Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 18.02.2022, Az.: 3 Ws 49/22 (UVollz)
Ablehnung eines Antrags auf Telefonerlaubnis; Maßstab des Art. 6 GG bei Prüfung einer Telefonerlaubnis; Hohe Straferwartung kein Totschlagargument für Ablehnung einer Telefonerlaubnis
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 18.02.2022
- Aktenzeichen
- 3 Ws 49/22 (UVollz)
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 25052
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Verden - AZ: 1 KS 146 Js 49879/21 (118/21)
Rechtsgrundlagen
- Art. 6 GG
- § 119 Abs. 1 StPO
- § 467 Abs. 1 StPO
Redaktioneller Leitsatz
1. Der Antrag auf Telefonerlaubnis kann nur abgelehnt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Gefangene sie missbraucht.
2. Die hohe Straferwartung ist kein Argument für die Ablehnung einer Telefonerlaubnis. Denn deren Gewährung hat sich an den Maßstäben des Art.. 6 GG zu orientieren. Geschützt sind dabei auch eheähnliche Beziehungen wie hier bei Sinti und Roma.
3. Der Missbrauchsgefahr einer Telefonerlaubnis kann durch entsprechende Überwachungsmaßnahmen der JVA begegnet werden.
Tenor:
Die Entscheidung des Vorsitzenden vom 19. Januar 2022 wird aufgehoben.
Dem Angeklagten wird die Erlaubnis erteilt, Telefongespräche mit der nachbenannten Person unter der Maßgabe zu führen, dass diese in vollem Umfang akustisch überwacht werden, und zwar mit:
L. S., geb. ...,
Tel. XXXXX/XXXXXXX bzw. XXXX/XXXXXXX
Anzahl, Zeit und Dauer der Gespräche richten sich nach den in der Justizvollzugsanstalt B. zur Verfügung stehenden technischen und personellen Ressourcen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe
I.
Der Angeklagte, der sich wegen des Vorwurfs des versuchten Totschlags vor der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Verden zu verantworten hat und sich derzeit aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Verden vom 28.10.2021 [Az. 9a Gs 146 Js 49879/21 (3782/21)] in Untersuchungshaft befindet, wendet sich gegen eine Entscheidung des Vorsitzenden vom 19. Januar 2022, mit welcher der Antrag des Angeklagten auf Erteilung einer Telefonerlaubnis für Gesprächen mit seiner Lebensgefährtin L. S. zurückgewiesen wurde. Die Ablehnung wird mit der Befürchtung begründet, dass diese Telefongespräche für Absprachen in diesem Strafverfahren benutzt werden könnten, die Lebensgefährtin Frau L. S. sei für die am 18. Februar 2022 beginnende Hauptverhandlung als Zeugin geladen.
Mit bekannt gemachter, am 7. Februar 2022 ausgefertigter Entscheidung wurde der Beschwerde nicht abgeholfen, ergänzend wurde hierzu ausgeführt, dass eine Gesprächsüberwachung mangels ausreichender Verfahrenskenntnis der mit der Überwachung befassten Beamten nicht sicherstelle, dass keine Absprachen erfolgen würden.
Die Generalstaatsanwaltschaft wurde gehört; sie hat beantragt, die Beschwerde aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zu verwerfen. Zu dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft hat der Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Prof. Dr. S., mit Schreiben vom 17. Februar 2022 Stellung genommen.
II.
Die nach §§ 119 Abs. 5 Satz 1, 304 Abs. 1 StPO statthafte und zulässig erhobene Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache Erfolg. Die angefochtene Entscheidung des Vorsitzenden vom 19. Januar 2022 konnte keinen Bestand haben.
