Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 03.09.2008, Az.: S 34 SO 117/06

Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfszuschlags gem. § 21 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) wegen einer Diabeteserkrankung

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
03.09.2008
Aktenzeichen
S 34 SO 117/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2008, 33982
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHILDE:2008:0903.S34SO117.06.0A

Tenor:

Der Bescheid der Stadt G. vom 5.12.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 6.4.2006 wird insoweit abgeändert, dass die MB-Pauschale für den Monat September 2005 57,56 EUR beträgt.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der am 24.05.1948 geborene Kläger war im u.a. im Jahre 2005 arbeits- und wohnungslos. Er bezog vom Job-Center G. laufende Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II und lebte in der "M.", einem Heim für allein stehende wohnungslose Männer in G ... Für die dort anfallenden Kosten für Unterbringung und Verpflegung (3 Mahlzeiten am Tag), die im Monat September 2005 1.806,18 EUR betrugen, hatte der Beklagte mit Bescheid vom 25.08.2005 ein Grundanerkenntnis für die Gewährung von Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 67 ff. SGB XII abgegeben.

2

Mit an die M. gerichtetem Bescheid vom 05.12.2005 wurde für den Monat September 2005 ein vom Kläger zu entrichtender Kostenbeitrag in Höhe 231,82 EUR festgesetzt. Hiernach hat der Kläger das gesamte ihm für diesen Monat gezahlte Alg II in Höhe von 352,52 EUR bis auf den Barbetrag in Höhe von 89,70 EUR sowie die Mehrbedarfspauschale (MB-Pauschale) für Bekleidung in Höhe von 32,00 EUR einzusetzen.

3

Unter dem 22.12.2005 legte der Kläger Widerspruch mit dem Begehren ein, ihm weitere 25,56 EUR zu belassen. In dieser Höhe sei ihm nämlich vom Job-Center ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung infolge seiner Diabetes-Erkrankung bewilligt worden. Diese Leistung sei zweckbestimmt im Sinne von § 83 Abs. 1 SGB XII und daher nicht als allg. Einkommen einzusetzen.

4

Mit Widerspruchsbescheid vom 06.04.2006 wurde der Widerspruch zurückgewiesen und ausgeführt, dass der Mehrbedarfszuschlag als Einkommen einzusetzen sei, weil sich der Kläger in der "M." in einer Vollverpflegung befinde. Er nehme morgens, mittags und abends an der Normalverpflegung teil, weshalb die Mehrbedarfsleistungen, die das Job-Center dem Kläger gewähre, nicht zweckentsprechend eingesetzt würden.

5

Am 05.05.2006 hat der Kläger Klage erhoben. Er meint, dass ihm die Vollverpflegung nicht entgegengehalten werden könne, da sie zum einen nicht auf seine Diabeteserkrankung abgestimmt sei, er sich deshalb zusätzlich bedarfsentsprechend verpflegen müsse und es überdies seine freie Entscheidung sei, wofür er die Mehrbedarfsleistungen verwende.

6

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Abänderung der MB-Pauschale im Bescheid vom 05.12.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2006 zu verpflichten, einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung in Höhe von 25,56 EUR je Monat für den Monat September 2005 von der Einkommensanrechnung frei zu lassen.

7

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Er verteidigt die angefochtenen Bescheide und trägt ergänzend vor, dass dem Kläger nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, die teilweise bereits Eingang in die Rechtsprechung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen gefunden hätten, gar kein Mehrbedarfszuschlag zustehe.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze und auf die Verwaltungsvorgänge, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

10

Die Klage ist zulässig. Zwar ist der angefochtene Bescheid nicht unmittelbar an den Kläger, sondern an die "M." gerichtet, doch greift die getroffene Regelung direkt in Rechte des Klägers ein, weil mit ihm das dem Kläger ausgezahlte Alg II gemindert wird.

11

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass ihm der infolge seiner Diabeteserkrankung gewährte Mehrbedarfszuschlag gem. § 21 Abs. 5 SGB II in Höhe von monatlich 25,56 EUR verbleibt und nicht als Einkommen abgesetzt wird. Folglich ist die MB-Pauschale im angefochtenen Kostenbeitragsbescheid um diesen Betrag zu erhöhen.

12

§ 83 Abs. 1 SGB XII regelt, dass Leistungen, die aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbracht werden, nur so weit als Einkommen zu berücksichtigen sind, als die Sozialhilfe im Einzelfall demselben Zweck dient. Der krankheitsbedingte Mehrbedarfszuschlag, der dem Kläger bewilligt worden war, diente nicht demselben Zweck wie die dem Kläger in der "M." gewährte Vollverpflegung. Letzter deckt den Grundbedarf an Ernährung, nicht aber - das ,erschließt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift - den krankheitsbedingten Mehrbedarf. Denn der Beklagte hat nicht vorgetragen - und Anhaltspunkte dafür sind auch nicht aus den Akten ersichtlich -, dass die sich dem Kläger zur Verfügung gestellte Verpflegung in der "M." von der Ernährung der übrigen dort lebenden Bewohner unterschieden hätte.

