Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 27.11.2008, Az.: 5 U 106/08
Richtiger Gerichtsstand bei der Inanspruchnahme eines polnischen Versicherungsunternehmens auf Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 27.11.2008
- Aktenzeichen
- 5 U 106/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 32932
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2008:1127.5U106.08.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - 09.07.2008
Rechtsgrundlagen
- Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) EuGVVO
- Art. 11 Abs. 2 EuGVVO
- § 116 SGB X
Fundstellen
- AnwBl 2009, 244-245
- AnwBl 2009, 156-157
- OLGR Celle 2009, 680-681
- VRR 2009, 303
- VRR 2011, 249
- VersR 2009, 1426
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 9. Juli 2008 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer/Einzelrichter des Landgerichts Lüneburg wird zugewiesen.
Der Klägerin fallen die Kosten des Berufungsverfahrens zur Last.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte Sicherheit in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin, eine Krankenversicherin mit Sitz im Bezirk des angerufenen Landgerichts, nimmt aus übergegangenem Recht die Beklagte, ein polnisches Versicherungsunternehmen, auf Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 12. Juli 2004 in Polen ereignete.
An dem Unfall beteiligt war der bei der Klägerin krankenversicherte ... und Herr Y, der einen bei der Beklagten haftpflichtversicherten Lkw führte. Bei dem Verkehrsunfall wurde der Versicherte der Klägerin schwer verletzt, Herr V ... verstarb. Die Klägerin leistete als Trägerin der Krankenversicherung Krankengeld, Beiträge zur Rentenversicherung, Pflegeversicherung, Arbeitslosenversicherung und zur Krankenversicherung sowie ärztliche Behandlungskosten. Auf Erstattung dieser Kosten nimmt die Klägerin die Beklagte in Anspruch.
Die Klägerin meint, zuständig sei das angerufene Landgericht Lüneburg, jedenfalls aber das Landgericht Itzehoe als Wohnsitzgericht ihres geschädigten Versicherungsnehmers. Die Entscheidung der 2. Kammer des Europäischen Gerichtshofes vom 13. Dezember 2007 (VersR 2008, 111 ff.), nach der der Geschädigte vor dem Gericht des Ortes in einem Mitgliedsstaat, in dem er seinen Wohnsitz habe, eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben könne, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates habe, gelte auch für die Klägerin, auf die Ansprüche des Geschädigten durch Legalzession übergegangen seien.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 16.472,47 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10. März 2008 zu zahlen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das Landgericht Itzehoe abzugeben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Auffassung, für die vorliegende Klage sei ein Gerichtsstand in Deutschland nicht gegeben. Die von der Klägerin zitierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes beziehe sich ausschließlich auf den Geschädigten.
Im Übrigen erhebt sie den Einwand doppelter Rechtshängigkeit im Hinblick auf das von dem Versicherungsnehmer der Klägerin angestrengte eigene Klagverfahren in Polen. Zudem gewähre das polnische Recht keine Direktklage des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer.
Das Landgericht hat die Klage als unzulässig abgewiesen und dazu ausgeführt, entgegen der Auffassung der Klägerin begründe Art. 11 Abs. 2 EuGVVO i.V.m. Art. 9 Abs. 1 b EuGVVO keine Zuständigkeit des angerufenen Landgerichts. Die Klägerin sei nicht als Geschädigte im Sinne dieser Vorschriften anzusehen. Die Klägerin befinde sich nicht in einer Situation, die eine Ausnahme von der Grundregel des Art. 2 Abs. 1 EuGVVO rechtfertige.
Wegen der Einzelheiten wird auf das angefochtene Urteil (Bl. 118 ff.) Bezug genommen.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie ihren erstinstanzlichen Klagantrag weiter verfolgt.
Sie ist der Auffassung, auch zu ihren Gunsten begründeten die genannten Vorschriften in der Auslegung, die sie durch den Europäischen Gerichtshof erlangt hätten, einen Gerichtsstand in Deutschland. Nach dem EU-Beitritt Polens sei der Forderungsübergang gem. § 116 SGB X auch von Polen anzuerkennen.