Die Entscheidung hält in der Sache einer Überprüfung nicht stand. Weder deren Begründung noch der dem Senat als Beschwerdegericht zugängliche Inhalt der Akten - einschließlich der Begründung des grundsätzlich fortgeltenden (vgl. LR-Gärtner, StPO, 27. Aufl., § 119 Rn. 96) Haftstatuts der Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts Verden vom 8. November 2021 -erlauben das pauschale Ablehnen der beantragten Telefonerlaubnis. Beschränkungen in der Untersuchungshaft, die der Abwendung (u.a.) der Verdunkelungsgefahr gelten sollen, sind an der Vorschrift des § 119 Abs. 1 StPO zu messen (vgl. Senatsbeschluss vom 22. März 2019, Az.: 3 Ws 67/19, StraFo 2019, 219 [BGH 19.12.2018 - 3 StR 263/18]). Zwar können über den Freiheitsentzug hinaus im Rahmen der Inhaftierung einem Beschuldigten Beschränkungen auferlegt werden, soweit dies zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Missbrauchsgefahr erforderlich ist. Auch kann die Abwehr einer Verdunkelungsgefahr, weil vom Haftzweck generell mitumfasst, Beschränkungen auch dann rechtfertigen, wenn der Haftbefehl nicht ausdrücklich auf diesen Haftgrund gestützt worden ist (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 27. März 2017 - 3 Ws 288/12 -, juris; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 62. Aufl. § 119 Rn. 5 mwN). Allerdings ist bei der Anwendung von § 119 Abs. 1 StPO immer dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2014, Az: 2 BvR 1513/14, NStZ-RR 2015, 79). An die Feststellung des Vorliegens einer Gefahr für die Erfüllung der Haftzwecke sind dabei im Hinblick auf die Unschuldsvermutung und die Grundrechtsrelevanz der zu treffenden Beschränkungen hohe Anforderungen zu stellen. Voraussetzung für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen auf der Grundlage von § 119 Abs. 1 StPO ist hiernach eine reale Gefährdung der in der Bestimmung bezeichneten öffentlichen Interessen, der durch die Inhaftierung allein nicht ausreichend entgegengewirkt werden kann.
Für das Vorliegen einer solchen Gefahr müssen konkrete Anhaltspunkte bestehen; die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht, reicht nicht aus (BVerfG aaO; ebenso OLG Dresden, Beschluss vom 5. April 2016 - 3 Ws 30/16, StraFo 2016, 206; OLG Hamm, Beschluss vom 13. November 2012 - III-5 Ws 329/12, StV 2014, 28; OLG Köln, Beschluss vom 28. Dezember 2012 - III-2 Ws 896/12, StV 2013, 525; LR-Gärtner, a.a.O. Rn. 13; KK-StPO-Schultheiß, 8. Aufl., § 119 Rn. 7). Das Vorliegen der Haftgründe allein kann Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO schon deshalb nicht rechtfertigen, weil diese bereits Voraussetzung der Untersuchungshaft und deshalb für sich genommen nicht geeignet sind, die Erforderlichkeit darüberhinausgehender Beschränkungen zu begründen (BVerfG aaO). Die vorgenannten Grundsätze gelten insbesondere, soweit wie vorliegend der Kontakt zu nahen Familienangehörigen bzw. vergleichbar nahestehenden Personen in Rede steht. Hierbei sind erforderliche Beschränkungen regelmäßig an den strengen Maßstäben des Art. 6 GG zu messen (vgl. etwa OLG Düsseldorf, Beschluss vom 31. Januar 2014, Az.: 3 Ws 16-17/14, StV 2014, 550). Der Schutzbereich der Familie ist hierbei nicht auf eheliche Beziehungen beschränkt und ist nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung auch für Verlobte und Lebensgefährten eröffnet, wenn die Beteiligten eine länger andauernde eheähnliche Beziehung unterhalten, der Schutzbereich ist mithin nicht auf die Kernfamilie von Eltern und minderjährigen Kindern zu begrenzen (vgl. zum Ganzen LR-Esser, StPO, 26. Aufl., Art. 8 EMRK, Rn. 98 ff. m.w.N.).
Bei L. S. handelt es sich um die Lebensgefährtin und Verlobte des Angeklagten, sie haben gemeinsame Kinder und sind nach Mitteilung des Verteidigers "nach Sinti-Sitte verheiratet". Eine jedenfalls eheähnliche Beziehung liegt vor. Die vorzunehmende Abwägung hat sich mithin an den gesteigerten Anforderungen zu messen, weil der Schutzbereich des Art. 6 GG eröffnet ist.
