz, einer Sicherstellung des ausreichenden Lebensunterhalts, einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel, und dem Fehlen von Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Ferner ist die Möglichkeit einer Integration im Heimatland zu untersuchen, die sich nach Kriterien wie der Kenntnis der dortigen Sprache, der Existenz dort lebender Angehöriger sowie sonstiger Bindungen an das Heimatland bemisst. Von großer Bedeutung ist auch, ob der Aufenthalt des Ausländers in Deutschland zumindest zeitweise rechtmäßig war und ein Vertrauen auf einen weiteren Verbleib im Bundesgebiet entstehen lassen konnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2009 - 1 C 40.07 - NVwZ 2009, 979 <981>; Urteil vom 30. April 2009 - 1 C 3.08 - InfAuslR 2009, 333 <335>; Nds. OVG, Beschluss vom 20. April 2009 - 8 LA 54/09 -; Beschluss vom 17. Juli 2008 - 8 ME 42/08 - <juris>; Beschluss vom 1. November 2007 - 10 PA 96/07 -; Beschluss vom 17. November 2006 - 10 ME 222/06 -; Beschluss vom 1. September 2006 - 8 LA 101/06 -; Beschluss vom 11. Mai 2006 - 12 ME 138/06; Beschluss vom 11. April 2006 - 10 ME 58/06 -; Beschluss vom 18. April 2006 - 1 PA 64/06; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Juni 2009 - 11 S 933/09 - InfAuslR 2009, 386). Die Fähigkeit, den Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen zu sichern, ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Sie darf aber nicht einseitig in den Vordergrund gerückt werden, so dass andere Umstände unberücksichtigt bleiben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392/10 -, InfAuslR 2011, 235 <237> Rn. 21).

Vergleicht man anhand dieser Maßstäbe die Integration des Klägers in Deutschland mit seinen Reintegrationschancen im Irak und wiegt man diese Aspekte gegen das öffentliche Interesse an einer Ausreise des Klägers aus Deutschland ab, kommt man zu dem Ergebnis, dass eine staatlich veranlasste Ausreise ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Privatleben des Klägers wäre.

