Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 06.11.2013, Az.: 2 B 848/13

Abschiebungsanordnung; aufschiebende Wirkung; Anordnung; Dublin-Verfahren; Familieneinheit; Wahrung der Familieneinheit; Interessenabwägung; Polen; Reiseunfähigkeit; Vollstreckungshindernis; inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
06.11.2013
Aktenzeichen
2 B 848/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 64276
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Berechtigte Zweifel an der Reisefähigkeit eines Asylbewerbers rechtfertigen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes.

2. Zur Wahrung der Familieneinheit ist die aufschiebende Wirkung der Klage auch zugunsten der Eltern und der minderjährigen Geschwister des betroffenen Asylbewerbers anzuordnen.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 2 A 847/13 bei der erkennenden Kammer seit dem 7. Oktober 2013 anhängigen Klage der Antragsteller gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 26. September 2013 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1 Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September 2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.

Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 26. September 2013, der den Antragstellern ausweislich der zu den Akten befindlichen Postzustellungsurkunde am 28. September 2013 zugestellt wurde, entschieden, dass die von den Antragstellern in Deutschland am 23. April 2013 gestellten (weiteren) Asylanträge unzulässig sind (Ziffer 1.); zugleich hat das Bundesamt die Abschiebung der Antragsteller nach Polen angeordnet (Ziffer 2.). Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrer in der Hauptsache - 2 A 847/13 - anhängigen Klage, die am 7. Oktober 2013 beim erkennenden Gericht eingegangen ist. Zeitgleich - damit fristgerecht - haben sie um Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nachgesucht. Die Klage ist somit innerhalb der 2-wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylVfG erhoben worden; ob eine Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche gem. § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG mit Wirkung vom 6. September 2013 erfolgt ist, kann die erkennende Kammer im vorliegenden Verfahren offen lassen. Das Bundesamt gibt seinen Außenstellen für die Rechtsbehelfsbelehrung ersichtlich eine zweiwöchige Klagefrist vor (vgl. Rundschreiben des Bundesamtes an alle Innenministerien der Bundesländer vom 17. Juli 2013 - 430-93604-01/13-05 - zur Änderung der Verfahrenspraxis des Bundesamtes im Rahmen des Dublinverfahrens im Hinblick auf § 34a AsylVfG n.F.); die Rechtsbehelfsbelehrung des angefochtenen Bescheides verhält sich dementsprechend. Wäre dagegen eine einwöchige Klagefrist zugrunde zu legen, was nach dem Wortlaut des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG jedenfalls nicht von vorn herein auszuschließen ist, käme den Antragstellern jedenfalls die Unrichtigkeit der vom Bundesamt erteilten Rechtsbehelfsbelehrung gem.  § 58 Abs. 2 VwGO hier zugute.

Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris, eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Beklagten mit dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragsteller vorzunehmen, die sich maßgeblich - aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten der Antragsteller aus, denn die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen Bedenken, weil bei dieser Entscheidung der problematische Gesundheitszustand des am 27. Juli 2012 geborenen Antragstellers zu 5.) nicht in den Blick genommen wurde.

Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:

„Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das Bundesamt vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu prüfen, ob Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen. Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf die Prüfung von sogenannten "zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet „sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Die Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach § 26a oder § 27a AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls sowohl "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der Abschiebung entgegenstehende "inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse" zu berücksichtigen hat. Es ist in diesem Zusammenhang unter anderem verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden und damit vom System der normativen Vergewisserung nicht erfassten Gründen - wenn auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-, Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011, 310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG MV, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15; Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15 f., 43 ff., Loseblatt, Stand August 2006; jew. m.w.N.).“

Dieser Rechtsprechung schließt sich die erkennende Kammer an.

