Sozialgericht Hildesheim
Beschl. v. 04.09.2009, Az.: S 43 AS 1610/09 ER
Anspruch auf Gewährung eines Darlehens zur Begleichung von Schulden bei Stadtwerken und folglich zur Wiederherstellung der Stromversorgung; Verpflichtung eines Empfängers von Leistungen zum Lebensunterhalt zum Abschluss einer Ratenzahlungsvereinbarung mit seinem Stromversorger im Wege der Selbsthilfe
Bibliographie
- Gericht
- SG Hildesheim
- Datum
- 04.09.2009
- Aktenzeichen
- S 43 AS 1610/09 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 31169
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHILDE:2009:0904.S43AS1610.09ER.0A
Rechtsgrundlagen
- § 22 Abs. 5 SGB II
- § 23 Abs. 1 S. 1 SGB II
- § 19 StromGVV
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin zur Begleichung ihrer Schulden bei den Stadtwerken D. GmbH und zur Wiederherstellung der Stromversorgung ein Darlehen in Höhe von 504,20 Euro durch Überweisung der Darlehenssumme auf das Konto der Stadtwerke D. GmbH (Kundennummer 140528-33067; KtNr. 34, BLZ 26250001) zu gewähren. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Übernahme von Stromschulden durch die Gewährung eines Darlehens.
Die 1979 geborene Antragstellerin ist nach eigenen Angaben allein erziehende Mutter von zwei in ihrem Haushalt lebenden drei- und neunjährigen Kindern. Sie bezieht seit mehreren Jahren laufende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), zuletzt bewilligt unter Berücksichtigung des Einkommens der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft (Kindergeld und Unterhaltszahlungen) in Höhe von 79,31 Euro je Monat; derzeit steht die Entscheidung über den Folgeantrag der Antragstellerin vom 31. August 2009 aus.
Bereits im Jahr 2008 hatte die Antragstellerin Energiekostenrückstände. Die Beteiligten führten deswegen ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht (SG) Hildesheim (Az.: S 45 AS 92/08 ER), in dem sich die Antragsgegnerin bereit erklärte, der Antragstellerin für die Begleichung eines Restbetrags an Schulden ein Darlehen zu gewähren. Im Gegenzug versicherte die Antragstellerin, in Zukunft die monatlichen Abschlagszahlungen pünktlich zu entrichten.
Seit Erhalt der Jahresendabrechnung der Stadtwerke D. GmbH (folgend: Stromversorgerin) vom 5. Februar 2009, nach der die Antragstellerin wegen des zurückliegenden Stromverbrauchs einen Betrag in Höhe von 65,20 Euro nachzuzahlen hatte, entrichtete sie in der Folgezeit weder den in Rechnung gestellten Betrag noch die monatlich anfallenden Abschlagszahlungen in Höhe von 48,00 Euro.
Unter dem 23. Juli 2009 erhielt die Antragstellerin wegen der aufgelaufenen Rückstände in Höhe von 363,20 Euro (inkl. Mahngebühren) erneut eine Mahnung der Stromversorgerin, mit der zugleich die Einstellung der Versorgung angekündigte wurde.
Mit Datum vom 27. August 2009 teilte die Stromversorgerin der Antragstellerin mit, dass die Energieversorgung wegen der weiterhin angewachsenen Rückstände in Höhe von 411,20 Euro in der Zeit vom 2. bis 4. September 2009 eingestellt werde. Das Schreiben der Stromversorgerin vom 27. August 2009 legte die Antragstellerin bei Abgabe des Folgeantrags am 31. August 2009 der Antragsgegnerin vor.
Am 2. September 2009 wurde die Stromversorgung eingestellt. Mit am 3. September 2009 beim SG Hildesheim eingegangenen Schreiben vom Vortag hat die Antragstellerin den vorliegenden Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt, mit dem Ziel einer Übernahme der Stromschulden durch die Antragsgegnerin.
Die Antragstellerin trägt vor, dass sie ohne Strom weder Kochen noch Waschen könne, was insbesondere mit kleinen Kindern nicht tragbarer sei; ohne funktionierenden Kühlschrank würden derzeit die Lebensmittel verderben. Zur Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit hat sie einen Kontoauszug vom 31. August 2009 zur Gerichtsakte gereicht, der nach dem Eingang der Leistungen nach dem SGB II für September 2009 in Höhe von 79,31 Euro einen Stand von 81,52 Euro ausweist.
Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin zur Begleichung ihrer Schulden bei der Stromversorgerin ein Darlehen in Höhe von 504,20 Euro zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,
den Antrag abzulehnen.
Sie sieht vor dem Hintergrund der seit Februar 2009 nicht entrichteten Abschlagszahlungen keinen unabweisbaren Bedarf, der im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu decken wäre. Die Antragstellerin habe in der zurückliegenden Zeit den in der Regelleistung und dem Sozialgeld enthaltenen Energiekostenanteil für Strom nicht zweckentsprechend verwendet. Zudem sei sie im vorangegangenen gerichtlichen Eilverfahren darauf hingewiesen worden, dass keine Schuldenübernahme seitens der Antragsgegnerin erfolgen mehr werde, wenn die monatlichen Abschläge nicht regelmäßig und pünktlich entrichtet würden. Schließlich müsse die Antragstellerin vor der Inanspruchnahme behördlicher Hilfe versuchen, eine Ratenzahlungsvereinbarung mit der Stromversorgerin abzuschließen.
