Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 18.02.2009, Az.: S 43 AS 1230/07
Genehmigungsbedürftige Ortabwesenheit eines Arbeitssuchenden bei Besuch der Eltern über ein verlängertes Wochenende
Bibliographie
- Gericht
- SG Hildesheim
- Datum
- 18.02.2009
- Aktenzeichen
- S 43 AS 1230/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2009, 31133
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHILDE:2009:0218.S43AS1230.07.0A
Rechtsgrundlagen
- § 7 Abs. 4a SGB II
- § 31 SGB II
- § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 4 SGB X
Tenor:
Der Bescheid vom 15. Juni 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. August 2007 wird aufgehoben.
Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Aufhebung einer Leistungsbewilligung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) wegen nicht genehmigter Ortsabwesenheit streitig.
Der 1963 geborene Kläger steht seit Anfang 2005 im Bezug von laufenden Leistungen nach dem SGB II, bewilligt für den Zeitraum von November 2006 bis April 2007 mit Bescheid vom 18. Oktober 2006 in Höhe von 751,95 Euro, für den Zeitraum von Mai bis Oktober 2007 mit Bescheid vom 2. April 2007 in gleicher Höhe.
In dem Zeitraum vom 27. April bis zum 1. Mai 2007 besuchte der Kläger seine Eltern im ca. vier Kilometer von seinem Wohnort H. entfernten I., Gemeinde J ...
Nach Anhörung des Klägers hob der Beklagte durch Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 18. Mai 2007 die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II in dem Zeitraum vom 27. April bis 1. Mai 2005 in Höhe von 102,93 Euro ganz auf und begründete die Entscheidung unter Anwendung des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) damit, der Kläger habe gewusst bzw. wissen müssen, dass der zuerkannte Anspruch durch die unerlaubte Ortsabwesenheit zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen sei.
Im Widerspruchsverfahren trug der Kläger vor, er habe dem Arbeitsmarkt jederzeit zur Verfügung gestanden, so dass der Leistungsanspruch in dem maßgeblichen Zeitraum gar nicht weggefallen sei. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, habe der Kläger hiervon weder Kenntnis gehabt, noch sei er grob fahrlässig in Unkenntnis von einem möglichen Leistungswegfall geblieben.
Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. August 2007 zurück. In der Begründung führte er weitergehend aus, dass der Kläger vom 27. April bis zum 1. Mai 2007 nicht postalisch erreichbar gewesen sei und seinem Anspruch damit § 7 Abs. 4a SGB II entgegenstehe. Rechtsgrundlage der Entscheidung seien im Übrigen die §§ 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II, 330 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III), 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 13. September 2007 beim Sozialgericht H. erhobene Klage.
Der Kläger trägt vor, dass er nicht gewusst habe und nicht habe wissen müssen, dass der Leistungsanspruch nach dem SGB II bei unerlaubter Ortsabwesenheit ruhe. Er habe auch keine Kenntnis von der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit (BA) zur Pflicht des Arbeitslosen, Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten zu können (Erreichbarkeits-Anordnung - EAO), gehabt und keine klare Definition des Begriffs "Ortsabwesenheit" gekannt. Wenn eine Leistungsaufhebung auf§ 48 SGB X gestützt werden könne, dann allenfalls für diejenigen Tage, an denen der Kläger tatsächlich nicht postalisch erreichbar gewesen sei, also am Samstag, den 28. April 2007, und Montag, den 30. April 2007.
Der Kläger beantragt,
den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 15. Juni 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. August 2007 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass sich der Kläger ohne Zustimmung seines persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in derEAO definierten zeit- und ortsnahen Bereichs aufgehalten habe. Abweichend von der Begründung des Widerspruchsbescheids richte sich die Leistungsaufhebung nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X. Der Kläger habe auf Hinweise in Beratungsgesprächen und nach Abschluss der Eingliederungsvereinbarung vom 31. Oktober 2006 wissen müssen, dass er eine Ortsabwesenheit vorher mit seinem persönlichen Ansprechpartner abzustimmen habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Sitzungsniederschrift, den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen; diese Akten haben der Kammer vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger ist durch die rechtswidrige Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung beschwert, § 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Denn der Leistungsanspruch des Klägers ist in dem Zeitraum vom 27. April bis 1. Mai 2005 weder zum Ruhen gekommen noch weggefallen.
