Sozialgericht Stade
Urt. v. 22.08.2013, Az.: S 17 AS 91/13
Voraussetzungen eines Leistungsausschlusses von Leistungen nach dem SGB II während der stationären Unterbringung in einer Entzugsklinik im Rahmen eines Maßregelvollzugs
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 22.08.2013
- Aktenzeichen
- S 17 AS 91/13
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2013, 61945
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2013:0822.S17AS91.13.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlage
- § 7 Abs 4 S. 3 Nr 2 SGB II
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 03. Dezember 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 30. Januar 2013 verpflichtet, dem Kläger im Zeitraum 01. Oktober 2012 bis 08. Januar 2013 Leistungen nach dem SGB II unter Anrechnung des bereits Geleisteten und des vorhandenen Einkommens in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Voraussetzungen eines Leistungsausschlusses von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gemäß § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 2 SGB II während der stationären Unterbringung des Klägers in einer Entzugsklinik im Rahmen eines Maßregelvollzugs, denn der Kläger wohnte aufgrund von Vollzugslockerungen außerhalb der Klinik und hätte auf den allgemeinen Arbeitsmarkt in relevantem Umfang erwerbstätig sein können.
Der Kläger, geboren im Jahr 1977, ist verurteilter suchtkranker Straftäter. Seit dem 20. Juli 2011 war er im Rahmen des Maßregelvollzugs stationär in der G. H. zur forensischen Behandlung untergebracht. Seit April 2012 wurde der Kläger regelmäßig an den Wochenenden beurlaubt und konnte zu seiner Lebensgefährtin in I. fahren. Nach Mitteilung der Klinik wurde der Maßregelvollzug im September 2012 während der Resozialisierungsphase weitergehend dahin gelockert, dass der Kläger durchgehend auch in der Woche zu Hause sein konnte und der Vollzug nur noch ambulant durchgeführt wurde. Nach Mitteilung der Klinik hätte der Kläger seit September 2012 einer Erwerbstätigkeit von mindestens 15 Stunden unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nachgehen können. Dieser Schritt sei auch von der zuständigen Staatsanwaltschaft genehmigt gewesen. Formal war der Kläger vom 29. Oktober 2012 bis 25. November 2012 und erneut vom 26. November 2012 bis zum 20.12.2012 vom Maßregelvollzug beurlaubt. Er erhielt seitens der Klinik ein Taschengeld in Höhe von rund 100,00 EUR monatlich mindestens bis November 2012. Der Kläger übte keine Erwerbstätigkeit aus.
Am 30. Oktober 2012 stellte der Kläger beim Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Der Beklagte gab zunächst Gutscheine aus und übernahm vorläufig auch einen Mietanteil, wobei sich die Leistungen auf insgesamt 522,00 EUR beliefen. Mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid vom 3. Dezember 2012 lehnte der Beklagte den Leistungsantrag des Klägers unter Hinweis auf einen Leistungsausschuss wegen stationärer Unterbringung gemäß § 7 Abs 4 SGB II ab und verlangte die vorläufig erbrachten Leistungen in Höhe von 522,00 EUR zurück. Mit Schreiben vom 07. Dezember 2012 legte der Kläger gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Noch während des laufenden Widerspruchsverfahrens setzte das Landgericht H. die weitere Vollstreckung des Maßregelvollzugs ab dem 09. Januar 2013 zur Bewährung aus. Seit diesem Zeitpunkt gewährt der Beklagte dem Kläger Leistungen nach dem SGB II (Bescheid vom 16. Januar 2013). Eine Leistungsgewährung von Oktober 2012 bis zum 08. Januar 2013 lehnte der Beklagte jedoch weiterhin ab und wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2013 als unbegründet zurück. Am 08. Februar 2013 hat der Kläger Klage erhoben.
Er trägt vor, seine praktisch dauerhafte Beurlaubung im Herbst 2012 sei Bestandteil des Vollzugskonzepts im Rahmen des Maßregelvollzugs gewesen und habe seiner Reintegration in die Gesellschaft gedient. Es habe sich dabei nicht um einen offenen Vollzug gehandelt, bei dem der Betroffene abends in die Einrichtung zurückkehre. Es habe sich auch nicht um eine allgemeine Vollzugslockerung für Behördengänge oder andere private Erledigungen gehandelt, sondern um eine dauerhafte Beurlaubung, die dem Freigängerstatus zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichzusetzen sei. Er habe während dieser Zeit keine Sachleistungen in Form von Verpflegung und Unterkunft seitens der Maßregeleinrichtung erhalten, sondern sei wirtschaftlich auf sich allein gestellt gewesen. Es sei selbstverständlich, dass Personen, die stationär untergebracht seien, keine Leistungen nach dem SGB II erhalten könnten, da sie Unterkunft, Verpflegung und Betreuung in der Einrichtung erhielten. Bei ihm sei dieses aber gerade nicht so gewesen. Er habe dem Arbeitsmarkt voll zur Verfügung gestanden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 03. Dezember 2012 in Form des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2013 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger im Zeitraum Oktober 2012 bis 08. Januar 2013 Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er weist darauf hin, dass der Kläger nach dem Wortlaut des § 7 Abs 4 SGB II von einem Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Sowohl nach dem Gesetzeswortlaut als auch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts greife die Ausnahmeregelung des § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 2 SGB II nur ein, wenn der Betroffene auch tatsächlich mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig sei. Dies sei der Kläger im betroffenen Zeitraum unstreitig nicht gewesen. Es komme nicht darauf an, dass dem Kläger eine Erwerbstätigkeit objektiv möglich gewesen sein könnte.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und den vorliegenden Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt hatten.
