Landessozialgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.02.2002, Az.: L 10 LW 36/01

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung einer Widerspruchsfrist nach § 67 Sozialgerichtsgesetz (SGG); Zustellung mit PZU an volljährigen Sohn; Vorsorge für Kenntniserlangung von wichtigen Posteingängen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
27.02.2002
Aktenzeichen
L 10 LW 36/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 41599
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2002:0227.L10LW36.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 26.10.2001 - AZ: S 37 LW 8/00

Prozessführer

A.

Prozessgegner

Landwirtschaftliche Alterskasse Berlin, vertreten durch den Geschäftsführer, Hoppegartener Straße 100, 15366 Hönow

hat der 10. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle

am 27. Februar 2002

gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG)

durch

den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht B.,

den Richter am Landessozialgericht C. und

den Richter am Landessozialgericht D.

beschlossen:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 26. Oktober 2001 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I.

Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Der Senat hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich. Die Entscheidung über die Berufung konnte deshalb gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss ergehen.

2

II.

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin wegen Versäumung einer Widerspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.

3

Die Klägerin ist Ehefrau des Landwirts E. und war als solche von Januar 1995 bis Juni 1997 selbst gemäß § 1 Abs. 3 Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) versicherungspflichtige Landwirtin (Bescheid der Beklagten vom 9. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 1999).

4

Mit Bescheid vom 15. September 1999 nahm die Beklagte die Klägerin gemäß § 70 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz ALG auf Zahlung von Beitragsrückständen ihres Ehemannes in Höhe von 5.522,50 DM in Anspruch. Dieser Bescheid wurde der Klägerin mit Postzustellungsurkunde (PZU) am 29. September 1999 zu Händen ihres 1965 geborenen Sohnes F. zugestellt, der unter derselben Adresse wohnhaft war wie die Klägerin. Mit Schreiben vom 8. Dezember 1999, aufgegeben bei der Post am 9. Dezember 1999 und der Beklagten zugegangen am 13. Dezember 1999, legte die Klägerin gegen den Bescheid Widerspruch ein, den sie damit begründete, dass sie von ihrem Ehemann seit 1992 getrennt lebe. Im Übrigen gab sie an, dass sie sich im Urlaub befunden habe und der Bescheid sie deshalb erst am 15. November 1999 erreicht habe. Mit weiterem Schreiben vom 10. Januar 2000 trug die Klägerin ergänzend vor, sich vom 10. September bis 10. November 1999 auf einer Verwandtenreise befunden zu haben. Ihr Sohn öffne an sie gerichtete Briefe grundsätzlich nicht. Mit Widerspruchsbescheid vom 25. September 2000 verwarf die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unzulässig. In den Gründen führte sie aus, dass der Widerspruch erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist eingelegt worden sei, und dass die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gegeben seien.

5

Im nachfolgenden Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) die Klage mit Urteil vom 26. Oktober 2001 zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es darauf hingewiesen, dass die Klägerin nicht ohne Verschulden daran gehindert gewesen sei, die Widerspruchsfrist einzuhalten. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne deshalb nicht gewährt werden.

6

Die Klägerin hat gegen das ihr mit am 14. November 2001 bei der Post aufgegebenen Übergabeeinscheiben zugestellte Urteil am 13. Dezember 2001 Berufung eingelegt. Sie meint, keinen Anlass gehabt zu haben, für die Zeit ihres Urlaubs dafür zu sorgen, dass Postsendungen der Beklagten an sie weitergeleitet würden. Sie habe seinerzeit keinen Brief der Beklagten erwartet.

7

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des SG Hannover vom 26. Oktober 2001 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2000 aufzuheben,

  2. 2.

    ihr wegen Versäumung der Frist zur Widerspruchseinlegung gegen den Bescheid der Beklagten vom 15. September 1999 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

8

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hannover vom 26. Oktober 2001 zurückzuweisen.

9

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

10

Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

11

Die Beteiligten sind mit Verfügung des Vorsitzenden vom 1. Februar 2002 darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtige, über die Berufung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG zu entscheiden. Sie haben insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt.

12

III.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Beklagte hat den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 15. September 1999 zutreffend als unzulässig verworfen. Der Klägerin ist im Hinblick auf die Versäumung der Widerspruchsfrist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG zu gewähren.