Die Klägerin beantragt,
- 1.
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen;
- 2.
im Falle einer eigenen Sachentscheidung des Berufungsgerichts abändernd die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 16.472,47 Euro nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 10. März 2008 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung, ergänzt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Die Klägerin sei nicht als "schwächere Partei" anzusehen, deren Schutz Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) EuGVVO bezwecke.
Zudem sei die Klägerin nicht aktivlegitimiert. Die Beklagte ist der Auffassung, die Frage des Forderungsüberganges bemesse sich nach polnischem Recht. Sie behauptet, dieses gestehe einem Sozialversicherer kein Regressrecht zu.
Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die Schriftsätze und Anlagen der Parteien Bezug genommen.
Gründe
II.
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg. Das Landgericht hat die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen, denn für die Klage ist ein Gerichtsstand in Deutschland nicht begründet.
Das Landgericht hat zutreffend ausgeführt, dass das Gericht nicht nach Art. 11 Abs. 2 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) EuGVVO zuständig ist. Die Klägerin, auf die nach § 116 SGB X der Anspruch des Versicherten übergegangen ist, ist nicht "Geschädigte" i. S. dieser Vorschrift. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Ausführungen in dem landgerichtlichen Urteil Bezug genommen; der Senat tritt diesen Erwägungen bei.
Der Senat teilt die Auffassung des Landgerichts, dass der Grundsatz, Gerichtsstand sei der Wohnort des Beklagten, nur in den enumerativ genannten Fällen der Abschnitte 2 bis 7 durchbrochen wird und der hier vorliegende Fall nicht unter Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) EuGVVO fällt. Ausnahmeregelungen sind eng auszulegen. Eine Erweiterung des Gerichtsstandes von dem Geschädigten auf den hinter diesem stehenden Zessionar wird weder vom Wortlaut noch vom Zweck der Vorschrift oder von der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 13. Dezember 2007 gedeckt. Dies ergibt sich insbesondere aus den Erwägungsgründen dieser Verordnung (Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000). Nach § 11 der Erwägungen müssen "die Zuständigkeitsvorschriften (...) in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten, und diese Zuständigkeit muss stets gegeben sein, außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstandes oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist". Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten müsse "durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege" zuzulassen seien. Da sich der Unfall in Polen ereignet hat, sind die Gerichte in Deutschland dem Streitgegenstand nicht sachnäher und es ist nicht ersichtlich, dass ein Gerichtsstand in Deutschland im Sinne einer geordneten Rechtspflege zuzulassen wäre. Die Klägerin bedarf des Schutzes der schwächeren Partei (Abs. 13 der Erwägungsgründe) nicht. Würde Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) EuGVVO einen weiteren Gerichtsstand in Deutschland eröffnen, vervielfältigte sich zudem die Gefahr von Parallelverfahren, die gem. Abs. 15 der Erwägungsgründe der Verordnung vermieden werden sollen.
In anderen - vergleichbaren - Fällen hat der Europäische Gerichtshof ebenfalls dem Zessionar das Recht abgesprochen, an einem für den Zedenten geltenden Gerichtsstand zu klagen (Staat als Zessionar in Unterhaltssachen EuGHE 2004, I 981; Verbraucherschutzverband EuGHE 1993 I, 139 ff.). Dies gilt entsprechend für Klagen der Sozialversicherungsträger (siehe Staudinger, Rechtsschutzraum Europa: Anwalt im Zivilrecht, DAR 2008, 620 ff.)
Der Senat teilt die Auffassung, dass ein Gerichtsstand in Deutschland für Klagen der vorliegenden Art nicht über eine Auslegung des Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) EuGVVO dahin begründet werden kann, dass der Gerichtsstand des Geschädigten auch für den Sozialversicherungsträger gilt, auf den Ansprüche im Wege der Legalzession übergegangen sind.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Frage der internationalen Zuständigkeit hat der Senat die Revision zugelassen, § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbar auf § 708 Nr. 10, §§ 711, 709 S. 2 ZPO.