Grundvoraussetzung für ein aus dem menschenrechtlichen Schutz des Privatlebens entspringendes Ausreisehindernis ist zunächst in zeitlicher Hinsicht ein lang andauernder Aufenthalt in Deutschland. Der Kläger hat zwar die meiste Zeit seines Lebens (27 Jahre) im Irak verbracht, er hält sich nun aber schon seit fast 12 Jahren – also immerhin knapp ein Drittel seines bisherigen Lebens - in Deutschland auf. Für das menschenrechtliche Gewicht dieses Aufenthalts ist neben der faktischen Länge aber auch entscheidend, für wie lange und aus welchem Grund der Aufenthalt rechtmäßig war. Während ein illegaler Aufenthalt in aller Regel auch bei sehr langer Dauer kein Ausreisehindernis aus Art. 8 EMRK entstehen lässt, können bei einem weit überwiegend legalen Aufenthalt in Deutschland in gewissem Umfang geringe Anforderungen an Zeitdauer und Integration gestellt werden (vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 29. November 2007 - 11 B 3332/07 -; ähnl. Burr, in: GK-AufenthG, § 25 Rn. 154). Unter dem Aspekt des „Vertrauen-Könnens“ auf einen weiteren Aufenthalt in Deutschland ist dabei ein Aufenthalt, der ursprünglich zu einem jedenfalls potentiell dauerhaften Zweck erlaubt worden war, gewichtiger als ein Aufenthalt, der von vornherein nur einem kurzfristigen, vorrübergehenden Zweck diente. Diese Aspekte sprechen hier für den Kläger. Sein Aufenthalt in Deutschland war weit überwiegend rechtmäßig. Formell gesehen hielt sich der Kläger vom 5. Februar 2001 (Zeitpunkt der Asylantragstellung) bis zum 13. Oktober 2010 (Zeitpunkt der Zustellung der Ablehnung seines Antrags auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis bzw. Erteilung einer Niederlassungserlaubnis) rechtmäßig in Deutschland auf, das sind neun Jahre und acht Monate. Materiell war sein Aufenthalt immerhin noch vom 5. Februar 2001 bis zum Ablauf der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG am 3. August 2007, also fast sechseinhalb Jahre, rechtmäßig. Ohne Bedeutung ist insofern der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt vom 4. Juli 2005, da dieser nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes keine unmittelbaren aufenthaltsrechtlichen Rechtsfolgen nach sich zieht. Betrachtet man den Aufenthaltszweck, so ist festzustellen, dass der Kläger von Anfang an aus einem legitimen, mit verfassungsrechtlichem Gewicht (Art. 16a GG) ausgestatteten Grund – nämlich der begründeten Furcht vor politischer Verfolgung – nach Deutschland kam (vgl. insofern den Bescheid des Bundesamtes vom 3. Mai 2001, mit dem das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AufenthG festgestellt wurde). Dies spricht erheblich zu seinen Gunsten (Umkehrschluss aus BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 - 1 C 3.08 - InfAuslR 2009, 333 <335>, wo die Aussichtslosigkeit des Asylantrags zu Lasten des Ausländers gewichtet wurde). Dieser Aufenthaltszweck war von seiner Art her auch geeignet, beim Kläger aus damaliger Sicht ein Vertrauen auf einen Daueraufenthalt in Deutschland zu wecken. Denn Ende des Jahres 2001 musste der Kläger noch davon ausgehen, dass er in seiner Heimat auf unabsehbare Zeit von politischer Verfolgung bedroht sein wird. Der Umsturz des Regimes von Saddam Hussein durch den späteren Einmarsch US-amerikanischer Truppen war für ihn damals nicht vorhersehbar, so dass er sich auf ein längeres Leben in Deutschland einstellen musste.

Auch die Kriterien „fester Wohnsitz“ und „Kenntnisse der deutschen Sprache“ streiten hier zugunsten des Klägers. Der Kläger bewohnt nach seinen nicht zweifelhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung seit mehr als neun Jahren eigenständige Mietwohnungen. Nur die ersten beiden Jahre in Deutschland hat er in einer Gemeinschaftsunterkunft verbracht. Seine jetzige Wohnung hat er seit acht Jahren gemietet. Er hat trotz seiner erheblichen körperlichen Behinderung zwei Jahre lang Deutschkurse an der Volkshochschule absolviert. Der Einzelrichter hat sich mit dem Kläger in der mündlichen Verhandlung ohne Zuhilfenahme des Dolmetschers unterhalten; die Verständigung war völlig problemlos. Auch wenn das Deutsch des Klägers nicht vollständig fehler- und akzentfrei ist, kann es dennoch als gut und fließend bezeichnet werden.