Ausweislich des von den Antragstellern vorgelegten Arztbriefes der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, vom 23. August 2013 sind bei dem 1-jährigen Antragsteller zu 5.) schwere Fehlbildungen im bzw. am Kopf (sog. Wasserkopf und Chiari Malformation Typ II) und im Bereich des Rückenmarks bzw. der Wirbelsäule diagnostiziert worden. Während eines ca. 3-monatigen Krankenhausaufenthaltes musste der Antragsteller mehrere Operationen u.a. am Kopf über sich ergehen lassen. Zum Zeitpunkt seiner Entlassung aus dem Krankenhaus am 23. August wurden verschiedene Nachsorgebehandlungen und Medikationen ärztlich verordnet. Der zuständige Sachbearbeiter des Bundesamtes - Außenstelle Friedland - hat in den Akten vermerkt, der Antragsteller zu 5.) sei schwerbehindert (vgl. Bl. 69 Beiakte A). Bei dieser Sachlage ist die Auffassung der Antragsteller, der Antragsteller zu 5.) sei derzeit nicht reisefähig, gegenwärtig nicht von der Hand zu weisen, sondern bedarf weiterer Sachverhaltsaufklärung. Diese muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Zwar hat sich die zuständige Ausländerbehörde - Landkreis J. - gegenüber dem Berichterstatter telefonisch bereiterklärt, zeitnah eine amtsärztliche Untersuchung des Antragstellers zu 5.) und seines Vaters, des Antragstellers zu 1.), der nach eigenen Angaben unter einer PTBS und einer depressiven Episode leidet, zur Aufklärung der Frage der Reisefähigkeit und der weiteren Behandlungsbedürftigkeit der geltend gemachten Erkrankungen bei deren Rückkehr nach Polen herbeizuführen. Sollten sich hierbei Einschränkungen der Reisefähigkeit (z.B. medizinisch begleitete Rückführung) oder eine fortdauernde Behandlungsbedürftigkeit der Antragsteller zu 1.) und 5.) ergeben, hat das Bundesamt hieran anknüpfend darzulegen, dass die zuständigen polnischen Stellen ggf. eine medizinisch begleitete Überstellung gewährleisten und/oder eine ggf. notwendige medizinische Weiterbehandlung den Antragstellern bei ihrer Rückkehr zukommen lassen werden. Dies gilt insbesondere in Ansehung des Umstandes, dass das Office for Foreigners of the Republic Poland, Department for Refugee Procedures, gegenüber dem Bundesamt mit Schreiben vom 26. September 2013 seine Zuständigkeit  für  die  Antragsteller  gem.  Art.  16  Abs.  1  d)  der  Verordnung  (EG) 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen  in  einem  Mitgliedsstaat  gestellten  Asylantrags  zuständig  ist (ABl. EU L 50 vom 25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-Verordnung -, geändert durch VO (EG) 1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl. EU L 304 vom 14. November 2008, S. 80), erklärt hat, es demzufolge davon ausgeht, dass die Antragsteller ihren in Polen gestellten (ersten) Asylantrag zurückgenommen haben bzw. insoweit eine Rücknahmefiktion zu deren Lasten greift. Das Bundesamt kann sich diesbezüglich nicht auf allgemeine Auskünfte seiner Liaisonbeamtin in Warschau zur medizinischen Versorgung von Asylbewerbern beschränken und darauf verweisen, die polnischen Stellen würden ggf. eigene medizinischen Feststellungen zum weiteren Behandlungsbedarf der Antragsteller treffen, sodass eine dahingehende Zusage nicht erlangt werden könne.

Da die Antragsteller zu 1.) und 2.) die Eltern und die Antragsteller zu 3.) und 4.) die minderjährigen Geschwister des erkrankten Antragstellers zu 5.) sind, nehmen auch diese Antragsteller unter Berücksichtigung des Schutzes der Familieneinheit durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK - der Grundsatz der Familieneinheit ist zudem ein tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-II-Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV 343/2003, der ggf. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge haben kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012 S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42) - an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage teil. Die Trennung des ggf. nicht reisefähigen Antragstellers zu 5.) von seiner Familie ist unzumutbar; die Überstellung der übrigen Antragsteller nach Polen somit rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. VG München, Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -, zit. nach juris Rn. 17; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L 145/13.A -, zit. nach juris Rn. 17).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).