Das Gericht hat eine telefonische Auskunft des Sachbearbeiters der Stromversorgerin, Herrn E., eingeholt, der die derzeitigen Rückstände der Antragstellerin mit 459,20 Euro und den für die Wiederherstellung der Stromversorgung erforderlichen Betrag mit 504,20 Euro beziffert hat (inkl. einmalige Kosten in Höhe von 55,00 Euro).
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die zur Prozessakte gereichten Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen. Die die Antragstellerin betreffenden Verwaltungsvorgänge lagen dem Gericht wegen der Eilbedürftigkeit der Sache bei Beschlussfassung nicht vor.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes im Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer solchen Regelungsanordnung ist das Vorliegen eines die Eilbedürftigkeit der Entscheidung rechtfertigenden Anordnungsgrundes sowie das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs aus dem materiellen Leistungsrecht. Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund müssen gemäß § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht werden.
Der Antrag ist auch vor Klageerhebung zulässig, § 86b Abs. 3 SGG.
1.
Das einer gerichtlichen Anordnung im Sinne des § 86b Abs. 2 SGG zugängliche Streitverhältnis der Beteiligten ist der noch nicht beschiedene Antrag der Antragstellerin auf Übernahme der Stromschulden vom 31. August 2009. Nach dem übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten hat die Antragstellerin an diesem Tag mit ihrem Folgeantrag ebenfalls das Schreiben der Stromversorgerin vom 27. August 2009 vorgelegt, was im wohlverstandenen Interesse der Antragstellerin nur als Antrag auf Übernahme der Energiekostenrückstände auf Darlehensbasis auszulegen ist.
2.
Nach den Maßgaben der Ausführungen zum Erlass einer einstweiligen Anordndung im Sinne des § 86b Abs. 2 SGG hat die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Anspruchsgrundlage für die Übernahme von Stromrückstände, die - wie hier - aufgrund der Nichtzahlung der monatlichen Abschläge an den Energieversorger als Schulden zu qualifizieren sind, ist nach herrschender Meinung in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung § 22 Abs. 5 SGB II, da die Sperrung der Energiezufuhr eine vergleichbare Notlage im Sinne von § 22 Abs. 5 S. 1 SGB 2 darstellt und grundsätzlich in einem solchen Fall von einer faktischen Unbewohnbarkeit einer Wohnung auszugehen ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Mai 2009, Az.: L 7 AS 546/09 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Juli 2009, Az.: L 34 AS 1090/09 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Dezember 2008, Az.: L 7 B 384/08 AS).
Nach § 22 Abs. 5 S. 1 SGB II können, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung erbracht werden, auch Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Die Schulden sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht (Satz 2). Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden (Satz 4). Bei Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 22 Abs. 5 S. 2 SGB II hat eine Übernahme der Schulden im Regelfall zu erfolgen, es sei denn, es liegt eine atypische Sachlage vor, die im Ermessenswege ein Abweichen vom Regelfall rechtfertigen könnte (LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.).
Die Voraussetzungen für eine Übernahme der Schulden der Antragstellerin bei ihrer Stromversorgerin gem. § 22 Abs. 5 S. 2 SGB II sind hier erfüllt; insbesondere ist eine Schuldenübernahme trotz des wiederholten Rückstands aus eigenem Verschulden notwendig und gerechtfertigt.
Soweit ersichtlich, ist die Übernahme der Schulden zur Wiederherstellung der Stromversorgung notwendig. Insbesondere ist die Antragstellerin nicht darauf zu verweisen, im Wege der Selbsthilfe eine Ratenzahlungsvereinbarung mit ihrer Stromversorgerin abzuschließen#. Das Gericht sieht keine Erfolgsaussichten für ein solches Vorgehen, da die Antragstellerin seit Februar 2009 bereits die laufenden Abschläge nicht entrichtet. Ggf. könnte sie erfolgreich einstweiligen Rechtsschutz vor dem zuständigen Amtsgericht erstreiten, nämlich dann, wenn die Einstellung der Stromversorgung nach § 19 Abs. 2 Stromgrundversorgungsverordnung (StromGVV) unter Berücksichtigung der im Haushalt lebenden Kinder gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen würde (vgl. hierzu etwa Landgericht Hildesheim, Urteil vom 10. Oktober 2008, Az.: 7 S 155/08). Die übrigen Voraussetzungen für eine Einstellung der Stromversorgung nach § 19 StromGVV liegen nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage vor. Angesichts der mitunter restriktiven Rechtsprechung der Zivilgerichte und dem alleinigen Verschulden der Antragstellerin an den entstandenen Rückständen (s. u.) erscheint aber auch dieses Vorgehen nicht Erfolg versprechend. Schließlich kann das Gericht nach den vorliegenden Unterlagen nicht überprüfen, ob die Antragstellerin womöglich über ausreichendes Barvermögen verfügt, mit dem sie die Schulden bei der Stromversorgerin tilgen könnte; das Gericht hält dies jedoch bei der aus anderen Gerichtsverfahren bekannten Antragstellerin für unwahrscheinlich.