Die zulässige und als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs 1 Satz 1 SGG statthafte Klage hat Erfolg.
Die Ablehnung der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II auf den Leistungsantrag des Klägers vom 30. Oktober 2012 hin bis zur tatsächlichen Leistungsaufnahme ab dem 09. Januar 2013 erweist sich als rechtswidrig und beschwert den Kläger daher im Sinne des § 54 Abs 2 SGG. Aufgrund der Ausnahmeregelung in § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 2 SGB II war der Kläger im klagegegenständlichen Zeitraum, dh hier wegen § 37 Abs 2 Satz 2 SGB II ab dem 01. Oktober 2012 bis zum 08. Januar 2013, nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, obwohl er sich formal im Maßregelvollzug in einer stationären Einrichtung befand.
Gemäß § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II erhält Leistungen nach dem SGB II nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Nach Satz 2 ist em Aufenthalt in einer stationären Einrichtung der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Gemäß § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 2 SGB II erhält abweichend von Abs 4 Satz 1 Leistungen nach diesem Buch, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist. Der Kläger war formal im Rahmen des Maßregelvollzugs gemäß § 64 StGB in der G. H. stationär untergebracht und erfüllte damit insoweit die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Abs 4 Satz 1 und 2 SGB II. Nach Überzeugung der Kammer erfüllte der Kläger jedoch die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Ausnahme vom Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 2 SGB II, da er aufgrund der weitgehenden Vollzugslockerung den allgemeinen Arbeitsmarkt unter den dortigen üblichen Bedingungen mindestens 15 Stunden wöchentlich zur Verfügung stand. Dabei ist unerheblich, dass er tatsächlich keiner Erwerbstätigkeit im relevanten Umfang nachgegangen ist.
Zwar spricht der Wortlaut des Gesetzes zunächst gegen diese Auffassung, da dort ausdrücklich die tatsächliche Ausübung einer solchen Tätigkeit verlangt wird (vgl A. Loose in: GK-SGB II, Stand September 2012, § 7, Rn 149; Thie/Schoch in: LPK-SGB II, 4. Aufl 2011, § 7, Rn 107). Es ist mit Blick auf Sinn und Zweck der Vorschrift jedoch eine erweiternde Auslegung erforderlich und notwendig. Der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs 4 SGB II knüpft an die Frage an, ob die Eingliederung in Arbeit ausgeschlossen ist oder nicht und deshalb die Aufgabe der Grundsicherung erreicht werden kann oder nicht (vgl Brandmayer in: BeckOK-SGB II, § 7, Rn 27). Ob jemand, der in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden kann, kann jedoch nicht allein daran beurteilt werden, dass er tatsächlich eingliedert ist, dh eine Erwerbstätigkeit von 15 Stunden und mehr wöchentlich bereits ausübt. Es muss reichen, dass eine Eingliederung trotz der stationären Unterbringung tatsächlich und rechtlich möglich ist. Zugleich besteht auch nicht die Gefahr einer sinnwidrigen Doppelversorgung durch Erhalt von Verpflegung und Unterkunft in der Einrichtung und gleichzeitigen Bezug von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II, wenn Verpflegung und Unterkunft in der konkreten Ausgestaltung des Aufenthalts in der Einrichtung gar nicht mehr von der Einrichtung gestellt werden. Die Auffassung des erkennenden Gerichts steht auch im Einklang mit der diesbezüglichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wonach es für die Ausnahme vom Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 2 SGB II nicht auf die tatsächliche Ausübung einer Erwerbstätigkeit ankommt, sondern darauf, ob eine solche Tätigkeit grundsätzlich ausgeübt werden kann und darf (vgl BSG, Urteil vom 07.05.2009 - B 14 AS 16/08 R -; BSG, Urteil vom 24.02.2011 - B 14 AS 81/09 R -, dort Rn 25 der Veröffentlichung; vgl auch Hackethal in: jurisPK-SGB II, § 7, Rn 64). Das Bundessozialgericht stellt im erstgenannten Urteil zunächst nochmals klar, dass die Unterbringung in einer stationären Einrichtung im Sinne des § 7 Abs 4 SGB II als gesetzliche Fiktion der Erwerbsunfähigkeit ausgestaltet worden ist, die nur mit der Aufnahme einer mindestens 15 