Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 23.02.2017, Az.: 5 B 7/17

Abschiebungsandrohung; Asyl; Aufschiebende Wirkung; Flüchtlingsanerkennung; glaubhaft; Irak; offensichtlich unbegründet; widersprüchlich

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
23.02.2017
Aktenzeichen
5 B 7/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 53849
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsandrohung in den Irak, nachdem die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden sind mit der Begründung, der Sachvortrag in der Anhörung genüge nicht den Kriterien einer glaubhaften Darstellungen und seien widersprüchlich.

Gründe

Der am B. geborene Antragsteller ist irakischer Staatsangehöriger, zugehörig zu der Volksgruppe der Kurden. Er reiste nach eigenen Angaben am 9. Juni 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und stellte am 13. Juli 2015 einen Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - in der Folge: Bundesamt - lehnte mit Bescheid vom 16. Januar 2017 die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, forderte den Antragsteller gleichzeitig unter Abschiebungsandrohung in den Irak zur Ausreise auf und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner am 23. Januar 2017 erhobenen Klage (5 A 32/17) sowie dem vorliegenden Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.

Der zulässige Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 Abs. 1 AsylG) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom 16. Januar 2017 - d.h. richtigerweise gegen die Abschiebungsandrohung im angefochtenen Bescheid (§ 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG) - nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, ist begründet.

Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens ist gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG die unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche (§ 36 Abs. 1 AsylG) ausgesprochene Abschiebungsandrohung. Die mit dieser Verwaltungsentscheidung in-tendierte umgehende Beendigung des Aufenthalts der Ausländer im Bundesgebiet stützt sich auf die Ablehnung des Asylantrages, des Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz als gemäß § 30 AsylG offensichtlich unbegründet und ist deren Folge. Das Gericht hat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Einschätzung des Bundesamtes, dass der geltend gemachte Anspruch auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz offensichtlich nicht besteht, zum Gegenstand seiner Prüfung zu machen. Die Aussetzung der Abschiebung darf nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an dem Offensichtlichkeitsurteil oder der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung im Übrigen bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Eine Offensichtlichkeit ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 bis 5 oder des § 29 a AsylG erfüllt sind oder wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen keine Zweifel bestehen und bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung sich eine Ablehnung des Antrages geradezu aufdrängt (BVerfG, Beschl. v. 20.04.1988 - 2 BvR 1506/87 -, NVwZ 1988, 717; Beschl. v. 08.11.1991 - 2 BvR 1351/91 -, InfAusIR 1992, 72). Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Abschiebungsandrohung - insbesondere das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes - einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerfGE 94,166). Im Bereich der individuellen Verfolgungstatsachen kann sich eine offensichtliche Unbegründetheit daraus ergeben, dass das Vorbringen eindeutig unschlüssig oder widersprüchlich oder unglaubhaft ist und das Bundesamt trotz entsprechender Vorhalte oder sonstiger Versuche eine Aufklärung nicht erreicht hat. Das Bundesamt muss jedoch eine erschöpfende Aufklärung durch Anhörung nach den Regeln des § 25 AsylG versuchen (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 30 Rn. 6).

Diese Voraussetzungen für die Offensichtlichkeit der Ablehnung des Asylantrags sind vorliegend nicht erfüllt. Die Antragsgegnerin hat das Offensichtlichkeitsurteil darauf gestützt, dass das Vorbringen des Antragstellers in wesentlichen Punkten nicht substantiiert und in sich widersprüchlich sei und zudem offenkundig nicht den Tatsachen entspreche und somit die Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG erfüllt seien. So sei es erfahrungsfremd, dass der Vater des Antragstellers von diesem die Tötung seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau verlangt habe, da sie nicht standesgemäß sei und durch die Heirat ein schlechter Ruf auf die Familie gefallen sei. Zudem lasse sich die vom Antragsteller geschilderte handwerkliche Tätigkeit nicht mit der vorgetragenen Verletzung vereinbaren.