Die vom Beklagten im Klageverfahren herangezogene Ermächtigungsgrundlage des angefochtenen Bescheids vom 15. Juni 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. August 2007 ist § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X i.V.m. § 7 Abs. 4a SGB II. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bei einer wesentlichen tatsächlichen oder rechtlichen Änderung der Verhältnisse, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit der Kläger wusste bzw. nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maß verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist. Seine Widerspruchsentscheidung stützte der Beklagte noch auf § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X, nach dem eine Leistungsaufhebung erfolgt, wenn der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Bei diesen Fällen der Leistungsaufhebung ist Ermessen auch in so genannten atypischen Fällen nicht auszuüben (§§ 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II, 330 Abs. 3 SGB III).
Eine Leistungsaufhebung wegen ungenehmigter Ortsabwesenheit kommt hier nicht in Betracht, da sich der Kläger in dem Zeitraum vom 27. April bis 1. Mai 2005 nicht außerhalb des ortsnahen Bereichs aufgehalten hat und auch ohne postalische Erreichbarkeit leistungsberechtigt nach dem SGB II war. Ihm kann im Rahmen des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 4 SGB X nicht vorgeworfen werden, seine bevorstehende Ortsabwesenheit nicht rechtzeitig dem Beklagten mitgeteilt bzw. von einem Wegfall der Leistungsberechtigung dem Grunde nach Kenntnis gehabt zu haben oder hiervon grob fahrlässig in Unkenntnis geblieben zu sein.
Nach § 7 Abs. 4a 1. HS SGB II erhält Leistungen nach dem SGB II nicht, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der EAO, geändert durch die Anordnung vom 16. November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält. Die übrigen Bestimmungen der Anordnung gelten entsprechend, § 7 Abs. 4a 2. HS SGB II. Nach § 2 S. 1 Nr. 3 S. 2 EAO, ANBA 2001 gehören zum Nahbereich alle Orte in der Umgebung des Arbeitsamtes, von denen aus der Arbeitslose erforderlichenfalls in der Lage wäre, das Arbeitsamt täglich ohne zumutbaren Aufwand zu erreichen. Der Kläger hielt sich in der Zeit vom 27. April bis 1. Mai 2005 in einer Nachbargemeinde etwa 4 km entfernt von seinem Wohnort auf; es steht außer Frage, dass er das Arbeitsamt bzw. das Job-Center in H. jederzeit ohne zumutbaren Aufwand - ggf. sogar zu Fuß - hätte erreichen können. Auf die postalische Erreichbarkeit stellt § 7 Abs. 4a 1. HS SGB II nach seinem Wortlaut nicht ab.
Auch nach § 7 Abs. 4a 2. HS SGB II, der die übrigen Bestimmungen der EAO, ANBA 2001 für entsprechend anwendbar erklärt, liegt hier ein Leistungsausschluss nicht vor.
Eine entsprechende Anwendung der übrigen Bestimmungen der EAO, ANBA 2001, insbesondere § 1 Abs. 1 S. 2 EAO, ANBA 2001, ist nur dann möglich, wenn dies für den Regelungszweck des§ 7 Abs. 4a SGB II erforderlich ist (so auch Spellbrink, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 7 Rn. 78 m.w.N.; a. A.: Schumacher, in: Oestreicher, SGB II, Loseblatt-Kommentar, § 7 Rn. 30a; Brühl/Schoch, in LPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 7 Rn. 92). Sinn und Zweck der am 1. August 2006 eingeführten Vorschrift war eine Regelung über die Ortsabwesenheit von Leistungsberechtigten zu treffen. Sie geht auf die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 31. Mai 2006 zurück (BT-Drucks. 16/1696). In der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 16/1696, S. 26) ist hierzu ausgeführt, dass bisher Regelungen über den auswärtigen Aufenthalt (Ortsabwesenheit) in der Eingliederungsvereinbarung gemäß § 15 SGB II getroffen worden seien. Darin kann der erwerbsfähige Hilfebedürftige verpflichtet werden, sich nur nach Absprache und mit Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereiches aufzuhalten. Sofern sich ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger absprachewidrig verhalten habe, griffen für ihn die Sanktionsregelungen nach§ 31 SGB II. Weiter heißt es in der Gesetzesbegründung, dass insbesondere bei einem länger andauernden Aufenthalt im Ausland, bei dem dennoch der gewöhnliche Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland bestehen bleibt, die dort vorgesehene Absenkung um lediglich 30 Prozent der Regelleistung nicht geeignet sei, den Hilfebedürftigen zu einer Rückkehr nach Deutschland und einer aktiven Mitwirkung an seiner Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu bewegen. Um die missbräuchliche Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen zu vermeiden, solle der Anspruch bei einem Verstoß gegen den in § 7 Abs. 4 a SGB II formulierten Grundsatz entfallen.
