Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 05.10.2005, Az.: L 8 AS 48/05 ER
Einbeziehung von eheähnlichen Gemeinschaften in den Begriff der Bedarfsgemeinschaft; Zulässigkeit einer Berücksichtigung gepfändeten Einkommens als verfügbares Einkommen; Bedeutung der Verfügbarkeit des Antragstellers über das von ihm erzielte Einkommen
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 05.10.2005
- Aktenzeichen
- L 8 AS 48/05 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 28002
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2005:1005.L8AS48.05ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 18.02.2005 - AZ: S 19 AS 16/05 ER
Rechtsgrundlagen
- § 86b Abs. 2 SGG
- § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst.b SGB II
- § 7 Abs. 3 Buchst.b SGB II
- § 9 Abs. 2 SGB II
- § 11 SGB II
- § 12 SGB II
Fundstelle
- info also 2007, 41 (Kurzinformation)
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Die Einbeziehung von eheähnlichen heterosexuellen Gemeinschaften in den Begriff der Bedarfsgemeinschaft ist auch vor dem Hintergrund der Nichteinbeziehung der homosexuellen nicht verheirateten Partner verfassungsgemäß.
- 2.
Einkommen, welches im Hinblick auf vorliegende Titel zur freiwilligen Schuldentilgung verwandt wird, darf bis zur Pfändungsfreigrenze des § 850c ZPO als Einkommen gemäß § 11 Abs. 1 SGB II nicht berücksichtigt werden.
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 18. Februar 2005 geändert.
Die Antragsgegnerin wird im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, den Antragstellern vorläufig - unter dem Vorbehalt der Rückforderung - Geldleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit von Februar bis Juni 2005 in monatlicher Höhe von jeweils 11,00 Euro zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.
Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für das Beschwerdeverfahren bewilligt und Rechtsanwalt E. F., G., H. beigeordnet.
Gründe
I.
Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Braunschweig vom 18. Februar 2005 ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; insoweit haben die Antragsteller den für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nötigen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Im Übrigen bleibt die Beschwerde ohne Erfolg und ist daher zurückzuweisen.
Die Antragsteller leben in eheähnlicher Gemeinschaft gemäß § 7 Abs. 3b SGB II. Gegenstand des Rechtsstreits ist im Wesentlichen die Frage, ob und inwieweit das Einkommen des Antragstellers zu 2), der erwerbstätig ist, mit zu berücksichtigen ist. Der Antragsteller zu 2) verweist im Wesentlichen darauf, dass ihn aus früherer (selbstständiger) Tätigkeit erhebliche Schulden belasten. Die Gläubiger hätten durchweg Titel erwirkt, worauf er - der Antragsteller zu 2) - freiwillig Tilgungszahlungen leiste (monatlich 524,53 Euro). Der Träger der Sozialhilfe habe diese Tilgungsleistungen einkommensmindernd berücksichtigt.
Die Antragsgegnerin hat den Antrag der Antragsteller auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II mit Bescheid vom 14. Dezember 2004 abgelehnt, weil das zu berücksichtigende Einkommen der Antragsteller deren Bedarf übersteige. Dagegen haben sich die Antragsteller mit Widerspruch und einem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vom 3. Februar 2005 beim SG Braunschweig gewandt. Hierzu haben sie nochmals vorgetragen, dass der Antragsteller zu 2) auf die vorliegenden Titel freiwillige Tilgungszahlungen leiste. Diese müssten einkommensmindernd berücksichtigt werden. Die Antragstellerin zu 1) habe im Monat Januar 2005 aus einer Erwerbstätigkeit bis Dezember 2004 einen Betrag von 713,61 Euro erhalten. Für den Januar bestehe daher kein Bedarf. Dieser bestehe unter Berücksichtigung der Tilgungsleistungen für die Zeit ab Februar 2005.
Das SG hat den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 18. Februar 2005 abgelehnt. Die Tilgungsleistungen des Antragstellers zu 2) in monatlicher Höhe von 524,53 Euro könnten einkommensmindernd nicht berücksichtigt werden, weil § 11 SGB II die Absetzung von Tilgungszahlungen nicht vorsähe.
Gegen den ihnen am 24. Februar 2005 zugestellten Beschluss haben die Antragsteller am 21. März 2005 Beschwerde eingelegt. Sie rügen noch eine Benachteiligung von eheähnlichen Gemeinschaften. Weiter hat der Antragsteller zu 2) eine Aufstellung über die vorliegenden Titel und seine freiwilligen Tilgungszahlungen vorgelegt.