Bei der Frage, ob eine Schuldenübernahme gem. § 22 Abs. 5 S. 2 SGB II gerechtfertigt ist, ist von maßgeblicher Bedeutung, wie es zu der geltend gemachten Notlage gekommen ist. Die Übernahme von Schulden ist in der Regel gerechtfertigt, wenn der Hilfebedürftige nach den Gesamtumständen unverschuldet in Rückstand mit Zahlungen auf unterkunftsbezogene Kosten (Miete, Gas- und Stromkosten o. ä.) geraten ist, die Notlage für die Existenz des Leistungsberechtigten bedrohlich ist und die Schulden nicht aus eigener Kraft getilgt werden können. Nicht gerechtfertigt ist die Übernahme von Schulden, wenn z.B. Miete oder Energiekostenabschläge im Vertrauen darauf nicht gezahlt werden, dass der Leistungsträger die Miet- und/oder Energieschulden später übernehmen werde (BT-Drs. 13/2440, S. 19 zur Vorläuferregelung des § 15a des Bundessozialhilfegesetzes).
Dies zu Grunde gelegt, kann die Antragstellerin, wäre sie von der Einstellung der Stromversorgung allein betroffen, die Übernahme der Stromschulden von der Antragsgegnerin nicht verlangen. Sie hat die Rückstände bei ihrer Stromversorgerin dadurch verursacht, dass sie die monatlichen Abschläge nicht beglichen hat. Zudem hat sie die Mahnungen ihrer Stromversorgerin sowie die Ankündigung und die Mitteilung der Stromeinstellung bis zuletzt ignoriert und sich mit Eintreten der Notlage hilfesuchend sowohl an die Antragsgegnerin als auch an das Gericht gewandt. Dieses Verhalten lässt den Schluss zu, dass sie die Stromeinstellung bewusst in Kauf genommen hat in der Hoffnung, die Antragsgegnerin werde im Notfall ein entsprechendes Darlehen gewähren. Dadurch, dass die Antragstellerin hierbei womöglich nicht an die Versorgung ihrer eigenen Kinder gedacht hat und im gerichtlichen Eilverfahren gerade deren notwendige Versorgung zur Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) heranzieht, dürfte eine weitergehende Hilfestellung durch das zuständige Jugendamt, ggf. initiiert durch die Antragsgegnerin, angezeigt sein. Zudem ist die Antragstellerin vermutlich mit ihren finanziellen Angelegenheiten schlichtweg überfordert; sie hat auch insoweit erhöhten Beratungsbedarf.
Die Rechtfertigung der Schuldenübernahme nach § 22 Abs. 5 S. 2 SGB II ergibt sich hier allein aus dem Umstand, dass von der Stromeinstellung am 2. September 2009 auch das im Haushalt der Antragstellerin lebende dreijährige Kind betroffen und dessen Versorgung akut gefährdet ist. Nach Auffassung des Gerichts ist keine andere Entscheidung mit den grundrechtlichen Belangen des Kindes der Antragstellerin vereinbar (Ermessensreduzierung auf Null), auch wenn ein missbräuchliches Verhalten seiner Mutter vorliegen sollte (vgl. zur Schuldenübernahme nach § 22 Abs. 5 S. 2 SGB II bei betroffenen minderjährigen Kindern: LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.; SG Karlsruhe, Beschluss vom 3. März 2008, Az.: S 14 AS 879/08 ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Dezember 2007, Az.: L 28 B 2169/07 AS ER).
Im Hinblick auf die Kosten für die Wiederherstellung der Stromversorgung in Höhe von 55,00 Euro kann im Ergebnis dahinstehen, ob eine Darlehensgewährung nach § 22 Abs. 5 SGB II erfolgen kann; diese Kosten dürften keine Schulden im Sinne der Norm darstellen (vgl. etwa SG Berlin, Beschluss vom 15. März 2007, Az.: S 104 AS 4329/07 ER). Gleichwohl besteht dann ein Anspruch auf Darlehensgewährung nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB II, da die erforderlichen Kosten als unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts anzuerkennen sind und auch die übrigen Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 S. 1 SGB II vorliegen.
Nach den dargelegten Ausführungen hat die Antragstellerin auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Zur Behebung der Notlage hat die Überweisung der Darlehenssumme auf das Konto der Stromversorgerin zu erfolgen, weil bei einer Leistungsgewährung an die die Antragstellerin eine zweckentsprechende Verwendung nicht gewährleistet wäre.
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG unanfechtbar, da in der Hauptsache der für eine Berufung maßgebliche Wert des Beschwerdegegenstands gem. § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG in Höhe von 750,00 Euro nicht erreicht ist.