Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 20.06.2000, Az.: 6 B 331/00
Alkoholabhängigkeit; fachärztliches Gutachten; Fahreignung; vorläufiger Rechtsschutz; ärztliche Schweigepflicht
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 20.06.2000
- Aktenzeichen
- 6 B 331/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 41243
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 11 Abs 8 FeV
- § 3 Abs 1 StVG
- § 11 Abs 2 FeV
- § 13 FeV
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Kein Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht bei der Mitteilung einer Alkoholabhängigkeit gegenüber der Verkehrsbehörde zum Schutz anderer bei der Uneinsichtigkeit des Fahrerlaubnisinhabers. Die Verkehrsbehörde ist auch dann zum Handeln verpflichtet, wenn ein Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht vorliegen sollte.
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4.000,-- DM festgesetzt.
Gründe
I.
Der im Jahre 1949 geborene Antragsteller war im Besitz einer Fahrerlaubnis der Klasse 3. Durch eine Mitteilung des Städtischen Krankenhauses Salzgitter vom 26. August 1999 erhielt der Antragsgegner davon Kenntnis, dass der Antragsteller, der sich aufgrund einer chronischen Alkoholabhängigkeit einer Entgiftungsbehandlung unterzog, entgegen dem Anraten der Ärzte weiterhin mit seinem Kraftfahrzeug am Straßenverkehr teilnahm. Die behandelnden Ärzte legten außerdem dar, dass wegen der Alkoholabhängigkeit die Verkehrstauglichkeit des Antragstellers in Frage gestellt werde, der Antragsteller, mit dem diese Situation besprochen worden sei, jedoch keine Einsicht in seine fehlende Verkehrstauglichkeit habe.
Der Antragsgegner gab darauf hin dem Antragsteller unter dem 02. September 1999 auf, zur Klärung der an seiner Kraftfahrtauglichkeit bestehenden Zweifel sich einer fachärztlichen Begutachtung zu unterziehen. Als der Antragsteller dieser Aufforderung innerhalb der ihm mit Verfügung vom 05. Oktober 1999 gesetzten Nachfrist nicht nachkam, entzog der Antragsgegner ihm mit Bescheid vom 25. Mai 2000 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung dieser Maßnahme die Fahrerlaubnis. Hiergegen erhob der Antragsteller am 05. Juni 2000 Widerspruch, über den - soweit ersichtlich ist - noch nicht entschieden worden ist.
Am 05. Juni 2000 hat der Antragsteller außerdem beim Verwaltungsgericht um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründung trägt er vor:
Er betrachte das Schreiben des Städtischen Krankenhauses Salzgitter, das der Antragsgegner zum Anlass genommen habe, von ihm eine fachärztliche Untersuchung zu fordern, als eine Unverschämtheit und einen schweren Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht. Es bestünden keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass er nicht in der Lage sei, sein Kraftfahrzeug sicher zu führen. Bisher habe er völlig unauffällig mit seinem Pkw am Straßenverkehr teilgenommen. Ein konkreter Verdacht, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei und er deshalb andere Verkehrsteilnehmer derart gefährde, dass bis zum Abschluss eines Klageverfahrens nicht zugewartet werden könne, bestehe nicht. Bezeichnend sei schließlich, dass der Antragsgegner seit dem ersten an ihn gerichteten Schreiben mehr als ein halbes Jahr zugewartet habe, bevor die sofortige Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung angeordnet worden sei.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 25. Mai 2000 wiederherzustellen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er entgegnet:
Nach dem Inhalt der Mitteilung des Städtischen Krankenhauses Salzgitter, die ihm am 01. September 1999 zugegangen sei, habe ein hinreichender Anlass bestanden, die Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens anzuordnen. Für die Behauptung des Antragstellers, dass die Mitteilung des Städtischen Krankenhauses Salzgitter unter Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht erfolgt sei, fehle es an einem Beweis. Diese Behauptung sei erst jetzt vom Antragsteller erhoben worden; ein Verwertungsverbot hinsichtlich der ärztlichen Mitteilung bestehe deshalb nicht. Außerdem sei auf die Nichteignung des Antragstellers erst geschlossen worden, nachdem er der Aufforderung zur Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens nicht fristgerecht gefolgt sei. Auf die sich aus § 11 Abs. 8 FeV in einem solchen Fall ergebenden Folgen sei der Antragsteller zuvor hingewiesen worden. Im Interesse der Verkehrssicherheit habe die sofortige Vollziehung der Maßnahme angeordnet werden müsse. Die relativ späte Entscheidung beruhe auf einem Versehen; daraus könne jedoch nicht geschlossen werden, dass die Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung anders zu beurteilen seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Der Antragsgegner hat die sofortige Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung in formell ordnungsgemäßer Weise angeordnet (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) und in ausreichender Weise schriftlich begründet, warum das besondere Interesse an dem Sofortvollzug als gegeben erachtet wird (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
Auch aus materiell-rechtlichen Gründen besteht keine Veranlassung, die aufschiebende Wirkung des gegen den Bescheid erhobenen Rechtsbehelfs wiederherzustellen. Nach § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung, sofern nicht die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde besonders angeordnet wird. Eine derartige Vollziehungsanordnung setzt zu ihrer Rechtswirksamkeit voraus, dass ohne sie das öffentliche Interesse in schwerwiegender Weise beeinträchtigt würde, so dass demgegenüber die privaten Interessen des von der Vollziehungsanordnung Betroffenen zurücktreten.
Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung, mit der die Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG entzogen worden ist, ist regelmäßig anzunehmen, wenn sich die an der Fahreignung des Betroffenen bestehenden Zweifel so weit verdichtet haben, dass die ernste Besorgnis gerechtfertigt erscheint, er werde andere Verkehrsteilnehmer in ihrer körperlichen Unversehrtheit oder in ihrem Vermögen ernstlich gefährden, wenn er bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung weiterhin am motorisierten Straßenverkehr teilnimmt (Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., Rn 1273 m.w.N.). Eine solche Gefahr für die Allgemeinheit ist insbesondere dann anzunehmen, wenn besondere Umstände eine Gefährlichkeit gegenwärtig begründen, die im Wege der Abwägung zu Lasten der Allgemeinheit und damit im öffentlichen Interesse nicht hingenommen werden kann. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG hat die Fahrerlaubnisbehörde einem Kraftfahrzeugführer die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn er sich als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Ungeeignet ist nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV ein Kraftfahrzeugführer, bei dem Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zu der Fahrerlaubnisverordnung vorliegen. Als ungeeignet in diesem Sinne darf von der Fahrerlaubnisbehörde auch ein Kraftfahrer, der eine ihm abverlangte Untersuchung nicht durchführen lässt oder das von ihm geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt, angesehen werden (§ 11 Abs. 8 FeV). Nach der für diese Regelung vom Verordnungsgeber in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verdichten sich die Zweifel an der Fahreignung zu der Gewissheit, dass der Kraftfahrer nicht geeignet ist, ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr sicher zu lenken, weil aus dem Verhalten des Kraftfahrers zu schließen ist, er wolle Mängel, die seine Fahreignung ausschließen könnten, verbergen (BVerwG, Urt. vom 27.09.1995, BVerwGE 99, 249 = NZV 1996, 84 m.w.N.). Da der Antragsteller den an ihn gerichteten Aufforderungen des Antragsgegners vom 02. September und 05. Oktober 1999 zur Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens zur Überprüfung der wegen seiner Alkoholabhängigkeit fraglichen Fahreignung nicht fristgerecht nachgekommen ist, obgleich er auf die in einem solchen Fall mögliche Entziehung der Fahrerlaubnis hingewiesen wurde, hat der Antragsgegner zu Recht angenommen, dass der Antragsteller nicht in der Lage ist, den von ihm geforderten Eignungsnachweis zu erbringen. Die dem Antragsgegner vorliegenden Unterlagen über den Antragsteller erhärten diese Annahme.
Aus der ärztlichen Mitteilung des Städtischen Krankenhauses Salzgitter vom 26. August 1999 ergibt sich, dass sich der Antragsteller im August 1999 aufgrund einer chronischen Alkoholabhängigkeit in eine stationäre Behandlung des Krankenhauses begeben musste. Daran anschließend wurde eine Entgiftungstherapie durchgeführt, der wiederum eine längerfristige ambulante Entzugsbetreuung durch eine entsprechende Einrichtung nachfolgen sollte. Nach den Nummern 8.3 und 8.4 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung ist die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Falle einer Alkoholabhängigkeit bis zum Nachweis einer gefestigten Abstinenz im Anschluss an eine Entwöhnungsbehandlung nicht gegeben. Zur Klärung der sich hieraus ergebenden Eignungszweifel im Falle einer Alkoholproblematik sieht § 13 Nr. 1 FeV die Anordnung zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens vor, wenn - wie das hier der Fall ist - Tatsachen bekannt werden, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach den Anlagen 4 und 5 der Fahrerlaubnisverordnung hinweisen (§ 11 Abs. 2 Satz 3 FeV).
Entgegen der Auffassung des Antragstellers war der Antragsgegner nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, in Anbetracht der ärztlichen Mitteilung vom 26. August 1999 den Hinweisen auf eine alkoholbedingte Fahruntauglichkeit des Antragstellers nachzugehen. Selbst wenn die Angabe in dem genannten Schriftsatz, dass der Antragsteller sich mit einer Mitteilung an die Fahrerlaubnisbehörde einverstanden erklärt habe, nicht zutreffen sollte, stünde dies dem behördlichen Tätigwerden nicht entgegen. Ein Verstoß gegen die ärztliche Pflicht zur Verschwiegenheit liegt u.a. dann nicht vor, wenn und soweit die Offenbarung zum Schutz eines höheren Rechtsgutes, insbesondere zur Abwehr schwerer gesundheitlicher Gefahren von dem Patienten oder einem anderen, erforderlich ist (BVerwG, Beschl. vom 04.09.1970, DÖV 1972, 59 m.w.N.). Hiernach dürften wegen der sowohl für den Antragsteller sowie auch für andere Verkehrsteilnehmer bestehenden Gefahren Bedenken gegen die ärztliche Mitteilung des Städtischen Krankenhauses Salzgitter nicht bestehen. Wenn die Fahrerlaubnisbehörde von einem Sachverhalt Kenntnis erlangt, der ihr Tätigwerden erfordert oder nach näherer Sachaufklärung erfordern kann, ist die Behörde zur Erfüllung der ihr obliegenden Aufgaben auch dann verpflichtet, wenn der Mitteilende eine ihm obliegende Verschwiegenheit verletzt hat (BVerwG, aaO). Im Hinblick auf die für andere Verkehrsteilnehmer bestehende Gefahrenlage, die genügender Anlass für die Behörde war, die sofortige Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung vom 25. Mai 2000 anzuordnen, sind infolgedessen die vom Antragsteller gegen die behördliche Maßnahme erhobenen Bedenken selbst dann nicht begründet, wenn dieser Maßnahme eine ärztliche Mitteilung zugrunde liegen sollte, für die eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht nicht vorliegt.
Der Antrag ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG und beläuft sich auf die Hälfte des Wertes, der in einem Klageverfahren festzusetzen wäre, wenn - wie hier - eine Fahrerlaubnis der Klasse 3 im Streit ist.