Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 24.06.2009, Az.: S 54 AS 1649/09
Gewährung eines Mehrbedarfes wegen kostenaufwändiger Ernährung aufgrund Lactose-Intoleranz; Einbeziehung der Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe
Bibliographie
- Gericht
- SG Hildesheim
- Datum
- 24.06.2009
- Aktenzeichen
- S 54 AS 1649/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2009, 37074
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHILDE:2009:0624.S54AS1649.09.0A
Rechtsgrundlagen
- § 21 Abs. 5 SGB II
- § 28 Abs. 1 S. 2 SGB II
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 24.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 03.09.2009 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung der Kammer hinsichtlich seines Antrags auf Bewilligung eines Mehrbedarfes vom 23.06.2009 neu zu bescheiden. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.
Tatbestand
Der minderjährige Kläger begehrt von dem Beklagten die Gewährung eines Mehrbedarfes wegen kostenaufwändiger Ernährung aufgrund Lactose-Intoleranz im Bewilligungszeitraum Juni bis November 2009.
Der im Jahre 1995 geborene Kläger gehört einer Bedarfsgemeinschaft bestehend aus seinem Vater E., seiner Mutter F. - der Klägerin im bei der 26. Kammer des erkennenden Gerichtes derzeit anhängigen Parallelverfahrens mit dem Aktenzeichen S 26 AS 1648/09, in dem die Mutter ebenfalls einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung im o.g. Bewilligungszeitraum aufgrund Lactose-Intoleranz geltend macht - und seinem Bruder G. an, die seit Juni 2005 im laufenden Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) steht.
Auf den am 04.05.2009 gestellten Folgeantrag, in dem die Mutter des Klägers einen fortbestehenden Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung formularmäßig angab (vgl. Blatt 224 ff. der beigezogenen Leistungsakten des Beklagten), bewilligte der Beklagte den Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft - offensichtlich durch Bewilligungsbescheid vom 07.05.2009, der sich nicht zu den beigezogenen Leistungsakten befindet - für den Zeitraum 01.06. bis 30.11.2009 Grundsicherungsleistungen i.H.v. monatlich 1.350,24 EUR, ohne hierbei einen Mehrbedarf für den Kläger oder dessen Mutter anzuerkennen.
Am 23.06.2009 ging bei dem Beklagten die jeweils vom Kläger und dessen Mutter ausgefüllte Anlage MEB zum Folgeantrag ein, der jeweils eine formularmäßige ärztliche Bescheinigung der Dres. H. pp. in I. vom 19.06.2009 beigefügt war, mit der dem Kläger und dessen Mutter eine "Lactoseunverträglichkeit auf Dauer" attestiert und als Kostform "lactosefrei" angegeben wurden.
Mit an den Vater des Klägers als Vertreter der Bedarfsgemeinschaft adressiertem Bescheid vom 24.06.2009 (Blatt 238 der Leistungsakten) lehnte der Beklagte die Anträge des Klägers und dessen Mutter mit der Begründung ab, deren Erkrankung erfordere keine spezielle Diät; es werde lactosefreie Vollkost empfohlen.
Hiergegen legten der Kläger und seine Mutter am 30.06.2009 Widerspruch ein (Blatt 246 f. der Leistungsakten). Daraufhin schaltete der Beklagte den Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit C. unter Bezugnahme auf die Vorgaben der Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 21 SGB II, Ziffern 21.23b und 21.24, mit der Bitte um gutachterliche Stellungnahme im Einzelfall ein. Der Ärztliche Dienst kam in seiner Stellungnahme vom 20.08.2009, die nach Aktenlage erging, zu dem Ergebnis, dass die Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Ernährung weder aus den ärztlichen Bescheinigungen noch aus den aufgeführten Krankheiten ersichtlich sei. Dabei bezog sich der Ärztliche Dienst auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe, 3. Auflage 2008, aus der er mangels Nennung der Lactose-Intoleranz als mehrbedarfsrelevante Erkrankung schlussfolgerte, dass diese nicht mehr zu den berücksichtigenden Erkrankungen gehöre. Wegen der Einzelheiten wird auf die gutachterlichen Stellungnahmen vom 20.08.2009, Blatt 252 f. der Leistungsakten, sowie die Email des die Stellungnahmen verantwortenden Arztes der Arbeitsagentur vom selben Tage, Blatt 254 der Leistungsakten, verwiesen.
