Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 12.10.2005, Az.: L 4 KR 21/02

Versicherungspflicht zur Rentenversicherung für Studenten; Aufhebung der Regelung über die Rentenversicherungsfreiheit von immatrikulierten Studenten; Besitzstandsregelung des § 230 Abs. 4 Sozialgesetzbuch - Viertes Buch (SGB VI); Fortgeltung des Werkstudentenprivilegs; Versicherungspflichtige Beschäftigung i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
12.10.2005
Aktenzeichen
L 4 KR 21/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 25172
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2005:1012.L4KR21.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 22.01.2002 - AZ: S 6 KR 124/99

Tenor:

Das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 22. Januar 2002 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist die Versicherungspflicht zur Rentenversicherung für die Beigeladenen.

2

Die Beklagte führte im März 1998 bei der Klägerin eine Betriebsprüfung nach § 28 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Viertes Buch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) durch. Prüfzeitraum war vom 1. Januar 1994 bis 31. Dezember 1997. Mit Prüfbescheid vom 30. März 1998 an die Klägerin stellte die Beklagte die Rentenversicherungspflicht des Beigeladenen zu 1 ab dem 3. Februar 1997 und für den Beigeladenen zu 2 ab dem 1. März 1997 fest. Für den geprüften Zeitraum hätten Immatrikulationsbescheinigungen für die Beigeladenen vorgelegen. Das Beschäftigungsverhältnis sei demnach zwar versicherungsfrei zur Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung. In der Rentenversicherung trete hingegen Versicherungspflicht ein. Dies beruhe auf der Änderung der Vorschrift des § 5 Abs. 3 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI). Die Regelung über die Rentenversicherungsfreiheit von Personen, die während der Dauer ihres Studiums als ordentlich Studierende einer Fachschule oder Hochschule gegen Arbeitsentgelt beschäftigt oder selbstständig tätig seien, sei mit Wirkung vom 1. Oktober 1996 aufgehoben worden. Die Übergangsregelung des § 230 Abs. 4 SGB VI sei auf die Beigeladenen nicht anzuwenden. Die sich auf die Prüfung ergebene Nachforderung von Beiträgen betrage 6.330,14 DM (= 3.236,55 Euro).

3

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 15. April 1998 Widerspruch ein. Sie führte aus, dass die Beschäftigungsverhältnisse der Beigeladenen bereits vor dem 30. September 1996 bestanden und darüber hinaus fortbestanden hätten. Etwaige Unterbrechungen seien von verhältnismäßig kurzer Dauer gewesen. Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 1998 wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch gegen den Bescheid vom 30. März 1998 zurück: Durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I Seite 1461) seien die Vorschriften über die Versicherungsfreiheit der Studenten in der Rentenversicherung mit Wirkung ab 1. Oktober 1996 aufgehoben worden. Gleichzeitig sei aber für bestehende Beschäftigungsverhältnisse eine "Besitzstandsregelung" eingeführt worden. Die Besitzstandsregelung des § 230 Abs. 4 SGB VI sehe vor, dass Personen, die am 1. Oktober 1996 in einem Beschäftigungsverhältnis stünden und als ordentlich Studierende einer Fach- oder Hochschule rentenversicherungsfrei seien, in dieser Beschäftigung weiterhin rentenversicherungsfrei blieben. Damit gelte diese Besitzstandsregelung nur für Studenten, die bereits vor dem 1. Oktober 1996 einer Beschäftigung nachgegangen und aufgrund dieser Beschäftigung am 30. September 1996 nach § 5 Abs. 3 SGB VI a.F. rentenversicherungsfrei gewesen seien.

