Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 04.10.2005, Az.: L 8 AS 138/05 ER

Ausgestaltung der Grundsicherung für Arbeitssuchende; Voraussetzungen des Anspruchs auf Gewährung von Geldleistungen nach Sozialgesetzbuch Zweites Buch (§ 19 SGB II) unter Berücksichtigung ihrer tatsächlichen Unterkunftskosten

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
04.10.2005
Aktenzeichen
L 8 AS 138/05 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 38952
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2005:1004.L8AS138.05ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 13.06.2005 - AZ: S 46 AS 265/05 ER

Fundstelle

  • BtMan 2006, 44

... hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen
am 4. Oktober 2005
in Celle
durch
die Richter Scheider - Vorsitzender -, Wimmer und Valgolio
beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 13. Juni 2005 geändert.

Die Antragsgegnerin wird im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig - unter dem Vorbehalt der Rückforderung - Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Monate Mai und Juni 2005 unter Berücksichtigung der tatsächlich angefallenen Unterkunftskosten der Antragstellerin zu gewähren.

Im Übrigen - für den Monat April 2005 - wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe

1

Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Oldenburg vom 13. Juni 2005 ist teilweise begründet. Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass sie für die Monate Mai und Juni 2005 Anspruch auf Geldleistungen nach § 19 SGB II unter Berücksichtigung der ihr tatsächlich entstehenden Unterkunftskosten in Höhe von 315,91 ? hat. Im Übrigen - für den Monat April - bleibt die Beschwerde erfolglos.

2

Die im März 1952 geborene Antragstellerin hat im Juni 2000 eine Wohnung mit einer Wohnungsgröße von 54,48 qm angemietet. Nach einer Bescheinigung des Vermieters vom 16. November 2004 beträgt die ab 1. Januar 2005 fällige Miete monatlich 315,91 ? (einschließlich Betriebskosten und Zuschlag für Modernisierung). Die Antragstellerin erhielt bis März 2005 Geldleistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung ihrer tatsächlichen Unterkunftskosten (Bescheid vom 13. November 2004). Die Antragstellerin war mit einem Hinweisschreiben der Agentur für Arbeit F. vom 20. Dezember 2004 aufgefordert worden, ihre unangemessen hohen Unterkunftskosten bis zum 31. März 2005 auf einen angemessenen Betrag von 258,00 ? monatlich zu senken. Da die Antragstellerin aus Sicht der Antragsgegnerin entsprechende Maßnahmen zur Senkung der Unterkunftskosten nicht unternahm, bewilligte sie mit Bescheid vom 16. März 2005 Leistungen für die Zeit ab 1. April bis 30. September 2005 unter Berücksichtigung der für angemessen gehaltenen Unterkunftskosten. Dagegen wandte die Antragstellerin sich mit Widerspruch und einem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vom 29. April 2005 beim SG Oldenburg. Das SG hat den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 13. Juni 2005 abgelehnt, weil es an einem Anordnungsgrund und einem Anordnungsanspruch fehle.

3

Dagegen hat die Antragstellerin am selben Tage Beschwerde eingelegt und vorgetragen, dass sie sich im Frühjahr um günstigere Mietwohnungen bemüht habe.

4

Bei dieser Sachlage hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes für die Monate Mai und Juni 2005 Erfolg; soweit noch Leistungen für den Monat April begehrt werden, ist die Beschwerde erfolglos, weil für diesen Monat der nötige Anordnungsgrund fehlt.

5

Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz richtet sich nach § 86 b Abs. 2 SGG. Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte; einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

6

Einschlägig ist die letztgenannte Möglichkeit, also eine Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile. Sie entspricht der Regelungsanordnung des § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

7

Eine derartige Regelungsanordnung kann das Gericht erlassen, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 ZPO, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und dass der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche, in § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG näher gekennzeichnete Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund).

8

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund für die Monate Mai und Juni 2005 glaubhaft gemacht. Daher war der Beschluss des SG zu ändern und eine vorläufige Verpflichtung zur Leistungsgewährung für die beiden Monate auszusprechen.

9

Für den Monat April 2005 fehlt der für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nötige Anordnungsgrund. Hierzu ist von Bedeutung, dass die begehrten Leistungen im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes frühestens ab Eingang des Antrags bei Gericht zugesprochen werden können. Da hier die Unterkunftskosten in Streit stehen, die zum Monatsbeginn entrichtet werden müssen, können im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes Mietzahlungen nur noch für die Monate Mai und Juni zugesprochen werden, weil der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erst Ende April 2005 bei Gericht einging. Für Zeiträume davor werden bei laufenden Leistungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren Geldleistungen im Regelfall nicht zugesprochen. Ein solcher Regelfall liegt hier vor.

10

Die Antragstellerin ist als erwerbsfähige Hilfebedürftige anspruchsberechtigt auf das Arbeitslosengeld II gemäß § 19 SGB II, zu dem auch die angemessenen Kosten für die Unterkunft gehören (§ 19 Satz 1 Nr. 1 SGB II).