Die Kriterien „Straffreiheit“ und – damit zusammenhängend – „allgemeine Rechtstreue“ fallen trotz gewisser Einschränkungen im Ergebnis ebenfalls zugunsten des Klägers aus. Zwar hat der Kläger in den Anfangsjahren seines Aufenthalts einige ausländer- und strafrechtliche Verstöße begangen. Der Einzelrichter ist jedoch aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre überzeugt, dass es sich dabei um ein abgeschlossenes Kapitel handelt, welches über den aktuellen Integrationsstand des Klägers nichts aussagt. In ausländerrechtlicher Hinsicht muss dem Kläger vorgeworfen werden, dass er bei seiner Asylantragstellung einen falschen Namen und ein falsches Geburtsdatum angegeben hat. Da für seine Flüchtlingsanerkennung aber letztendlich allein die – zutreffend angegebene - irakische Staatsangehörigkeit entscheidend war, war diese Täuschung im konkreten Fall im Ergebnis aufenthaltsrechtlich irrelevant. Positiv ist zu vermerken, dass der Kläger diese Täuschung im Jahre 2009 aus eigenem Antrieb gerade zu einem Zeitpunkt aufgedeckt hat, als nach bestandskräftigem Widerruf seiner Flüchtlingseigenschaft ihre Aufrechterhaltung für ihn von Vorteil gewesen wäre, weil nun erstmals eine Aufenthaltsbeendigung drohte. Der Kläger hat dann auch 2010 seinen neu ausgestellten irakischen Reisepass vorgelegt. Daher geht der Einzelrichter davon aus, dass er in Zukunft seinen ausländerrechtlichen Pflichten nachkommen wird. Gleiches gilt für die strafrechtlichen Pflichten. Zwar hat der Kläger am 6. und 19. Mai 2003 sowie am 2. April 2005 jeweils einen Ladendiebstahl begangen, weshalb er 2003/2004 zu zwei Geldstrafen und 2005 zu einer Freiheitsstrafe von 2 Monaten auf Bewährung verurteilt wurde. Seither ist der Kläger jedoch nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die Bewährungszeit ist schon seit vier Jahren abgelaufen. Angesichts des Zeitablaufs und des verhältnismäßig geringen Gewichts der Vorstrafen geht der Einzelrichter davon aus, dass beim Kläger keine kriminelle Neigung vorliegt und er daher sowohl aktuell als auch mit Blick auf die Zukunft als in rechtlicher Hinsicht integriert angesehen werden kann. Für spätere Verlängerungen der Aufenthaltserlaubnis ist allerdings jetzt schon darauf hinzuweisen, dass diese ein rechtstreues Verhalten voraussetzen dürften.

Dass der Kläger seinen Lebensunterhalt durch nicht beitragsfinanzierte Sozialleistungen bestreitet, stellt im vorliegenden Einzelfall ausnahmsweise kein Indiz für eine mangelnde Integration dar. Der Kläger ist körperlich schwerbehindert und sitzt im Rollstuhl. Nach seinen von der Beklagten nicht bestrittenen Angaben in der mündlichen Verhandlung war er zeitweise in einer Behindertenwerkstatt tätig. Zwar ist für die Frage der Integration grundsätzlich unbeachtlich, ob der Ausländer die mangelnde Lebensunterhaltssicherung nicht zu vertreten hat (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. März 2009 – 10 LA 377/08 – juris Rn. 19 m.w.N.) Vorliegend geht es aber nicht um ein Vertreten-Müssen bzw. Nicht-Vertreten-Müssen, sondern darum, ob aus dem Fehlen eines Arbeitsplatzes unter den Umständen des Einzelfalls auf eine mangelhafte Eingliederung in die deutsche Gesellschaft geschlossen werden kann. Dies erscheint dem Einzelrichter hier mit Blick auf die erhebliche körperliche Behinderung ausnahmsweise nicht möglich. Auch von einem deutschen Staatsbürger in der Situation des Klägers würde man nach allgemeiner Anschauung ausnahmsweise keine Erwerbstätigkeit erwarten, um ihn als sozial eingebunden bezeichnen zu können.

Bei einer Gesamtbetrachtung aller vorgenannten Umstände erscheint der Kläger als gut integriert.

Neben der Integration des Klägers in Deutschland ist aber - wie oben ausgeführt - auch die Möglichkeit seiner Reintegration in das Heimatland in den Blick zu nehmen. Hierbei ist vorliegend festzustellen, dass er beträchtliche Schwierigkeiten haben dürfte, sich wieder in die Lebensverhältnisse des Iraks einzugliedern.