Stunden umfassenden Erwerbsarbeit zu regulären Arbeitsmarktbedingungen widerlegt werden könne (BSG, Urteil vom 07.05.2009 - B 14 AS 16/08 R -, Rn 14). Es komme ausschließlich auf die objektive Struktur und Art der Einrichtung an und damit darauf, ob es den dort Untergebrachten möglich ist oder nicht, aus eigenen Stücken eine Erwerbstätigkeit auszuüben oder nicht. Maßgeblich sei, ob der Betroffene für die für das SGB II im Vordergrund stehenden Integrationsbemühungen zur Eingliederung in Arbeit zur Verfügung steht oder nicht. Das Bundessozialgericht hat diese Auffassung im zweitgenannten Urteil vom 24. Februar 2011 (BSG, Urteil vom 24.02.2011 - B 14 AS 81/09 R -, Rn 25) dahingehend weiter konkretisiert und stellt klar, dass eine Leistungsberechtigung eines stationär Untergebrachten auf Grundlage der Ausnahmeregelung in § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 2 SGB II nur in Betracht komme, soweit einem Antragsteller auf Leistungen nach dem SGB II die Aufnahme eines konkreten Beschäftigungsverhältnisses erlaubt ist. Das Bundessozialgericht stellt demnach nicht streng darauf ab, dass eine Erwerbstätigkeit tatsächlich ausgeübt wird, sondern hält es für ausreichend, wenn der Betroffene trotz der formal stationären Unterbringung zum einen objektiv in der Lage ist, einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dortigen Bedingungen von mindestens 15 Stunden in der Woche nachzugehen, und es ihm zum anderen auch ausdrücklich erlaubt ist. Neben dem ausdrücklichen tatsächlichen Können oder Nichtkönnen der Auswirkung in einer Erwerbstätigkeit trotz der Unterbringung spielt damit das rechtliche Dürfen einer Erwerbstätigkeit eine entscheidende Rolle für die Frage, ob die Rückausnahme zum Leistungsausschluss eingreift. Das Bundessozialgericht berücksichtigt damit die Sonderstellung von Einrichtungen zum Vollzug richterlicher angeordneter Freiheitsentziehungen, die einerseits einem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung gleichgestellt werden, andererseits aber nicht von sich heraus schon die Aufnahme einer mindestens dreistündigen täglichen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen. Auch eine Unterbringung in einer Klinik im Rahmen des Maßregelvollzugs gilt nach der gesetzgeberischen Klarstellung durch § 7 Abs 4 Satz 2 SGB II als Unterbringung in einer stationären Einrichtung, sodass grundsätzlich der Leistungsausschluss eingreift, auch wenn sich der Aufenthalt in einer Vollzugseinrichtung wesentlich von dem Aufenthalt in anderen stationären Einrichtungen unterscheiden kann. Und der Aufenthalt unterscheidet sich gerade in dem Punkt, dass eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt trotz der Unterbringung möglich und erlaubt sein kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Berufung war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache gemäß § 144 Abs 2 Nr 1 SGG zuzulassen. Trotz der zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist die Frage noch nicht obergerichtlich geklärt, ob die Rückausnahme vom Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 2 SGB II trotz des an sich entgegenstehenden Wortlautes in Bezug auf die tatsächliche Ausübung einer Erwerbstätigkeit auch dann greifen kann, wenn sich der Betroffene im Maßregelvollzug befindet und aufgrund weitgehender Vollzugslockerungen zwar tatsächlich und rechtlich in der Lage ist, im relevanten Umfange einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen, dies aber tatsächlich nicht getan hat. Denn die Urteile des Bundessozialgerichts betrafen andere Sachverhalte. Im Urteil vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 81/09 R - lag der Sachverhalt so, dass der Betroffene in einer Justizvollzugsanstalt untergebracht war und innerhalb dieser Anstalt mit Reinigungsarbeiten beschäftigt war, sodass gar keine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorlag. Das Urteil vom 07.05.2009 - B 14 AS 16/08 R - ist zu § 7 Abs 4 SGB II in der Fassung vom 30. Juli 2004, gültig vom 01. Januar 2005 bis 31. März 2006, ergangen, der die hier maßgebliche Rückausnahme, heute § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 2 SGB II, noch nicht beinhaltete.