Bei dieser Sachlage haben die Antragsteller den für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung notwendigen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang glaubhaft gemacht. Sie haben Anspruch darauf, dass das Erwerbseinkommen des Antragstellers zu 2), welches über der Pfändungsfreigrenze des § 850c Zivilprozessordnung (ZPO) liegt, bei der Einkommensanrechnung nicht berücksichtigt wird. Das unterhalb der Pfändungsfreigrenze liegende Erwerbseinkommen ist als einsetzbares Einkommen gemäß § 11 Abs. 1 SGB II bedarfsmindernd zu berücksichtigen.
Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz richtet sich nach § 86b Abs. 2 SGG. Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte; einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Einschlägig ist letztgenannte Möglichkeit, also eine Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile. Sie entspricht der Regelungsanordnung des § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Eine derartige Regelungsanordnung kann das Gericht erlassen, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 ZPO, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und dass der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche, in § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG näher gekennzeichnete Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund).
Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund im oben dargestellten Umfang glaubhaft gemacht. Daher war der Beschluss des SG zu ändern und eine vorläufige Verpflichtung zur Leistungsgewährung ab Eingang des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht bis Juni 2005 auszusprechen. Das Ende wird begrenzt durch den regelmäßigen sechsmonatigen Bewilligungszeitraum des § 41 Abs. 1 Satz 3 SGB II, hier gerechnet ab Januar 2005, dem frühestmöglichen Zahlungsbeginn nach dem SGB II.
Die Antragsteller sind als erwerbsfähige Hilfebedürftige anspruchsberechtigt auf das Arbeitslosengeld (Alg) II gemäß § 19 SGB II.
Nach § 7 Abs. 3 Nr. 3b SGB II gehört der Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft zur Bedarfsgemeinschaft. Dementsprechend ist sein Einkommen und Vermögen gemäß §§ 9 Abs. 2, 11, 12 SGB II vor der Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II anzurechnen.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Einbeziehung von eheähnlichen Gemeinschaften in den Begriff der Bedarfsgemeinschaft gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 3b SGB II bestehen nicht. Der Senat teilt nicht die Auffassung des SG Düsseldorf, das eine Berücksichtigung von Einkommen des eheähnlichen Partners bei heterosexuellen nicht verheirateten Partnern, nicht aber bei homosexuellen nicht verheirateten Partnern, gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Grundgesetz (GG) verstößt. Selbst wenn derartige Bedenken angenommen werden sollten, sieht der Senat keine Möglichkeit, im Wege vorläufigen Rechtsschutzes § 7 Abs. 3 Nr. 3b SGB II außer Kraft zu setzen und den Mitgliedern von heterosexuellen eheähnlichen Lebensgemeinschaften Leistungen zuzusprechen. Denn der Gesetzgeber könnte sich genauso dafür entscheiden, auch die homosexuellen nicht eingetragenen Partnerschaften den Bedarfsgemeinschaften zuzurechnen (ständige Rechtsprechung des Senats, siehe z.B. Beschluss vom 30.05.2005 - L 8 AS 95/05 ER -; siehe auch LSG Hamburg, Beschluss vom 11.04.2005 - L 5 B 59/05 ER AS - FEVS 56, S. 410).
Der Schwerpunkt des Rechtsstreits liegt daher auf der Frage, ob und inwieweit das Erwerbseinkommen des Antragstellers zu 2), welches er für freiwillige Tilgungszahlungen einsetzt, als Einkommen nach § 11 Abs. 1 SGB II zu berücksichtigen ist. Diese Frage ist dahin zu beantworten, dass Einkommen, welches im Hinblick auf vorliegende Titel zur freiwilligen Schuldentilgung verwandt wird, bis zur Pfändungsfreigrenze des § 850c ZPO als Einkommen gemäß § 11 Abs. 1 SGB II nicht berücksichtigt werden darf.
Zwischen den Prozessbeteiligten ist unstreitig und ergibt sich auch aus den vorliegenden Unterlagen, dass der gesamte monatliche Bedarf der Bedarfsgemeinschaft 950,76 Euro beträgt. Das ergibt sich aus der nicht zu beanstandenden Berechnung im Bescheid vom 14. Dezember 2004 und zusätzlich aus dem Widerspruchsbescheid vom 23. März 2005. Das monatliche Nettoeinkommen des Antragstellers zu 2) beträgt 1.390,00 Euro. Unter Berücksichtigung der vom Antragsteller zu 2) selber geltend gemachten Absetzungen (Werbungskostenpauschale 30,00 Euro, Fahrkosten 150,00 Euro, Freibetrag 165,16 Euro) ergibt sich ein Einkommen von 1.044,84 Euro, welches über dem Bedarf von 950,76 Euro liegt. Hierbei sind die freiwilligen Tilgungszahlungen nicht berücksichtigt.