An diesem Maßstab gemessen, war die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Die Entscheidung des Vorsitzenden stützt sich -ebenso wie das dieser letztlich zu Grunde liegende Haftstatut -nur auf allgemeine Erwägungen des Inhalts, dass die mit der vorgeworfenen Tat einhergehende hohe Straferwartung die Einschränkungen rechtfertige (vgl. Haftstatut vom 8. November 2021) und es sich bei der Lebensgefährtin um eine Zeugin handele, weswegen Absprachen zu befürchten seien und daher eine Verdunkelungsgefahr vorliege. Die Nichtabhilfeentscheidung beschränkt sich darauf, dass eine Gesprächsüberwachung nicht ausreichend sei, um dieser Gefahr zu begegnen. Auf derart allgemein gehaltene Erwägungen allein kann nach den zuvor genannten Grundsätzen das Ablehnen der beantragten Telefonerlaubnis nicht gestützt werden. Konkrete Anhaltspunkte, dass der Angeklagte Telefonate mit L. S. für Verdunkelungsmaßnahmen nutzen würde, sind nicht ersichtlich. Konkretes Verhalten, welches auf Verdunkelungshandlungen schließen lässt, ist bei dem teilgeständigen Angeklagten bislang nicht zutage getreten. Insbesondere kann ein solches nicht darin gesehen werden, dass dieser die weitere beteiligte Person ebenso wie den Auffindeort des (mutmaßlichen) Tatwerkzeuges nicht benennt. Dies ist noch von seinem zulässigen Verteidigungsverhalten umfasst und darf nicht zu dessen Nachteil verwendet werden. Ebenso vermag der Senat keine konkreten Anhaltspunkte für etwaige Verdunklungshandlungen durch die Person der Zeugin L. S. erkennen. Die Zeugin L. S. hat ausweislich des Akteninhalts bislang von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Ausweislich der Einlassung im Rahmen der Haftbeschwerde ist der Angeklagte teilweise geständig, er räumt - wenn auch mit abweichender rechtlicher Bewertung - jedenfalls ein, am Geschehen beteiligt gewesen zu sein und den Geschädigten mittels eines Werkzeuges auf den Kopf geschlagen zu haben, wobei der Auslöser eine Beleidigung seiner Lebensgefährtin gewesen sein soll. Da die Zeugin - nach Aktenlage - beim konkreten Tatgeschehen nicht vor Ort war, sondern lediglich in das vorgelagerte Geschehen durch Unterrichtung des Angeklagten über die (vermeintliche) Beleidigung eingebunden gewesen soll soll, ist bereits kein hohes Gefährdungspotential einer Verdunkelung ersichtlich, weil dies durch die angekündigte Einlassung nicht in Abrede genommen wird. Soweit der Angeklagte den mutmaßlich zweiten Tatbeteiligten nicht benennt, ergeben sich keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass insoweit eine Verdunkelung durch die Zeugin erfolgen könnte. Neben Angaben zu dem unmittelbaren Tatvorgeschehen steht nach Aktenlage zu erwarten, dass die Zeugin Bekundungen zu ihrem und dem Verhältnis des Angeklagten zu dem Geschädigten und dessen Angehörigen tätigen könnte, so dass insoweit abstrakt eine Abstimmung zwischen dem Angeklagten und der Zeugin befürchtet werden könnte. Diese Befürchtung vermag jedoch für sich keine Ablehnung der Telefonerlaubnis zu begründen.
Hinzu kommt, dass der Angeklagte sich nunmehr seit knapp vier Monaten in Untersuchungshaft befindet und vor dem Hintergrund der aktuellen pandemischen Lage auch Besuche in Vollzugsanstalten allenfalls in eingeschränktem Maße stattfinden können, was ebenfalls in die vorzunehmende Abwägung einzustellen ist.
Soweit aufgrund der insgesamt zu berücksichtigenden Umstände ein Missbrauch einer Telefonerlaubnis gleichwohl zu besorgen ist, kann diesem Risiko durch das Anordnen einer Überwachung der Telefonkontakte begegnet werden (vgl. zum Ganzen etwa LR-Gärtner, a.a.O., Rn. 43). Solche Überwachungsmaßnahmen führen zwar zu einem Mehraufwand bei der JVA, sie sind indes als milderes Mittel gegenüber einer Versagung der Telefongespräche verfassungsrechtlich geboten.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung.
IV.
Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).