Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 09.11.2012, Az.: 13 A 2075/11

Binnenschiffer; gewöhnlicher Aufenthalt

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
09.11.2012
Aktenzeichen
13 A 2075/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44481
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Wer als Binnenschiffer tätig ist und sich innnerhalb von zwei Jahren nur dreimal jeweils wenige Tage in seiner Mietwohnung aufhält, begründet dort keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 86 Abs. 1 SGB VIII.

Tenor:

hat das Verwaltungsgericht Oldenburg - 13. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 9. November 2012 durch ... für Recht erkannt:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand:

Die Kläger sind rumänische Staatsangehörige. Sie sind die Eltern des am ... 1995 in Rumänien geborenen O. und begehren für ihren Sohn Jugendhilfeleistungen nach § 21 SGB VIII. Sie sind als Binnenschiffer auf einem vom Kläger zu 1.) im November 2009 angekauften Schiff tätig, dessen Heimatort S. in B. ist, und befahren damit nahezu ausschließlich den Rhein. Im Zuständigkeitsbereich des Beklagten, in E., meldete sich der Kläger zu 1.) zum 1. August 2009 an, die Klägerin zu 2.) zum 15. Januar 2010 und ihr Sohn O. zum 1. Oktober 2010. In E. hatten die Kläger in der Vergangenheit eine Wohnung angemietet, zu der näheres nicht bekannt ist. In E. wurden und werden die Kläger geschäftlich von der Firma L. Finanzdienstleistungen e.K. betreut. Dahin ließen sie auch Post und Postzustellungsaufträge umleiten. Im Jahr 2012 meldeten sich die Kläger nach B. um und mieteten dort eine Wohnung an.

O. besuchte bis zum Sommer 2010 ein Gymnasium in Rumänien. Zum 13. September 2010 meldeten die Kläger ihn in der H.-Schule in M. für die 9. Klasse an und brachten ihn zeitgleich im Schifferkinderheim L.-Haus in M. unter. Seither wird er dort beschult. Es fallen nach Angaben der Kläger für die Internatsunterbringung Kosten in Höhe von 90,04 € täglich an.

Am 5. November 2010 beantragten die Kläger bei dem Beklagten Jugendhilfeleistungen in Form der Übernahme der Kosten für die Unterbringung ihres Sohnes im Schifferkinderheim. Der Beklagte lehnte diesen Antrag nach weiterem Schriftverkehr mit den Klägern und Anhörung derselben mit Bescheid vom 26. Juli 2011 ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass die Kläger keinen gewöhnlichen Aufenthalt in E. hätten. Allein der Umstand, dass sie dort melderechtlich erfasst seien, begründe nicht gleichsam automatisch einen gewöhnlichen Aufenthalt. Die in E. angemietete Wohnung werde nach den Angaben der Kläger in erster Linie als Postanschrift benutzt. Nahezu ausschließlich hielten sich die Kläger auf ihrem Binnenschiff auf, das den Rhein befahre.

Am 25. August 2011 haben die Kläger Klage erhoben.

Ihrer Rechtsauffassung nach ist der Beklagte der nach § 86 Abs. 1 SGB VIII örtlich zuständige Jugendhilfeträger für die begehrte Leistung. Sie selbst hätten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 30 Abs. 3 SGB I in E.. Sie seien nur aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, sich nahezu ständig auf dem Binnenschiff aufzuhalten. In den Jahren 2009 und 2010 sei es ihnen insgesamt drei Mal möglich gewesen, ihre Fahrten zu unterbrechen und einige Tage in ihrer Wohnung in E. zu verbringen. In diesen Zeiten hätten sie Besprechungen bei der Firma L. geführt, Bankgeschäfte vorgenommen sowie sich in der Wohnung entspannt und Einkäufe getätigt. Ihnen dürfe nicht  leistungsausschließend entgegengehalten werden, dass sie fast ausschließlich auf ihrem Binnenschiff lebten. Denn die Leistung nach § 21 SGB VIII setze gerade voraus, dass ein Kind nicht am normalen Wohnsitz oder dem gewöhnlichen Aufenthaltsort der Eltern die Schule besuchen könne, weil die Eltern aus beruflichen Gründen auf einen ständigen Ortswechsel angewiesen seien.