4

Die Arbeitsleistung des Beigeladenen zu 1 im Jahr 1996 sei im November erfolgt und habe dann wieder am 3. Februar 1997 stattgefunden. Die letzte Arbeitsleistung des Beigeladenen zu 2 im Jahr 1996 sei im Juli erfolgt und habe dann erst wieder am 1. März 1997 begonnen. Sie, die Beklagte, gehe davon aus, dass es sich dann um ein bereits vor dem 1. Oktober 1996 bestandenes Beschäftigungsverhältnis bei dem gleichen Arbeitgeber gehandelt habe, wenn nach dem 30. September 1996 in der Regel in jedem Kalendermonat mindestens ein Arbeitseinsatz erfolgt sei. Dies treffe für die Beigeladenen nicht zu. Damit werde Rentenversicherungspflicht ausgelöst. Die Nachforderung der Beiträge für die Zeit ab 1. März 1997 und 3. Februar 1997 sei zu Recht erfolgt.

5

Die Klägerin hat hiergegen am 4. August 1998 Klage vor dem Sozialgericht Braunschweig (SG) erhoben. Sie ist der Ansicht, die Nachforderung der Rentenversicherungsbeiträge für die Beigeladenen sei nicht begründet. Denn die Beigeladenen hätten nicht in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden. Sie wären bei ihr auf Dauer beschäftigt gewesen. Die Unterbrechungen der Beschäftigungsverhältnisse stünden der "Besitzstandsregelung" des § 230 Abs. 4 SGB VI nicht entgegen. Die Unterbrechungen seien jeweils nur von verhältnismäßig kurzer Dauer gewesen. Die Beklagte hat im erstinstanzlichen Verfahren Aufstellungen über die Beschäftigungsmonate der Beigeladenen für die Jahre 1989 bis 1997 vorgelegt.

6

Das SG hat der Klage mit Urteil vom 22. Januar 2002 stattgegeben und den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufgehoben. Nach der Übergangsvorschrift des § 230 Abs. 4 SGB VI, die hier zur Anwendung komme, seien die streitigen Beschäftigungen als versicherungsfrei zu beurteilen. Die Rechtsauslegung der Beklagten finde im Gesetz keine Stütze. Es lasse sich dem Gesetz nicht entnehmen, dass ein studentisches Beschäftigungsverhältnis dann als beendet angesehen werden müsse, wenn über einen Zeitraum von mehr als einem Monat kein Arbeitseinsatz erfolgt sei. Allenfalls könne von einer Unterbrechung gesprochen werden. Eine Unterbrechung stehe jedoch der Fortdauer eines Beschäftigungsverhältnisses nicht entgegen.

7

Gegen dieses ihr am 6. Februar 2002 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 14. Februar 2002 Berufung vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) eingelegt. Sie ist der Ansicht, das SG habe die Übergangsvorschrift des § 230 Abs. 4 SGB VI im vorliegenden Fall zu Unrecht angewandt. Das SG habe im übrigen nicht ausreichend geklärt, unter welchen Voraussetzungen die Unterbrechung eines Beschäftigungsverhältnisses unschädlich sei.

8

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 22. Januar 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

9

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

10

Das erstinstanzliche Gericht habe richtig ausgeführt, dass die Rechtsauslegung der Beklagten im Gesetz keine Stütze finde. Die Beigeladenen hätten vor Aufnahme ihres Studiums in einem Arbeitsverhältnis zur Klägerin gestanden. Mit Aufnahme des Studiums, lange vor dem 30. September/1. Oktober 1996, seien zwischen der Klägerin und den Beigeladenen Arbeitsverträge dahingehend geschlossen worden, dass diese während der gesamten Dauer ihres Studiums weiterhin je nach eigener Zeitdisposition tätig sein sollten. Entsprechend sei bis zur Beendigung des Studiums der Beigeladenen im August 1998 bzw. Juli 1999 verfahren worden. Da das Studium und die Beschäftigungsverhältnisse der Beigeladenen zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung angedauert hätten, greife die Besitzstandsregelung des § 230 Abs. 4 SGB VI ein.

11

Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.

12

Die Beigeladenen sind im Rahmen eines Erörterungstermins vor dem Berichterstatter des Senats am 26. Mai 2004 persönlich gehört worden. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift vom 26. Mai 2004 Bezug genommen.