Mit Widerspruchsbescheiden vom 03.09.2009 wies der Beklagte die Widersprüche des Klägers und seiner Mutter als unbegründet zurück und nahm zur Begründung auf die Stellungnahmen des ärztlichen Dienstes in Bezug. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf Blatt 255 ff. der Leistungsakten Bezug genommen.
Hiergegen hat der Kläger am 11.09.2009 - seine Mutter am selben Tage die unter dem Aktenzeichen S 26 AS 1648/09 anhängige - Klage zum erkennenden Gericht erhoben, mit der er sein Begehren auf Zuerkennung eines Mehrbedarfes wegen kostenaufwändiger Ernährung weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
ihm im Bewilligungszeitraum Juni bis November 2009 einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung nach dem SGB II in angemessener Höhe zu gewähren und den angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 24.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 03.09.2009 insoweit aufzuheben, als dieser der Zahlungsverpflichtung des Beklagten entgegen steht.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist zur Begründung auf die angefochtenen Bescheide. Er ist der Ansicht, dass es Aufgabe des erkennenden Gerichtes im Rahmen der Verpflichtung zur Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen sei, eventuell erforderliche internistische und ernährungswissenschaftliche Gutachten im laufenden Klageverfahren einzuholen. Er verweist im Übrigen auf die im Klageverfahren vorgelegte ergänzende Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes der Arbeitsagentur vom 07.04.2010, auf die wegen des Inhalts Bezug genommen wird (Blatt 16 f. der Gerichtsakte).
Die Kammer hat die Beteiligten nach Eingang der Leistungsakten des Beklagten am 20.01.2010 im Parallelverfahren S 26 AS 1648/09 zu einer Zurückverweisung an den Beklagten zur weiteren Sachverhaltsaufklärung nach § 131 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach § 105 Abs. 1 SGG angehört und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Leistungsakte des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Kammer entscheidet gemäß § 105 Abs.1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden hierzu angehört; Einwände wurden nicht vorgebracht.
Die Kammer macht von ihrer durch § 131 Abs. 5 SGG eingeräumten prozessualen Befugnis Gebrauch und hebt den angefochtenen Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 24.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.09.2009 bei gleichzeitiger Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung des Antrags des Klägers auf Bewilligung eines Mehrbedarfes wegen kostenaufwändiger Ernährung unter Beachtung der Rechtsauffassung der Kammer auf, da dieser Bescheid rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Der Sachverhalt ist von dem Beklagten bislang nicht zureichend aufgeklärt worden, sodass die Kammer nicht zu entscheiden vermag, ob dem Kläger ein Anspruch auf Bewilligung eines Mehrbedarfes gemäß § 21 Abs. 5 i.V. m. § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB II aufgrund seiner Erkrankung zusteht. Die noch ausstehenden Ermittlungen, namentlich die Einholung eines aussagekräftigen internistischen Gutachtens, das nicht nur nach Aktenlage erstellt ist, und ggf. daran anschließend eines ernährungswissenschaftlichen Gutachtens sind erheblich und können in einer für den Kläger angemessenen Zeit aufgrund der vorhandenen knappen Ressourcen nicht von der Kammer nachgeholt werden. Die Verpflichtung des Beklagten, der sich neben dem Ärztlichen Dienst der Arbeitsagentur insbesondere auch des medizinischen Sachverstandes des Gesundheitsamtes seines kommunalen Trägers im Wege der Amtshilfe bedienen kann, den Sachverhalt entsprechend den hiesigen Maßgaben zunächst hinreichend aufzuklären und dann über den Antrag des Klägers erneut zu entscheiden, ist unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten auch sachdienlich, denn der Beklagte kann die erforderlichen Ermittlungen aufgrund des vorstehend genannten, ihm zur Verfügung stehenden ärztlichen Sachverstandes wesentlich schneller und besser durchführen als die Kammer. Dabei berücksichtigt die Kammer weiterhin, dass der hier aufzuklärende Sachverhalt auch für die hier nicht streitgegenständlichen folgenden Bewilligungszeiträume ab Dezember 2009 relevant ist und es dem Kläger nicht zugemutet werden kann, auf die Bestandskraft einer gerichtlichen Entscheidung über den hier streitigen vorangehenden Bewilligungszeitraum unter Umständen mehrere Jahre zu warten.