Die Kläger beantragen,

den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 26. Juli 2011 zu verpflichten, die Kosten für die Unterbringung des Sohnes O. der Kläger im Schifferkinderheim L.-Haus in M. ab dem 1. November 2010 zu übernehmen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält sich für örtlich unzuständig. Eine Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 SGB VIII sei nicht gegeben, weil die Kläger zu keinem Zeitpunkt ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Zuständigkeitsbereich gehabt hätten. Auch ergebe sich seine Zuständigkeit nicht aus Abs. 4 der Norm. Die Kläger hätten keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, so dass es nach Abs. 4 Satz 1 der Norm auf den gewöhnlichen Aufenthalt ihres Sohnes, hilfsweise seinen tatsächlichen Aufenthalt vor Beginn der Leistung ankomme. Es sei aber nicht einmal bekannt, wo sich O. vor der Unterbringung im Internat im Spätsommer 2010 überhaupt aufgehalten habe. Auch werde die Erforderlichkeit der Internatsunterbringung angezweifelt. O. könne auch von der Klägerin zu 2.) betreut werden, die auf dem Schiff des Klägers zu 1.) nur als geringfügig Beschäftigte angestellt sei.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Der Beklagte ist nicht verpflichtet, an die Kläger Jugendhilfeleistungen in Form der Übernahme der Kosten, die für die Unterbringung ihres Sohnes O. im Schifferkinderheim L.-Haus in M.  bislang entstanden sind und nach wie vor entstehen, zu erbringen.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch könnte lediglich § 21 SGB VIII sein. Nach dieser Norm haben solche Personen berechtigten Anspruch auf Beratung und Unterstützung, in geeigneten Fällen in Form der Übernahme der Kosten der Unterbringung in einer für das Kind oder den Jugendlichen geeigneten Wohnform, die wegen des mit ihrer beruflichen Tätigkeit verbundenen Ortswechsels die Erfüllung der Schulpflicht ihres Kindes oder Jugendlichen nicht sicherstellen können und deshalb notwendigerweise ihr Kind oder den Jugendlichen anderweitig unterbringen müssen. Ob diese Voraussetzungen im Falle der Kläger vorliegen, kann hier dahin stehen, weil jedenfalls nicht der Beklagte der örtlich zuständige Jugendhilfeträger für die von ihnen begehrte Leistung ist.

Welcher Jugendhilfeträger für eine Jugendhilfeleistung örtlich zuständig ist, regeln die §§ 86 ff SGB VIII. Die Zuständigkeit des Beklagten könnte sich hier ernsthaft nur aus § 86 Abs. 1 oder Abs. 4 SGB VIII ergeben. Die dort genannten Voraussetzungen liegen aber nicht vor.

Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch der öffentliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Die Kläger hatten aber weder im Zeitpunkt der Unterbringung ihres Sohnes im Schifferkinderheim M. im September 2010 noch bei Antragstellung im November 2010 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten.

Für die Frage, wo die Kläger ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, ist zunächst auf die Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I zurückzugreifen, der auch im SGB VIII Anwendung findet. Danach hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann folglich nicht erst nach einem bereits längerfristigen Aufenthalt begründet werden. Ausreichend ist vielmehr, dass sich der Betreffende an dem Ort oder in dem Gebiet "bis auf Weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs niederlässt und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen haben will. Der Ausführung dieses Willens dürfen allerdings keine objektiven tatsächlichen Hindernisse entgegenstehen. Kennzeichnend ist eine gewisse Verfestigung der Lebensverhältnisse an einem bestimmten Ort. Für die insoweit anzustellende Prognose sind die Umstände des Einzelfalles bei Begründung des Aufenthalts zu würdigen. Daraus folgt zugleich, dass jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt aufgibt, wenn er seinen Aufenthaltsort tatsächlich wechselt und die konkreten Umstände erkennen lassen, dass er am bisherigen Aufenthaltsort nicht mehr bis auf Weiteres verbleiben und nicht mehr den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen haben wird (BVerwG, Urteile vom 29. September 2010 - 5 C 21/09 -, 30. September 2009 - 5 V 18/08 - , 7. Juli 2005 - 5 C 9/04 - und 3. Juli 2003- 5 B 211/02 - ; OVG Münster, Beschluss vom 11. Juni 2008 - 12 A 1277/08 - alle juris).