Die zur Begründung der Offensichtlichkeit herangezogene Widersprüchlichkeit im Hinblick auf die Tätigkeit in einem Handwerksbetrieb trotz erlittener Schussverletzungen lässt sich aus dem Protokoll über die Anhörung vom 8. Dezember 2016 jedoch nicht entnehmen. Zwar hat der Antragsteller demnach gesagt, dass er u.a. nicht früher ausgereist sei, da er noch unter einer Schussverletzung aus dem Jahr 2013 gelitten habe. Zugleich ist er aber lediglich allgemein gefragt worden, welche Tätigkeiten er in der Firma ausgeübt habe, und nicht konkret bezogen auf den Zeitraum nach der Verletzung. Aus der Antwort, dass er Lasten ab- oder umgeladen und auch gemalert habe, größtenteils aber mit einer Spritzpistole Farbdekorationen gemacht habe, lässt sich kein „krasser Widerspruch“ ableiten. Zum einen ist nicht differenziert danach gefragt worden, ob er alle diese Tätigkeiten auch nach der Schussverletzung ausgeübt hat oder teilweise nur vorher, zumal sich aus seiner Antwort, dass er nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auf seine Arbeit „zurückgekehrt“ sei, eindeutig ergibt, dass er bereits vor der Verletzung in dem Betrieb gearbeitet hat. Andererseits widerspricht eine Oberschenkelverletzung nicht der Anfertigung von Farbdekorationen mit einer Spritzpistole, die nach der Aussage des Antragstellers seine Haupttätigkeit dargestellt hat. Selbst das Ab- und Umladen von Lasten steht nicht notwendig in einem Widerspruch zu einer Oberschenkelverletzung, da diese Tätigkeiten auch mit technischer Unterstützung ausgeübt worden sein könnten. Es wäre jedenfalls, um von einem eine offensichtliche Unbegründetheit begründendem krassen Widerspruch ausgehen zu können, eine Obliegenheit des anhörenden Entscheiders gewesen, hier nachzufragen und den Sachverhalt durch weitere Fragen möglichst erschöpfend aufzuklären.

Soweit die Antragsgegnerin ausführt, dass die verlangte Tötung der vom Antragsteller getrennten Ehefrau erfahrungsfremd sei, bleibt unklar, woher die Antragsgegnerin diese Erkenntnis nimmt. Nachdem die Ehefrau eine außereheliche Beziehung gehabt haben soll, erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Vater des Antragstellers der Ansicht gewesen sein könnte, die vermeintlich dadurch verletzte Ehre der Familie durch eine Tötung der Ehefrau wiederherstellen zu müssen (vgl. nur zu einem Fall der Tötung der Ehefrau nach der Trennung vom Ehemann http://www.sueddeutsche.de/muenchen/hoechststrafe-fuer-ehrenmord-an-ehefrau-sie-hat-es-verdient-1.320397). Um diese Aussage als offensichtlich nicht glaubhaft zu bewerten, ist es nicht ausreichend, sie lediglich als „erfahrungsfremd“ darzustellen. Notwendig wäre vielmehr gewesen, darzulegen, worauf sich diese vermeintliche Erfahrung gründet.

Auch ist nicht ersichtlich, dass es den Ausführungen des Antragstellers, die er in seiner 95-minütigen Anhörung getätigt hat und die auf acht Seiten protokolliert worden sind, so eklatant an Details mangeln würde, dass sich hierauf eine offensichtliche Unbegründetheit stützen ließe. Hinzu kommt, dass der Antragsteller ausweislich der vom anhörenden Entscheider in der Anhörung angefertigten Vermerke unterschiedliche Narben und Verletzungen gezeigt hat. So seien z.B. „Bauch und Schulter […] mit - teilweise sehr großen - Narben übersät“. Auch dieser objektive Befund durch den anhörenden Entscheider spricht dagegen, dass sich eine Ablehnung des Antrages geradezu aufdrängt.

Ob aus dem Vorbringen des Antragstellers ein Anspruch auf internationalen Schutz folgt, muss der Überprüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.