Nach dieser Begründung und die Formulierung als Leistungsausschluss (und nicht als neue positive Anspruchsvoraussetzung) wird deutlich, dass der Gesetzgeber die sog. "Residenzpflicht" aus dem Leistungsrecht nach dem SGB III nicht in der Gestalt, die sie durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung gewonnen hat (vgl. grundlegend BSG, Urteil vom 20. Juni 2001, Az.: B 11 AL 10/01 R; BSG, Urteil vom 13. Juli 2006, Az.: B 7a AL 16/05 R), auf Leistungsberechtigte nach dem SGB II übertragen wollte. Diese Rechtsprechung stellt maßgeblich auf den Begriff der Verfügbarkeit im Sinne des§ 119 Abs. 1 Nr. 3 SGB III und dem Untertatbestand der Erreichbarkeit im Sinne des § 119 Abs. 5 Nr. 2 SGB III i.V.m. § 1 Abs. 1 S. 1 EAO ab. Nach § 1 Abs. 1 S. 1 EAO muss der Arbeitslose in der Lage sein, unverzüglich Mitteilungen des Arbeitsamtes persönlich zur Kenntnis zu nehmen (Nr. 1), das Arbeitsamt aufzusuchen (Nr. 2), mit möglichen Arbeitgebern oder Trägern einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme in Verbindung zu treten (Nr. 3) und eine vorgeschlagene Arbeit anzunehmen oder an einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme teilzunehmen (Nr. 4). Dazu hat der Arbeitslose nach § 1 Abs. 1 S. 2 EAO sicherzustellen, dass das Arbeitsamt ihn persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der ihm benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann. Während in der Systematik dieses Leistungsrechts § 119 SGB III eine Anspruchsvoraussetzung darstellt, hat der Gesetzgeber bei der Einführung des § 7 Abs. 4a SGB II das Merkmal der Verfügbarkeit gerade nicht als Voraussetzung eines Leistungsanspruchs nach dem SGB II normiert und einen Leistungsausschluss ausdrücklich nur für denjenigen Fall vorgesehen, dass sich der Leistungsberechtigte ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der EAO, ANBA 2001 definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält, was hier nicht der Fall war (s. o.).
Es spricht damit viel dafür, dass sich eine entsprechende Anwendung der übrigen Bestimmungen der EAO, ANBA 2001 gem. § 7 Abs. 4a 2. HS SGB II allein auf das Zustimmungsverfahren nach § 3 EAO, ANBA 2001 bezieht (so Valgolio, in: Hauck/Noftz, SGB II, K § 7 Rn. 76). Eine entsprechende Anwendung des§ 1 Abs. 1 S. 2 EAO, ANBA 2001 könnte nach dem Willen des Gesetzgebers allenfalls dann denkbar sein, wenn eine ungenehmigte Ortsabwesenheit wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls über eine Absenkung nach § 31 SGB II hinaus härter zu sanktionieren ist, wenn etwa die nicht genehmigte Ortsabwesenheit (innerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs) bzw. die Dauer der fehlenden postalischen Erreichbarkeit ein Ausmaß missbräuchlicher Leistungsinanspruchnahme angenommen hat, das mit einem Anwendungsfall des § 7 Abs. 4a 1. HS SGB II vergleichbar ist (so auch Spellbrink, a.a.O.). Nach der Gesetzesbegründung müsste hierfür als Maßstab ein länger andauernder Aufenthalt (im Ausland) heranzuziehen sein, bei dem dennoch der gewöhnliche Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland bestehen bleibt (vgl. BT-Drucks., a.a.O.). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier unzweifelhaft nicht vor, da der Kläger lediglich über das verlängerte Wochenende, über den gesetzlichen Feiertag am 1. Mai 2007, seine Wohnung verlassen hat, um seine Eltern zu besuchen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.