13

Dieser Erkenntnis vermag der Beklagte nicht erfolgreich mit dem Einwand entgegentreten, nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen reiche auch für Diabetiker eine ausgewogene Vollkost aus, sie bedürften keiner zusätzlichen Produkte. Denn es ist noch gar nicht hinreichend geklärt, ob die im Regelsatz enthaltenen Anteile für Ernährung überhaupt ausreichen, um davon eine für Diabetiker erforderliche Vollkost zu finanzieren. Der Beklagte hat sich zur Begründung seiner Ansicht wohl auf die Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen/Bremen vom 26.02.2007 (L 6 AS 71/07 ER) gestützt. Das LSG hat in diesem Beschluss entscheidungstragend darauf abgestellt, dass die Empfehlungen des DV aus dem Jahre 1997, die überwiegend in der Rechtsprechung als Leitlinien gelten, nicht mehr den neuesten ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisstand widerspiegeln würden. Dieser sei vielmehr im Rationalisierungsschema 2004 des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner dargestellt. Hieraus sei zu entnehmen, dass bei einer Diabetes mellitus - Erkrankung, gleich welchen Typs, keine besondere Diät oder Ernährung, die einen Mehrbedarf auslösen würde, erforderlich sei. Im Rationalisierungsschema 2004 und anderen sachverständigen Stellungnahmen werde vielmehr eine " ausgewogene Mischkost = Vollkost" empfohlen. Der Schwerpunkt der bei der Entscheidung des 6. Senates herangezogenen Erkenntnisse liegt also nicht auf der Klärung der Frage von Mehrkosten der erforderlichen Ernährung, sondern eher auf der Vorfrage, welche Ernährungsform geboten ist. Das erkennende Gericht hält die Annahme des LSG-Beschlusses vom 26.02.2007, dass dem vom Regelsatz abgedeckten Bedarf tatsächlich eine Ernährung auf "Vollkostbasis", die mit "Mischkost" identisch und somit im Regelsatz enthalten sei, allerdings nicht für zwingend. Sie bedarf näherer Überprüfung. Die Kammer folgt insoweit der Rechtsansicht des - in Sozialhilfesachen zuständigen - 8. Senats des LSG Niedersachsen/Bremen, der es nach wie vor nicht für geklärt hält, ob die Empfehlungen des DV aus dem Jahre 1997 nunmehr wissenschaftlich überholt sind oder noch Geltung beanspruchen können. Dies zu klären, ist wesentlicher Gegenstand des Berufungsverfahrens L 8 AS 5/07. Zwar geht es in diesem Verfahren um einen Rechtsstreit aus dem Bereich des SGB II, die gleichen Probleme stellen sich aber auch im Bereich des SGB XII, so dass die Problematik deckungs-gleich sein dürfte. Die Kammer weist darauf hin, dass - jedenfalls in Prozesskostenhilfe- und ebenso in vorläufigen Rechtsschutzverfahren - der 8. Senat nach wie vor die Empfehlungen des DV als geeignete Entscheidungsgrundlage anwendet (vgl. Beschl. v. 02.01.2008 - L 8 AS 769/07 und Beschl. v. 31.01.2008 - L 8 SO 147/07 ER). Dem folgt auch das erkennende Gericht im hier zu entscheidenden Fall. Auf die langjährige, besondere Sachkunde des DV bei der Regelsatzfestlegung wird ausdrücklich verwiesen.

14

Diesen aufgeworfenen Fragen muss das Gericht aber im vorliegenden Verfahren nicht abschließend nachgehen. Denn für den (einzig) streitbefangenen Monat September 2005 hatte der Kläger einen bestandkräftig ihm vom Job-Center bewilligten regelsatzerhöhenden Geldanspruch auf den Mehrbedarfszuschlag, der nicht ohne ausdrückliches Einverständnis des Klägers als Sachleistung hätte erbracht werden dürfen. Aber auch dann, wenn man (wofür es aber keine hinreichend tragfähigen Indizien gibt) von unwirtschaftlichem Verhalten des Klägers im Sinne von § 23 Abs. 2 SGB II ausginge, müsste der Mehrbedarf dann als weitere Sachleistung bis zum Ablauf des Bewilligungszeitraumes erbracht werden. Das ist hier unstreitig nicht geschehen.

15

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.