13

Auf Anforderung des Senats hat die Klägerin Aufstellungen über die geleisteten Arbeitsstunden der Beigeladenen zu 1 und 2 während der Beschäftigungsmonate vorgelegt.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Prozessakten des ersten und zweiten Rechtzuges und der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

15

Die zulässige Berufung ist begründet.

16

Das Urteil des SG ist aufzuheben. Denn der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 30. März 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 1998 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat die geforderten Beiträge zur Rentenversicherung für die Beigeladenen nach zu entrichten. Der Beigeladene zu 1 stand für die von der Beklagten festgestellte Dauer ab dem 3. Februar 1997 und der Beigeladene zu 2 für die von der Beklagten festgestellte Dauer ab dem 1. März 1997 in einem rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis zu der Klägerin. Entgegen der Auffassung der Klägerin waren die Beigeladenen ab 3. Februar 1997 bzw. 1. März 1997 nicht nach § 230 Abs. 4 Satz 1 SGB VI versicherungsfrei.

17

Nach § 230 Abs. 4 SGB VI in der ab 1. Oktober 1996 geltenden Fassung bleiben "Personen, die am 1. Oktober 1996 in einer Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit als ordentliche Studierende einer Fachschule oder Hochschule versicherungsfrei waren ... , in dieser Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit versicherungsfrei. Sie können jedoch beantragen, dass die Versicherungsfreiheit endet". Soweit § 230 Abs. 4 Satz 1 SGB VI darauf abstellt, dass die Fortgeltung des Werkstudentenprivilegs nur für Personen gilt, die am 1. Oktober 1996, also nach dem Außer-Kraft-Treten des § 5 Abs. 3 SGB VI, nach einer Beschäftigung als ordentliche Studierende versicherungsfrei waren, handelt es sich um ein Redaktionsversehen. Maßgeblicher Stichtag ist der 30. September 1996 (vgl. BSG, Urteil v. 22. Mai 2003 - B 12 KR 24/02 R = SGb 2003, 398 unter Hinweis auf Grintsch in Kreikebohm, Kommentar zum SGB VI, 2. Aufl. 2003, § 230 Rdnr. 14).

18

Zwar stimmt der Senat der Klägerin darin zu, dass die Beigeladenen in ihren Beschäftigungen bei der Klägerin vor dem 1. Oktober 1996 als Studierende versicherungsfrei waren. Für die Zeit ab dem 3. Februar 1997 (Beigeladener zu 1) bzw. dem 1. März 1997 (Beigeladener zu 2) bestand jedoch keine Versicherungsfreiheit zur Rentenversicherung mehr.

19

§ 230 Abs. 4 SGB VI ist eine Übergangsvorschrift zu dem mit Wirkung vom 1. Oktober 1996 gestrichenen Werkstudentenprivileg des § 5 Abs. 3 SGB VI (vgl. Bundestagsdrucksache 13/4610, S. 25 zu Nr. 27 - § 230 des Entwurfs). Sie setzt für die Fortdauer der Versicherungsfreiheit voraus, dass der betroffene Student am 1. Oktober 1996 in einer fortdauernden Beschäftigung stand. Das war bei den Beigeladenen nicht der Fall.

20

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. § 230 Abs. 4 Satz 1 SGB VI enthält damit auch eine arbeitsrechtliche Komponente und setzt voraus, dass ein Arbeitsverhältnis fortbesteht. Der Senat lässt die Frage offen, ob das im vorliegenden Fall zu bejahen ist. Selbst wenn über den 30. September 1996 hinaus Arbeitsverhältnisse der Klägerin mit den Beigeladenen bestanden haben sollten, lagen jedoch keine fortdauernden Beschäftigungsverhältnisse i.S.d. § 230 Abs. 4 Satz 1 SGB VI vor.