Zur weiteren Begründung nimmt die Kammer Bezug auf ihre Ausführungen in ihrem Hinweis vom 22.01.2010 an die Beteiligten. Dort hat die Kammer unter Bezugnahme auf den Beschluss des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 21.10.2008 - L 6 AS 458/08 ER -, FEVS 60, S. 321 ff, ausgeführt, dass eine Lactose-Intoleranz nach dem aktuellen, d.h. unter Einbeziehung der Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe in 3. Auflage aus dem Jahre 2008, medizinischen Kenntnisstand eine Leistungen für Mehrbedarf rechtfertigende kostenaufwändige Ernährung aus medizinischen Gründen im Einzelfall rechtfertigen kann. Die Kammer hat weiter ausgeführt, dass die Empfehlungen des Deutschen Vereins in der 3. Auflage ausschließlich für die darin aufgeführten Erkrankungen gelten und dass die in der Vergangenheit - wie hier beim Ärztlichen Dienst der Arbeitsagentur Hildesheim - vorgekommene Praxis einer Ablehnung, weil die Erkrankung nicht in den Empfehlungen stehe, unzulässig ist. Vielmehr ist der Sachverhalt bei Lactose-Intoleranz im Einzelfall aufzuklären, so wie dies der Sachbearbeiter der Widerspruchsstelle des Beklagten unter Bezugnahme auf die Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 21 SGB II, insb. Ziffern 21.23b und 21.24, zutreffend durch Einschaltung des ärztlichen Dienstes veranlasst hat. Die in der Email des Allgemeinmediziners des Ärztlichen Dienstes vom 20.08.2009 (Blatt 254 der Leistungsakte) zum Ausdruck kommende Schlussfolgerung, die Einschaltung des Ärztlichen Dienstes sei bei Nichtnennung einer Erkrankung in den Empfehlungen des Deutschen Vereins überflüssig, teilt die Kammer daher ausdrücklich, weil unzutreffend, nicht. Denn in dem Begutachtungsleitfaden des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 2002 (S. 21) wird darauf hingewiesen, dass diese Gesundheitsstörung eine Kost erforderlich machen kann, die Mehrkosten verursacht (siehe auch Rationalisierungsschema 2004 des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner u.a., Aktuelle Ernährungsmedizin 2004, S. 245/250 f., Tabelle 4: Sonderdiäten; abrufbar unter: http://www.daem.de /docs/rationalisierungsschema2004.pdf). Da der Allgemeinmediziner unter Verkennung dieser Sachlage auch seine im vorliegenden Klageverfahren ergänzende Stellungnahme vom 07.04.2010 (vgl. Blatt 16 f. der Gerichtsakte) verfasst hat, vermag der Beklagte mit dieser die nachstehend aufgezeigten Mängel bei der Sachverhaltsaufklärung im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren nicht zu heilen.
Aufgrund des Umstandes, dass die Lactose-Intoleranz in der 3. Auflage der Empfehlungen des Deutschen Vereins nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist ausweislich der o.g. Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen zunächst die Erfassung des Gesundheitszustandes des Klägers durch eingehende internistische Begutachtung erforderlich; ein Gutachten nach Aktenlage, wie es der Ärztliche Dienst der Arbeitsagentur ansatzweise erstattet hat, genügt hierfür nicht. Der Kläger wird hierzu ggf. seine behandelnden Ärzte Dres. J. von der Schweigepflicht entbinden müssen, damit die entsprechenden Befunde bei Bedarf durch den begutachtenden Amtsarzt beigezogen werden können. Die behandelnden Ärzte des Klägers können erforderlichenfalls mit Zwangs- bzw. Ordnungsmitteln zur Überlassung der Befunde des Klägers nach Entbindung von der Schweigepflicht angehalten werden. In jedem Falle hat sich der Ärztliche Dienst bzw. der einzuschaltende Amtsarzt des Gesundheitsamtes des kommunalen Trägers vom Gesundheitszustand des Klägers durch Inaugenscheinnahme zu überzeugen; diesbezüglich ist der Kläger zur Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung verpflichtet. An die internistische Begutachtung anschließend wird - je nach deren Ergebnis - vom Beklagten die Frage der aufgrund der konkret festgestellten Gesundheitsstörungen erforderlichen Kost durch ein ernährungswissenschaftliches Gutachten aufzuklären sein. Schließlich hat der Beklagte zu untersuchen, ob und in welchem Umfang die Kosten für die erforderliche Ernährung des Klägers über dem Betrag liegen, der in der Regelleistung enthalten ist.
Nach alledem war der Klage in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt das vollständige Unterliegen des Beklagten.