Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 02.02.2022, Az.: 2 Ws 26/22

Notwendigkeit eines Prognosegutachtens bei einer mehr als drei Jahre alten, freiheitsentziehenden Maßregel; Umgang mit seit drei Jahren nicht vollstreckten Maßregeln

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
02.02.2022
Aktenzeichen
2 Ws 26/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 12853
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2022:0202.2WS26.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Verden - 24.11.2021 - AZ: 1 Ks 101/18 - 1 AR 8/21

Fundstellen

  • NJW 2022, 2633
  • NStZ-RR 2022, 264
  • RPsych 2022, 400
  • StV 2022, 322-323
  • StraFo 2022, 166-167

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Ist eine freiheitsentziehende Maßregel drei Jahre nach Rechtskraft des Urteils nicht vollzogen worden, ist bei der nach § 67c Abs. 2 StGB vorzunehmenden Prüfung des weiteren Schicksals der Maßregel die Einholung eines Prognosegutachtens nicht obligatorisch.

  2. 2.

    Es besteht keine gesetzliche Grundlage, im Fall der Erledigung einer Maßregel, mit deren Vollzug drei Jahre nach Rechtskraft des Urteils noch nicht begonnen worden ist, eine Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung einer bislang ebenfalls noch nicht vollzogenen Begleitstrafe zu treffen.

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Verden vom 24. November 2021 wird als unzulässig verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Gründe

I.

Mit Urteil des Landgerichts Verden vom 19. März 2018 wurde gegen den Angeklagten wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung unter Einbeziehung einer Geldstrafe aus einer vorherigen Verurteilung eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und einem Monat verhängt. Daneben wurde unter anderem die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Das Urteil ist seit dem 4. April 2018 rechtskräftig. Der Verurteilte befand sich nach Rechtskraft der Entscheidung durchgehend auf freiem Fuß. Weder die Freiheitsstrafe noch die Unterbringung in der Entziehungsanstalt wurden bislang vollzogen. Im Hinblick auf die Maßregelanordnung stand bislang kein Therapieplatz zur Verfügung.

Mit der angefochtenen Entscheidung vom 24. November 2021 hat das Landgericht die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt für erledigt erklärt. Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen.

II.

1. Die statthafte (§ 463 Abs. 6 S. 1 i.V.m. § 462 Abs. 3 S. 1 StPO) sofortige Beschwerde ist bereits unzulässig. Dem Beschwerdeführer fehlt es an der erforderlichen Beschwer. Eine aus einer gerichtlichen Entscheidung folgende Beschwer muss stets objektiv vorhanden sein, darf also nicht lediglich nach der rein subjektiven Einschätzung des Beschwerdeführers bestehen. Es muss insbesondere durch den Tenor der Entscheidung zu einer unmittelbaren Beeinträchtigung der Rechte oder schutzwürdigen Interessen des Betroffenen kommen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, vor § 296 Rn. 9, 11 m.w.N.; L-R/Jesse, StPO, 26. Aufl. 2014, vor § 296 ff., Rn. 51). Gemessen daran ist der Beschwerdeführer durch die angefochtene Entscheidung nicht beschwert. Soweit er seine Beschwer in der noch zu vollstreckenden Freiheitsstrafe erblickt, hat diese ihre Grundlage nicht in der angefochtenen Entscheidung vom 24. November 2021, sondern im rechtskräftigen Urteil des Landgerichts vom 19. März 2018. Auch der Beschwerdeführer selbst hat sie nicht - etwa durch entsprechende Antragstellung - zum Gegenstand des Entscheidungsausspruchs gemacht. Der in der angefochtenen Entscheidung allein tenorierte Wegfall der Unterbringungsanordnung durch dessen Erledigung gemäß § 67c Abs. 2 S. 5 StGB beschwert den Verurteilten dagegen nicht. Er wird durch die ausgesprochene Rechtsfolge formal sogar begünstigt, denn die neben einer Freiheitsstrafe angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt stellt nicht nur der Form nach, sondern auch in der Sache ein zusätzliches Übel neben der Freiheitsstrafe dar (BGH, Urteil vom 21. März 1973 - 2 StR 743/78, BGHSt 28, 327; Beschluss vom 17. September 1987 - 4 StR 441/87; BGH, Beschluss vom 16. Februar 2012, 2 StR 29/12, juris). Entfällt eines von mehreren Urteilsübeln, kann dies zu keiner Beschwer führen.

