Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 07.11.2013, Az.: 2 B 783/13
Abschiebungsanordnung; aufschiebende Wirkung; Anordnung; Dublin-Verfahren; Interessenabwägung; Polen; intertemporäres Prozessrecht; Reiseunfähigkeit; Vollstreckungshindernis; inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 07.11.2013
- Aktenzeichen
- 2 B 783/13
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2013, 64275
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 27a AsylVfG
- § 34a AsylVfG
- § 60a Abs 2 S 1 AufenthG
- Art 16 Abs 1d EGV 343/2003
- § 80 Abs 5 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Über Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, die vor Inkrafttreten der Änderung des § 34a AsylVfG durch das 2. Richtlinienumsetzungsgesetz am 6. September 2013 anhängig waren, ist nach der geänderten Fassung des § 34a AsylVfG zu entscheiden.
2. Berechtigte Zweifel an der Reisefähigkeit eines Asylbewerbers rechtfertigen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes.
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 2 A 782/13 bei der erkennenden Kammer seit dem 27. August 2013 anhängigen Klage der Antragstellerin gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 21. Juni 2013 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Die Kammer entscheidet über den am 27. August 2013 anhängig gemachten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am selben Tage erhobenen Klage - 2 A 782/13 - der Antragstellerin gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 21. Juni 2013, der ihr erst am 20. August durch die zuständige Ausländerbehörde - Landkreis Osterode am Harz - persönlich ausgehändigt wurde, nach dem zum Zeitpunkt der Beschlussfassung geltenden Prozessrecht.
Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1 Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September 2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.
Hinsichtlich der am 6. September 2013 - mithin während der Anhängigkeit des vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens - in Kraft getretenen Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG fehlt es im Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (a.a.O.) an einer Übergangsvorschrift für die zu diesem Zeitpunkt bei den Verwaltungsgerichten bereits anhängigen einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Dies hat nach dem allgemein anerkannten Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts, wonach eine Änderung des gerichtlichen Verfahrensrechts auch alle zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens anhängigen Verfahren erfasst und der Bürger nicht darauf vertrauen kann, dass das Prozessrecht unverändert bleibt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 1992 - 2 BvR 1631/90 und 1728/90 -, BVerfGE 87, S. 48 ff., zit. nach juris Rn. 39 f., 43 und 46; BVerwG, Beschluss vom 24. September 1997 - 3 B 136/97 -, Buchholz 310 § 124 VwGO Nr. 28, zit. nach juris Rn. 7, jew.m.w.N.), hier die Anwendung der Neufassung des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG zur Folge, womit die Antragstellerin gegenüber der alten Rechtslage deutlich besser gestellt wird (vgl. die Stellungnahme des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren vom 3. Mai 2013, BR-Drs. 218/13, zu Nr. 1); ihr Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist somit statthaft geworden.
Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 21. Juni 2013 entschieden, dass der von der Antragstellerin in Deutschland am 2. April 2013 gestellte (weitere) Asylantrag unzulässig ist (Ziffer 1.); zugleich hat das Bundesamt die Abschiebung der Antragstellerin nach Polen angeordnet (Ziffer 2.). Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer in der Hauptsache - 2 A 782/13 - anhängigen Klage, die am 27. August 2013 beim erkennenden Gericht eingegangen ist. Zeitgleich hat sie um Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nachgesucht. Die Klage ist somit innerhalb der 2- wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylVfG erhoben worden. Ob eine Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche gem. § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG mit Wirkung vom 6. September 2013 erfolgt ist, kann die erkennende Kammer im vorliegenden Verfahren offen lassen; die durch Zustellung am 20. August 2013 in Gang gesetzte Klagefrist ist vor diesem Zeitpunkt, nämlich am 3. September 2013, abgelaufen. Dementsprechend ist die Einhaltung der Klagefrist und die Richtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung, die das Bundesamt dem angefochtenen Bescheid beigefügt hatte, allein nach der Rechtslage vor Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG zu beurteilen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Oktober 2004 - 19 A 3946/04 -, DÖV 2005, S. 484, zit. nach juris Rn. 2).
Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris, eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragstellerin vorzunehmen, die sich maßgeblich - aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten der Antragstellerin aus, denn die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen Bedenken, weil bei dieser Entscheidung der problematische Gesundheitszustand der 25-jährigen Antragstellerin nicht in den Blick genommen wurde.
Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Asylbewerbers liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:
„Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das Bundesamt vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu prüfen, ob Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen. Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf die Prüfung von sogenannten "zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet „sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Die Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach § 26a oder § 27a AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls sowohl "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der Abschiebung entgegenstehende "inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse" zu berücksichtigen hat. Es ist in diesem Zusammenhang unter anderem verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden und damit vom System der normativen Vergewisserung nicht erfassten Gründen - wenn auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-, Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011, 310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG MV, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15; Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15 f., 43 ff., Loseblatt, Stand August 2006; jew. m.w.N.).“
Dieser Rechtsprechung schließt sich die erkennende Kammer an (so bereits Beschluss der Kammer vom 6. November 2013 - 2 B 848/13 -, zit. nach juris).
Ausweislich der von der Antragstellerin vorgelegten ärztlichen Stellungnahme des Asklepios Fachklinikums Göttingen - Akutpsychiatrie -, die mit Telefax vom 18. September 2013 ihrem Prozessbevollmächtigten übermittelt wurde, befindet diese sich seit dem 23. August 2013 wegen einer schizoaffektiven Psychose in stationärer Behandlung. Weiter wird darin ausgeführt, die Antragstellerin benötige aus ärztlicher Sicht für das Erreichen und Erhalten einer Remission ihr familiäres Umfeld. Es sei bei einer „Ausweisung“ - gemeint wohl: Aufenthaltsbeendigung - mit einer erneuten psychotischen Dekompensation zu rechnen. Dieser medizinische Befund korrespondiert mit den in der beigezogenen Ausländerakte des Landkreises Osterode am Harz aktenkundigen Diagnosen der die Antragstellerin ambulant behandelnden Neurologin Dr. F. Diese hat bei der Antragstellerin im Juni 2013 zusätzlich eine paranoid- schizophrene Psychose und eine PTBS diagnostiziert (vgl. Bl. 58 Beiakte B). Der zuständige Sachbearbeiter der Ausländerbehörde hat deshalb unter dem 27. Juni 2013 in der Ausländerakte vermerkt, im Anschluss an die Durchführung eines MRT-Termins erfolge eine Terminierung zur amtsärztlichen Feststellung der Reisefähigkeit der Antragstellerin durch das Gesundheitsamt des Landkreises. Insbesondere müsse die Notwendigkeit einer medizinisch begleiteten Rückführung nach Polen abgeklärt werden. Der Kammer ist derzeit nicht bekannt, ob die anvisierte amtsärztliche Untersuchung der Antragstellerin zwischenzeitlich erfolgt ist und zu welchem Ergebnis diese im Hinblick auf deren Reisefähigkeit und deren weiteren Behandlungsbedarf geführt hat. Der Kammer liegen weiterhin keine Informationen vor, ob der stationäre Aufenthalt der Antragstellerin in der psychiatrischen Abteilung des Asklepios Fachklinikums Göttingen fortdauert. Bei dieser Sachlage ist die Auffassung der Antragstellerin, sie sei derzeit nicht reisefähig, gegenwärtig nicht von der Hand zu weisen, sondern bedarf weiterer Sachverhaltsaufklärung. Diese muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Die Kammer geht diesbezüglich davon aus, dass die zuständige Ausländerbehörde - Landkreis Osterode am Harz - zeitnah eine amtsärztliche Untersuchung der Antragstellerin zur Aufklärung der Frage der Reisefähigkeit und der weiteren Behandlungsbedürftigkeit ihrer psychischen Erkrankung bei deren Rückkehr nach Polen herbeiführt. Sollten sich hierbei Einschränkungen der Reisefähigkeit (z.B. medizinisch begleitete Rückführung) oder eine fortdauernde Behandlungsbedürftigkeit der Antragstellerin ergeben, hat das Bundesamt hieran anknüpfend darzulegen, dass die zuständigen polnischen Stellen ggf. eine medizinisch begleitete Überstellung gewährleisten und/oder eine ggf. notwendige medizinische Weiterbehandlung der Antragstellerin bei ihrer Rückkehr zukommen lassen werden. Dies gilt insbesondere in Ansehung des Umstandes, dass das Office for Foreigners of the Republic Poland, Department for Refugee Procedures, gegenüber dem Bundesamt mit Schreiben vom 16. Mai 2013 seine Zuständigkeit für die Antragstellerin gem. Art. 16 Abs. 1 d) der Verordnung (EG) 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. EU L 50 vom 25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-Verordnung -, geändert durch VO (EG) 1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl. EU L 304 vom 14. November 2008, S. 80), erklärt hat, es demzufolge davon ausgeht, dass die Antragstellerin ihren in Polen gestellten (ersten) Asylantrag zurückgenommen hat bzw. insoweit eine Rücknahmefiktion zu deren Lasten greift.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).