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld- oder Geldeswert. Grundvoraussetzung für den Einkommenseinsatz ist die Verfügbarkeit des Antragstellers über das von ihm erzielte Einkommen. An dieser tatsächlichen Verfügbarkeit fehlt es insbesondere bei gepfändetem Einkommen. Bei dieser Fallgestaltung bekäme ein Anspruchsteller dieses Einkommen nicht zu seinen Händen, es wird bei Erwerbseinkommen im Wege der Pfändung sogleich an den Gläubiger ausgekehrt. Deshalb wurde unter Geltung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) gepfändetes Einkommen grundsätzlich nicht als verfügbares Einkommen bedarfsmindernd berücksichtigt (vgl. Brühl in Lehr- und Praxiskommentar - SGB XII - 7. Auflage 2005, Rdnr. 35 f). Entsprechendes muss für die Bedarfssituation nach dem SGB II gelten. Denn auch hier bekäme der Anspruchsteller das erarbeitete Entgelt nicht zu seinen Händen. Er hat es daher tatsächlich nicht zur Verfügung und kann es zur Bestreitung seines Lebensunterhalts nicht einsetzen (vgl. Hasske in Estelmann, Kommentar zum SGB II, Loseblattsammlung, § 11 Rdnr. 14).
Zwar liegen hier Pfändungen nicht vor. Vielmehr zahlt der Antragsteller zu 2) freiwillig Tilgungszahlungen auf die vorliegenden Titel. Dieser Sachverhalt ist einer Pfändung gleichzustellen. Denn bei einer titulierten Forderung kann der Gläubiger sofort auf eine Pfändung übergehen, wenn der Schuldner - hier der Antragsteller zu 2) - die freiwilligen Zahlungen nicht fortsetzt (vgl. Hasske, a.a.O.; Brühl, a.a.O., Rdnr. 36). Allerdings können die freiwilligen Zahlungen auf die titulierten Forderungen nur in dem Umfang berücksichtigt werden, wie sie den unpfändbaren Betrag nach § 850c ZPO nicht unterschreiten. Denn es ist einem hilfesuchenden Schuldner zuzumuten, Zahlungen auf begründete Gläubigeransprüche nur insoweit zu erbringen, als ihm sein Existenzminimum verbleibt, also bis zur Pfändungsfreigrenze des § 850c ZPO, weil auch nur insoweit eine Pfändung erfolgen könnte.
Bis Ende Juni 2005 galten die Pfändungsfreigrenzen, wie sie durch das 7. Gesetz zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen (vom 13.12.2001, BGBl I, S. 3638) eingeführt wurden. Da der Antragsteller zu 2) keine gesetzliche Verpflichtung zur Unterhaltsleistung hat, ist sein Arbeitseinkommen ab einem Betrag von 940,00 Euro monatlich pfändbar (siehe Anlage zu § 850c ZPO). Dies bedeutet, dass der Antragsteller zu 2) den darunter liegenden Betrag zur Bestreitung des Lebensunterhalts der Bedarfsgemeinschaft einzusetzen hat. Da der monatliche Bedarf für die hier streitige Zeit von Februar bis Juni 2005 950,76 Euro beträgt, verbleibt ein offener monatlicher Bedarf von 10,76 Euro, gemäß § 41 Abs. 2 SGB II gerundet monatlich 11,00 Euro. Der Gesamtbetrag beträgt daher für die Monate Februar bis Juni 2005 55,00 Euro.
Insoweit liegt auch ein Anordnungsgrund vor, weil es sich um notwendige Leistungen für den Lebensunterhalt handelt. Soweit die vollständige Berücksichtigung der freiwilligen Tilgungszahlungen begehrt wird, ist die Beschwerde aus den oben genannten Gründen erfolglos.
Die Frage der Übernahme von Krankenversicherungsbeiträgen für die Antragstellerin zu 1), soweit sie überhaupt Streitgegenstand sein sollte, stellt sich aufgrund dieses Beschlusses nicht mehr. Denn als Bezieherin von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II ist die Antragstellerin zu 1) gesetzlich kranken- und pflegeversichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V, § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB XI und § 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VI).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Bei dem teilweisen Obsiegen beziehungsweise Unterliegen der Antragsteller sowie der Antragsgegnerin entspricht die ausgesprochene Kostenverteilung der Billigkeit.
Aus den obigen Ausführungen ergibt sich zugleich, dass für das Begehren der Antragsteller hinreichende Erfolgsaussichten bestehen, § 73a SGG in Verbindung mit § 114 ZPO, so dass Prozesskostenhilfe zu bewilligen war. Die wirtschaftlichen Verhältnisse stehen der Bewilligung nicht entgegen, da die Antragsteller - wie oben dargelegt - für die hier streitige Zeit Teilleistungen nach dem SGB II erhalten und somit prozesskostenarm sind.
Die Beiordnung des Rechtsanwalts beruht auf § 121 Abs. 2 ZPO.
Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.