2. Die sofortige Beschwerde wäre darüber hinaus auch unbegründet.

a) Es sind keine formalen Mängel der Entscheidung ersichtlich. Insbesondere war zur Vorbereitung der Entscheidung nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich. Die nach § 67c Abs. 2 StGB zu treffende Entscheidung des Gerichts war gemäß § 463 Abs. 6 S. 1 StPO nach den Verfahrensvorgaben des § 462 StPO zu treffen. Die obligatorische Einholung eines Gutachtens sieht die Vorschrift nicht vor.

b) Auch inhaltlich tragen die Erwägungen der Strafkammer die Erledigung der Maßregel. Die Erledigung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist gemäß § 67c Abs. 2 S. 5 auszusprechen, wenn der Zweck der Maßregel erreicht ist. Dies ist dann der Fall, wenn feststeht, dass vom dem Verurteilten entweder gar keine oder keine erheblichen rechtswidrigen Taten infolge seines Hanges bzw. Zustandes mehr zu erwarten sind (LK-StGB/Rissing-van Saan/Peglau, 12. Aufl. 2007, § 67c Rn. 174). Maßgeblich ist insoweit auf eine infolge Zeitablaufs vorzunehmende Neubewertung der (auch) mit dem Hang zum Rauschmittelkonsum verknüpften Gefahrenprognose abzustellen. Es kann offenbleiben, ob - entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers aus seiner Zuschrift an das Landgericht vom 25. Juni 2021 - Zweifel in der Legalprognose zugunsten des Verurteilten zu berücksichtigen wären (vgl. statt vieler nur NK-StGB/Pollähne, 5. Aufl. 2017, § 67 Rn. 32 m.w.N.). Tatsächliche Umstände, die Zweifel an der Erforderlichkeit einer Korrektur der Gefahrenprognose rechtfertigen könnten, liegen nicht vor. Die vom Landgericht vorgenommenen Ermittlungen haben ergeben, dass der Beschwerdeführer seit der im Oktober 2017 begangenen Tat aus der Anlassverurteilung strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten ist. Insbesondere die noch im Urteil der Strafkammer angestellte Prognose, der Verurteilte werde unbehandelt alsbald wieder mit Taten der Beschaffungskriminalität auffallen, hat sich, worauf das Landgericht zutreffend abstellt, nicht als richtig erwiesen.

3. Eine Strafaussetzungsentscheidung war der Strafkammer dagegen verwehrt. Wie der Beschwerdeführer in seiner Zuschrift vom 25. Juni 2021 selbst erkannt hat, liegen die Voraussetzungen einer Aussetzung der Vollstreckung der neben der Unterbringung verhängten Freiheitsstrafe in Ermangelung einer Rechtsgrundlage nicht vor. Eine entsprechende Anwendung von Vorschriften über die (Rest-)Strafenaussetzung im Zusammenhang mit der Erledigung oder der Aussetzung von Maßregelanordnungen kam vorliegend nicht in Betracht. Vorschriften hierzu, wie die §§ 57, 67 Abs. 5 StGB, setzen jeweils voraus, dass jedenfalls ein wesentlicher Teil des im Urteil als schuldangemessener Sühneausgleich angeordneten Freiheitsentzuges - sei es in der Maßregelunterbringung oder im Strafvollzug - vollzogen ist. Von diesen Fällen unterscheidet sich der Fall des Beschwerdeführers, der bislang lediglich einen geringen Teil der durch seine Straftat verwirkten Strafe durch gemäß § 51 StGB anzurechnende Untersuchungshaft gleichsam vorab verbüßt hat. Auch allgemeine Verhältnismäßigkeitserwägungen zwingen insoweit nicht zu einer anderen Entscheidung. Unabhängig davon, dass der Beschwerdeführer aus der bisherigen über dreijährigen Zeit in Freiheit begünstigt ist, gibt es keinen Rechtssatz, dass eine nur ausreichend lange straffreie Zeit in Freiheit die weitere Vollstreckung einer noch nicht vollzogenen Freiheitsstrafe regelmäßig verbieten würde. Andernfalls müssten sich entsprechende Erwägungen auch in Fällen aufdrängen, in denen sich Verurteilte nur lange genug verborgen halten, ohne weitere (entdeckte) Straftaten zu begehen. Die Grenze der Unverhältnismäßigkeit der Strafvollstreckung wird für all diese Fälle im Gesetz selbst durch die Regelung der Vollstreckungsverjährung in § 79 StGB gesetzt.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 S. 1 StPO.

Gegen diese Entscheidung ist kein Rechtsmittel gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).