13

Der Widerspruch ist unzulässig, denn die Klägerin hat den Rechtsbehelf erst nach Ablauf der 1-Monats-Frist nach § 84 Abs. 1 SGG eingelegt. Die Widerspruchsfrist begann gemäß § 64 Abs. 1 SGG mit dem 30. September 1999, dem Tag nach Zustellung des Bescheides vom 15. September 1999. Die an diesem Tag mit PZU an den volljährigen Sohn der Klägerin bewirkte Zustellung ist wirksam gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Verbindung mit § 3 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) in Verbindung mit § 181 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO). Die Widerspruchsfrist nach § 84 Abs. 1 SGG lief damit am 29. Oktober 1999 um 24 Uhr ab. Daraus folgt ohne Weiteres, dass der am 9. Dezember 1999 abgesandte und bei der Beklagten am 13. Dezember 1999 eingegangene Widerspruch vom 8. Dezember 1999 verspätet und damit unzulässig ist.

14

Die Beklagte und das SG haben zu Recht davon abgesehen, der Klägerin wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Klägerin war nämlich auch nach Auffassung des erkennenden Senats nicht ohne Verschulden verhindert, die Widerspruchsfrist einzuhalten. Die Klägerin hätte vor Antritt ihrer zweimonatigen Urlaubsreise dafür Sorge tragen müssen, dass sie von wichtigen Posteingängen, insbesondere seitens der Beklagten, auch während ihrer Ortsabwesenheit Kenntnis erlangen konnte. Dass sie dies unterlassen hat, begründet den sie treffenden Sorgfaltsverstoß, der einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entgegensteht. Zwar entspricht es allgemeiner Auffassung, dass niemand verpflichtet ist, vor einer vorübergehenden Abwesenheit von Zuhause im Hinblick auf eine eventuelle Fristwahrung Vorsorge dafür zu tragen, sogleich von etwaigen Posteingängen Kenntnis zu erlangen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl., § 67 Rdnr. 7 mit Nachweisen). Dies gilt indes nicht, wenn der Betreffende länger ortsabwesend ist, und wenn er insbesondere damit rechnen muss, dass unter seiner Anschrift in dieser Zeit Post eingeht, die eine gesetzliche Frist in Lauf setzt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat klargestellt, dass eine insoweit unbedenkliche Ortsabwesenheit längstens sechs Wochen dauern dürfe (Beschluss vom 11. Februar 1976 -2 BvR 849/75 -abgedruckt in NJW 1976, 1537 [BVerfG 11.02.1976 - 2 BvR 849/75]). Diese Zeitspanne ist im vorliegenden Fall mit mehr als acht Wochen Abwesenheit deutlich überschritten. Die Klägerin musste darüber hinaus für die Zeit ihres Urlaubs auch durchaus mit einem Posteingang seitens der Beklagten rechnen. Dies betraf zwar nicht den ihr am 29. September 1999 zugestellten Bescheid, denn sie brauchte nicht damit zu rechnen, gemäß § 70 Abs. 1 SGG für Beitragsverbindlichkeiten ihres Ehemannes in Anspruch genommen zu werden. Zur Zeit ihres Urlaubsantritts lief indes noch das Widerspruchsverfahren, das die Klägerin mit ihrem Widerspruch gegen den Bescheid der Beklagten vom 9. Dezember 1998 betreffend ihre eigene Versicherungspflicht im Sinne von § 1 Abs. 3 ALG eingeleitet hatte. In diesem Zusammenhang waren ihr vor ihrem Urlaub eine Reihe von Schreiben der Beklagten zugegangen. Die Entscheidung über den Widerspruch selbst stand indes noch aus. Tatsächlich wurde ihr der diesbezügliche Widerspruchsbescheid vom 19. Oktober 1999 mit PZU am 22. Oktober 1999 durch Niederlegung zugestellt. Im Hinblick auf das laufende Widerspruchsverfahren war die Klägerin im eigenen Interesse gehalten, angesichts einer über acht Wochen andauernden Ortsabwesenheit dafür Sorge zu tragen, dass sie Kenntnis von Posteingängen der Beklagten erhielt. Sie hätte sich entsprechende Post beispielsweise durch ihren Sohn nachschicken lassen oder sich telefonisch Kenntnis über Postzustellungen verschaffen können. Hätte sie dies getan, wäre ihr der Bescheid der Beklagten vom 15. September 1999 bekannt geworden und sie wäre in der Lage gewesen, fristgerecht hiergegen Widerspruch einzulegen.

15

Soweit die Klägerin im Klageverfahren angegeben hat, vom 10. September bis 1. November 1999 ortsabwesend gewesen zu sein, geht der Senat davon aus, dass es sich insoweit bei dem zweiten Datum um einen Schreibfehler handelt. Selbst wenn diese Angabe jedoch richtig sein sollte, würde sich hieraus keine anderweitige Beurteilung der Rechtslage ergeben. Auch in diesem Fall wäre die Klägerin mehr als sechs Wochen ortsabwesend gewesen. Im Übrigen würde dann eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bereits daran scheitern, dass die Klägerin weder binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt noch Widerspruch eingelegt hätte, § 67 Abs. 2 SGG.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.