Er hat das Land vor mehr als elf Jahren verlassen. Seither hat sich die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation im Irak infolge des Einmarsches der US-amerikanischen Streitkräfte grundlegend verändert. Der Kläger würde im Falle einer Rückkehr also Verhältnisse vorfinden, die er aus der Zeit vor seiner Ausreise so nicht kennt. Diese Verhältnisse sind überdies für die Reintegration von Flüchtlingen äußerst ungünstig. Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26. März 2012 sind Rückkehrer nach wie vor Ziel von Gewaltkriminalität, Bedrohungen und Anschlägen, insbesondere in Gegenden, in den ihre Ethnie bzw. religiöse Gruppierung nicht die Mehrheit darstellt. Sie leben in der Regel unter schwierigen Bedingungen. Die weiterhin fragile Sicherheitslage sowie schwerwiegende Defizite in der Versorgung zur Deckung der Grundbedürfnisse sowie im Gesundheits- und Bildungsbereich erschweren die Situation von Rückkehrern im Irak erheblich (Ziff. IV. 2., S. 33). Bei Behinderten muss nach Auskunft des Auswärtigen Amtes trotz gewisser staatlicher Unterstützungsleistungen v.a. die Familie Sorge für Pflege und Unterhalt tragen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 14. März 2011 – 508-516.80/45876 -, juris). Dies stimmt mit den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung überein, wonach er bis zu seiner Ausreise bei seinen Eltern gewohnt habe und von ihnen versorgt worden sei. Seine Eltern seien inzwischen aber beide verstorben; bezüglich seiner Mutter hat der Kläger sogar eine Sterbeurkunde vorgelegt. Der Einzelrichter hat keine konkreten Anhaltspunkte, die die Richtigkeit dieser Aussage in Zweifel ziehen. Aber selbst wenn man den Tod der Eltern für nicht ausreichend nachgewiesen hält, müssten die Eltern des Klägers jedenfalls in einem Alter sein, in dem sie nach allgemeiner Lebenserfahrung eher selbst auf Pflege und Unterstützung angewiesen sind, als dass sie ihrerseits noch ein erwachsenes behindertes Kind pflegen und unterstützen können. Daneben hat der Kläger im Irak noch einen Bruder, mit dem er telefonisch in Kontakt steht. Dieser Bruder hat jedoch eine eigene Familie zu versorgen. Es ist daher nicht anzunehmen, dass er sich in größerem Umfang und über längere Zeit einem behinderten Bruder annehmen will und kann, der nach fast zwölfjährigem Auslandsaufenthalt, während dessen nur telefonischer Kontakt bestand, aus Europa zurückkehrt. Der Einzelrichter ist daher davon überzeugt, dass dem Kläger keine nachhaltige familiäre Unterstützung im Irak zur Verfügung stehen wird. Eine Reintegration wird sich gerade für ihn daher als sehr schwierig darstellen.

Diese Erwägungen sind nicht etwa deswegen unstatthaft, weil zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG grundsätzlich außer Betracht zu bleiben haben und im Falle des Klägers überdies aufgrund des bestandskräftigen Widerrufsbescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. Juli 2005 feststeht, dass ihm im Irak keine nach § 60 AufenthG relevanten Gefahren drohen. Es geht dem erkennenden Gericht mit den vorstehenden Ausführungen nicht darum festzustellen, ob dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak Gefahren im Sinne des § 60 AufenthG drohen. § 60 AufenthG normiert Voraussetzungen, unter denen keinem Ausländer die Rückkehr in sein Heimatland abverlangt werden kann. Ob der Ausländer gut in Deutschland integriert ist oder nicht, spielt hierfür keine Rolle. Auch ein Ausländer, der gerade erst in Deutschland angekommen ist und weder die deutsche Sprache spricht noch sonst mit den hiesigen Lebensverhältnissen vertraut ist, braucht nicht auszureisen, wenn ihm in seiner Heimat Gefahren im Sinne des § 60 AufenthG drohen. Beim Kläger geht es vorliegend dagegen darum, im Rahmen von § 25 Abs. 5 AufenthG und Art. 8 EMRK festzustellen, ob von ihm angesichts des guten Integrationsstandes, den er in Deutschland bereits erreicht hat, und der Umstände, die eine Reintegration im Heimatland erschweren, die Rückkehr verlangt werden kann. Hierbei können auch Probleme im Heimatland berücksichtigt werden, die unterhalb der Schwelle des § 60 AufenthG liegen. Sie führen allerdings nicht per se zu einer rechtlichen Unzumutbarkeit der Ausreise, sondern nur, wenn sie mit einer guten Integration in Deutschland und einem im Verhältnis dazu geringen öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zusammen treffen.