21

Eine Beschäftigung i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV liegt grundsätzlich nur vor, wenn tatsächlich Arbeit verrichtet wird. Zur Beschäftigung gehört grundsätzlich die tatsächliche Arbeitsausübung (BSGE 68, 236, 240). Von diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung Ausnahmen anerkannt. Wird tatsächlich keine Arbeit verrichtet, kann gleichwohl das Beschäftigungsverhältnis andauern, wenn und solange das Arbeitsverhältnis fortbesteht und Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Willen haben, das Beschäftigungsverhältnis fortzusetzen. Deshalb hat die Rechtsprechung den Fortbestand eines Beschäftigungsverhältnisses nicht nur bei bezahltem Urlaub, Krankheit oder bezahlter Freistellung von der Arbeit bejaht, sondern auch bei unbezahltem Urlaub und bei Streik, sofern diese Unterbrechungen von begrenzter Dauer waren (BSG a.a.O.). Als zeitliche Höchstgrenze wurde insoweit früher ein Zeitraum von drei Wochen angesehen (BSGE 20, 156). Hieran knüpfte die weitere Rechtsentwicklung an. Im Bereich der Arbeitsförderung wurden Unterbrechungen des Beschäftigungsverhältnisses von vier Wochen als unschädlich angesehen (§ 104 Abs. 1 Satz 3 Arbeitsförderungsgesetz - AfG - in der bis zum 31. Dezember 1997 geltenden Fassung). Im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung wurde ein Monat festgelegt (§ 192 Abs. 1 Nr. 1 SGB V in der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung). Seit dem 1. Januar 1999 enthält § 7 Abs. 3 SGB IV nunmehr eine übergreifende Regelung für alle Sozialversicherungszweige. Danach gilt eine Beschäftigung als fortbestehend, solange das Arbeitsverhältnis ohne Anspruch auf Arbeitsentgelt fortdauert, jedoch nicht länger als einen Monat.

22

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Auffassung der Beklagten im Ergebnis nicht zu beanstanden. Sie ist davon ausgegangen, dass ein Beschäftigungsverhältnis bei dem gleichen Arbeitgeber nur dann unter die Übergangsvorschrift des § 230 Abs. 4 SGB VI zu subsumieren ist, wenn nach dem 30. September 1996 in der Regel in jedem Kalendermonat mindestens ein Arbeitseinsatz erfolgt. Dieses trifft auf die Beigeladenen nicht zu.

23

Nach den unbestrittenen Angaben der Klägerin arbeitete der Beigeladene zu 1 bei ihr bis zum Stichtag (am 30. September 1996) zuletzt im September 1996 mit 175,05 Arbeitsstunden. Danach arbeitet er bei der Klägerin erst wieder im November 1996, und zwar mit lediglich 7,5 Arbeitsstunden (vgl. die Aufstellung Bl. 107 GA). Im gesamten Oktober und überwiegend auch im November 1996 erfolgte also kein Arbeitseinsatz. Der Beigeladene zu 1 nahm die Arbeit bei der Klägerin danach erst im Februar 1997 mit 189,80 Arbeitsstunden wieder auf. Das Beschäftigungsverhältnis war somit für mehr als einen Kalendermonat unterbrochen.

24

Der Beigeladene zu 2 arbeitete im Jahre 1996 bei der Klägerin zuletzt im Juli (mit 65,65 Arbeitsstunden). Danach war er erst wieder im Januar 1997 mit 14,5 Arbeitsstunden für die Klägerin tätig (vgl. die Aufstellung Bl. 109, 110 GA).

25

Die Beigeladenen haben also für mehr als einen Monat nach dem Stichtag des 30. September 1996 nicht bei der Klägerin gearbeitet. Ungeachtet der Frage, ob die Arbeitsverhältnisse fortbestanden haben, fehlt es damit mangels tatsächlicher fortdauernder Arbeitsverrichtung an einem Fortbestand der Beschäftigungsverhältnisse. Die Voraussetzungen der Übergangsregelung des § 230 Abs. 4 Satz 1 SGB VI liegen daher weder für den Beigeladenen zu 1 noch für den Beigeladenen zu 2 vor.

26

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

27

Gründe für die Zulassung der Revision haben nicht vorgelegen (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).