Im Falle der Kläger steht nach ihrem eigenen Vortrag fest, dass sie seit Jahren nahezu ausschließlich auf ihrem auf dem Rhein verkehrenden Binnenschiff und demzufolge in ständig wechselnden Gebieten der Bundesrepublik Deutschland leben. In den Jahren 2009 und 2010 haben sie sich lediglich drei Mal an jeweils nur wenigen Tagen in E. aufgehalten. Darauf, ob häufigere Besuche aufgrund wirtschaftlicher Notwendigkeiten nicht möglich waren, kommt es nicht an. Die von den Klägern in E. angemietete Wohnung diente hauptsächlich als Postadresse und wurde im Übrigen wie eine Art Ferienwohnung genutzt. Der einzige sonstige Anknüpfungspunkt, den die Kläger in E. hatten, war die Firma L. Finanzdienstleistungen e.K.. Davon, dass E. den Lebensmittelpunkt der Kläger darstellte, kann nach alledem nicht die Rede sein.

Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich auch nicht aus § 86 Abs. 4 SGB VIII. Satz 1 der Norm bestimmt, dass sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes oder des Jugendlichen vor Beginn der Leistung richtet, wenn – wie hier - die Eltern im Inland keinen gewöhnlichen Aufenthalt haben oder der gewöhnliche Aufenthaltsort nicht feststellbar ist. Satz 2 der Norm bestimmt für die Fälle, in denen das Kind oder der Jugendliche während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung keinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, die Zuständigkeit desjenigen örtlichen Trägers der Jugendhilfe, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung tatsächlich aufgehalten hat. Im Falle der Kläger lässt sich indes nicht feststellen, dass ihr Sohn vor seiner Unterbringung im Schifferkinderheim in M. seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten hatte bzw. sich dort überhaupt aufgehalten hat.

Ein Minderjähriger hat grundsätzlich seinen gewöhnlichen Aufenthalt an dem Ort, an dem er nach dem Willen des oder der Sorgeberechtigten seine Erziehung erhält (BVerwG, Urteile 25. März 2010 - 5 C 12/09 -  vom 26. November 1986 - 5 C 56/80 - juris), in der Regel also bei dem Elternteil, der das Personensorgerecht ausübt und bei dem er sich tatsächlich aufhält (BVerwG, Urteil vom 26. September 2002 - 5 C 46/01, 5 B 37/01 -; BayVGH, Urteil vom  19. Februar 2001 - 12 B 00.1566 - beide juris). Nach den Angaben der Kläger lebte ihr Sohn bis zur Übersiedlung nach Deutschland in Rumänien und erhielt dort seine Erziehung. Er soll dann im Sommer 2010 nach Deutschland eingereist sein und vor seiner Unterbringung im Schifferkinderheim in M. noch einige Tage bei ihnen auf ihrem Schiff verlebt haben. Einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne eines Niederlassens bis auf Weiteres (s.o.) begründete O. im Rahmen dieses kurzen Zwischenaufenthalts indes nicht. Wo im Bundesgebiet sich der Jugendliche vor der Internatsunterbringung tatsächlich aufgehalten hat, ist der Kammer nicht positiv bekannt. Da sich aus dem Vortrag der Kläger allerdings zweifelsfrei ergibt, dass sich die Familie in jener Zeit jedenfalls nicht in der Wohnung in E. oder anderswo im Zuständigkeitsbereich des Beklagten aufgehalten hat, waren weder weitere Ermittlungen geboten noch eine Beiladung des zuständigen Jugendhilfeträgers möglich.