Im Falle des Klägers treffen eine gute Integration in Deutschland, erhebliche Schwierigkeiten bei der Reintegration im Irak und ein vergleichsweise geringes öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zusammen. Dass öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung besteht im Falle des Klägers vor allem darin, dass Ausländer, die noch keine Niederlassungserlaubnis erhalten haben, Deutschland grundsätzlich wieder verlassen sollen, wenn der ursprüngliche Zweck ihres Aufenthalts (hier: die Gefahr politischer Verfolgung im Irak) entfallen ist, zumal dann, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht eigenständig sichern. Dieses generelle öffentliche Anliegen ist aber nicht so gewichtig, dass es nicht im Einzelfall zurücktreten könnte, wenn ein Ausländer – wie der Kläger - viele Jahre rechtmäßig in Deutschland gelebt hat, die zeitlichen Voraussetzungen für eine Niederlassungserlaubnis nur knapp verfehlt hat, bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände trotz der mangelnden Lebensunterhaltssicherung als gut integriert erscheint und erhebliche Schwierigkeiten bei der Reintegration in seiner Heimat hätte. Stärker wäre das öffentliche Aufenthaltsbeendigungsinteresse dagegen zu gewichten, wenn vom Kläger wegen drohender Straftaten eine aktuelle Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausginge. Dies ist aber – wie oben dargelegt – nicht der Fall. Daher ist auch unschädlich, dass der Kläger trotz seiner erheblichen Integrationserfolge sicherlich noch nicht den Status eines "faktischen Inländers" erlangt hat. Der Maßstab des "faktischen Inländers" wurde vom Bundesverwaltungsgericht und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Ausweisungsfällen entwickelt, in denen aufgrund der schweren Straftaten des Ausländers ein erhebliches Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung bestand (vgl. z. B. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 - 1 C 8.98 -, InfAuslR 1999, 54 [BVerwG 29.09.1998 - BVerwG 1 C 8/96] <56 f.>). Entsprechend konnte dort auch nur eine ganz außergewöhnliche Integration das Interesse an der Entfernung des Ausländers aus dem Gastland aufwiegen. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Ausländer nur vor längerer Zeit geringfügig straffällig wurde und keine Wiederholung zu befürchten ist, ist das öffentliche Interesse an seiner Ausreise dagegen viel geringer, so dass auch seine Verwurzelung in Deutschland etwas geringer sein kann, um im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK noch zu überwiegen (vgl. EGMR, Urteil vom 16. Juni 2005 - 60654/00 -Sisojeva ./. Lettland, EuGRZ 2006, 554 <558>).

Der Kläger ist somit im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen an der Ausreise gehindert.

Der Kläger erfüllt die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1a und 4 AufenthG. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG steht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen, weil die eher geringfügige Straffälligkeit des Klägers in der Vergangenheit – wie oben dargelegt – als überwunden erscheint und von ihm daher keine aktuelle Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht (vgl. zum Erfordernis einer aktuellen Gefahr Dienelt, in: Renner, AuslR, 9. Aufl., § 5 AufenthG Rdnrn. 35, 38). In Bezug auf § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG liegt wegen der erheblichen körperlichen Behinderung des Klägers ein atypischer Ausnahmefall vor.

Damit „soll“ dem Kläger, dessen Abschiebung nun schon seit dem 13. Oktober 2010 ausgesetzt ist, gem. § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Atypische Umstände, die es erlauben von dieser Soll-Regelung abzusehen, sind nicht ersichtlich.