11

Nach § 22 Abs. 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Sind die tatsächlichen Aufwendungen unangemessen, sind sie durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf anderen Weise zu senken. In der Regel sollen die "unangemessenen Kosten" längstens für sechs Monate übernommen werden.

12

Nach der Rechtsprechung des Senats bei der Ermittlung der angemessenen Unterkunftskosten ergibt sich, dass die Unterkunftskosten der Antragstellerin unangemessen hoch sind. Der Senat legt insoweit regelmäßig, sofern nicht spezielle örtliche Mietspiegel vorhanden sind, die Wohngeldtabelle nach dem Wohngeldgesetz zugrunde. Wird diese Tabelle zugrundegelegt, und zwar die rechte Spalte, wäre eine Wohnungsmiete bis zu 280,00 ? monatlich angemessen. Die derzeitige Miete der Antragstellerin liegt darüber, wie sich aus den Antragsunterlagen ergibt (monatliche Miete von 315,91 ?). Die Antragstellerin muss sich daher um Senkung ihrer Unterkunftskosten bemühen.

13

Allerdings wird in § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II bestimmt, dass unter bestimmten Umständen die unangemessenen Kosten anzuerkennen sind "in der Regel jedoch längstens für sechs Monate". Diese Regelung bedeutet, dass die Frist in begründeten Fällen verlängert werden kann, umgekehrt kann in begründeten Fällen die Frist je nach Fallkonstellation auch kürzer sein (vgl. dazu Wieland in Estelmann, Kommentar zum SGB II, Loseblattsammlung, Stand: Februar 2005, § 22 RdNr. 34; Gerenkamp in Mergler/Zink, Kommentar zum SGB II, Loseblattsammlung, § 22 RdNr. 18). Der Regelfall ist allerdings die Übernahme der Kosten für Unterkunft - im Fall der unangemessenen Höhe - für die Dauer von sechs Monaten. Die Regelung des § 22 Abs. 1 SGB II hat den Charakter einer sog Sollvorschrift, weil im Regelfall die Kosten für sechs Monate anzuerkennen sind. Dies bedeutet, dass die Behörde sich regelmäßig in bestimmter Weise verhalten soll, also auch unangemessene Unterkunftskosten für die Dauer von sechs Monaten in der Bedarfsberechnung anzuerkennen hat.

14

Es besteht daher eine strikte Bindung für den Regelfall. Abweichungen sind möglich in atypischen Fällen, in denen besondere, nachweislich überwiegende Gründe für das Absehen von dem Regelfall sprechen. Die Behörde darf von der Regel nur in den Fällen abweichen, in denen die für den Normalfall geltende Regelung von Sinn und Zweck des Gesetzes offenbar nicht mehr gefordert wird.

15

Derartige außergewöhnliche Umstände, die eine Verkürzung der Regelfrist von sechs Monaten angezeigt erscheinen lassen, sind hier nicht ersichtlich; die Behörde hat derartige nötige besondere Umstände nicht aufgezeigt. Das maßgebliche Hinweisschreiben vom 20. Dezember 2004, mit welchem die Antragstellerin zur Senkung der Unterkunftskosten aufgefordert worden ist, enthält derartige Umstände nicht. Vielmehr wird dort nur der Regelfall geschildert, nämlich eine Überschreitung der von der Behörde für angemessenen gehaltenen Unterkunftskosten. Dies allein kann nach den oben dargestellten Voraussetzungen die Verkürzung der vom Gesetz vorgesehenen Sechs-Monats-Frist auf die Hälfte nicht rechtfertigen.

16

Etwas anderes könnte beispielsweise angenommen werden, wenn die Behörde den Anspruchsteller auf eine konkrete Wohnung verweist, die angemessene Kosten aufweist und anmietbar ist. Derartige oder vergleichbare Umstände liegen hier nicht vor.

17

Mithin hat die Antragstellerin dem Grunde nach Anspruch auf Übernahme ihrer "unangemessenen" Unterkunftskosten für die Regeldauer von sechs Monaten, also bis Juni 2005. Im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes waren der Antragstellerin diese Kosten noch für die Monate Mai und Juni 2005 zuzusprechen. Für den Monat April kann die Antragstellerin im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes diese Leistungen nicht erhalten, weil insoweit kein Anordnungsgrund vorliegt, wie oben dargelegt wurde. Für die ersten Monate - Januar bis März 2005 - hat die Antragsgegnerin von sich aus die tatsächlichen Unterkunftskosten berücksichtigt.

18

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass der Antragstellerin mit ihrem Begehren im vorläufigen Rechtsschutz nur zu 2/3 obsiegt, indem sie die begehrten Leistungen für die Monate Mai und Juni 2005 erhält, nicht aber für den Monat April 2005.

19

Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

Scheider
Wimmer
Valgolio