Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 26.01.2016, Az.: L 13 AS 309/13
Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende; Beurlaubung aus laufendem Maßregelvollzug; Funktionaler Einrichtungsbegriff; Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration des Hilfebedürftigen
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 26.01.2016
- Aktenzeichen
- L 13 AS 309/13
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2016, 18457
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2016:0126.L13AS309.13.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II
- § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II
- § 1666 BGB
Redaktioneller Leitsatz
1. Ein Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung i.S.v. § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II liegt insbesondere vor bei dem Vollzug von Strafhaft, Untersuchungshaft, Maßregeln der Besserung und Sicherung, einstweiliger Unterbringung, der Absonderung nach dem Bundesseuchengesetz, Geschlechtskrankheitengesetz, der Unterbringung psychisch Kranker und Suchtkranker nach den Unterbringungsgesetzen der Länder sowie dann, wenn nach § 1666 BGB das Vormundschaftsgericht die erforderlichen Maßnahmen zum Wohle des Kindes trifft.
2. In seiner neueren Rechtsprechung zur Regelung des § 7 Abs. 4 SGB II hat das BSG festgestellt, dass der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung nach der seit 1. August 2006 geltenden Gesetzesfassung Leistungen nach dem SGB II dann ausschließt, wenn der Träger der Einrichtung nach Maßgabe seines Konzepts die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration des Hilfebedürftigen übernimmt.
3. Das BSG hat klargestellt, dass an der früheren Rechtsprechung, die zur bis 31. Juli 2006 geltenden Gesetzesfassung ergangen ist, vor allem an dem darin entwickelten funktionalen Einrichtungsbegriff nicht mehr festgehalten werden könne.
4. Während einer "Dauerbeurlaubung" aus dem Maßregelvollzug, liegt kein Aufenthalt mehr in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung vor.
Tenor:
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 22. August 2013 aufgehoben, soweit der Beklagte verurteilt worden ist, dem Kläger auch für den Zeitraum 1. bis 29. Oktober 2012 Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung gegen die im angefochtenen erstinstanzlichen Urteil des Sozialgerichts (SG) Stade erfolgte Verurteilung zur Erbringung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum 1. Oktober 2012 bis 8. Januar 2013. Streitig ist zwischen den Beteiligten insbesondere, ob der Kläger im Zeitraum der Beurlaubung aus dem laufenden Maßregelvollzug nach § 15 Niedersächsisches Maßregelvollzugsgesetz (NdsMVollzG) nach § 7 Abs. 4 Satz 1, 2 bzw. 3 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen war.
Der 1977 geborene Kläger wurde durch Urteil des Amtsgerichts (AG) Zeven vom 21. Februar 2011 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten ohne Bewährung verurteilt. Zugleich wurde im Hinblick auf die bestehende Alkoholabhängigkeit seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 Strafgesetzbuch (StGB) angeordnet (Maßregelvollzug). Am 20. Juli 2011 wurde der Kläger in der Forensischen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des K. aufgenommen. Am 10. Januar 2012 beschloss das Landgericht (LG) Hildesheim die Fortdauer der Unterbringung, da das Vollzugsziel bei weitem noch nicht erreicht sei. Mit Schreiben vom 20. Juni 2012 teilte das L. mit, dass der Kläger seit November 2011 Stadtausgänge unternehmen dürfe und sich seit Mai 2012 in dem externen arbeitstherapeutischen Bereich "Service-Center" befinde. Inzwischen seien auch Wochenendbeurlaubungen zum Besuch der Partnerin in M. erfolgt. Mit Beschluss vom 11. Juli 2012 stellte das LG Hildesheim erneut die Fortdauer der Unterbringung fest. Nach Auskunft des K. vom 20. August 2013 war es dem Kläger seit September 2012 aufgrund von Vollzugslockerungen möglich, im Rahmen der Resozialisierungsphase einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Für die Zeiträume 29. Oktober bis 25. November 2012 und 26. November bis 20. Dezember 2012 wurde er mit Genehmigung der zuständigen Staatsanwaltschaft aus dem Maßregelvollzug nach § 15 NdsMVollzG beurlaubt mit der Auflage, sich regelmäßig bei der Polizeidienststelle M. zur Durchführung von Atemalkoholkontrollen einzufinden (Schreiben des K. an Polizeiinspektion M. vom 20. Oktober 2012 und 26. November 2012). Der Kläger stand nach der Mitteilung des N. vom 27. November 2012 in dieser Zeit weiterhin unter Aufsicht bzw. Betreuung des Maßregelvollzugs und erhielt für den November 2012 nochmals ein Taschengeld von 100,98 EUR. In diesem Zeitraum fanden in der Klinik lediglich ambulante Therapiegespräche in vierwöchigem Abstand statt. Nach vom Senat eingeholter ergänzender Auskunft des N. vom 18. Dezember 2014 verbrachte der Kläger die Zeit während des Maßregelvollzugs ab der dauerhaften Beurlaubung im Oktober 2012 bis Januar 2013 durchgehend in seinem sozialen Umfeld außerhalb der Klinik. Mit Beschluss vom 9. Januar 2013 setzte das LG Hildesheim die im Urteil des AG Zeven angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie die Vollstreckung der noch nicht vollstreckten Freiheitsstrafen jeweils zur Bewährung aus.
Bereits am 30. Oktober 2012 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II und teilte unter anderem mit, dass er in der von seiner Lebensgefährtin O. bewohnten Wohnung als Untermieter wohne. Die Lebensgefährtin des Klägers gab im Rahmen der Antragstellung an, dass sie schwanger sei und voraussichtlich im Juni 2013 entbinden werde. Der Kläger übte im streitigen Zeitraum keine Erwerbstätigkeit aus.
Der Beklagte gewährte dem Kläger am 15. November 2012 Sachleistungen in Form von zwei Lebensmittelgutscheinen in Höhe von je 50 EUR. Am 22. November 2012 erfolgte eine Zahlung von 237 EUR auf das Konto des Klägers sowie von 185 EUR als Mietanteil auf das Konto des Vermieters der Partnerin des Klägers. Mit Bescheid vom 3. Dezember 2012 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab und führte zur Begründung aus, der Kläger sei nach § 7 Abs. 4 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung sei dem Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Dies gelte auch für Maßregeln zur Besserung. Nach den vorliegenden Unterlagen des N. stehe der Kläger unter Aufsicht bzw. Betreuung des Maßregelvollzuges. Eine Entscheidung im Hinblick auf eine Entlassung aus dem Maßregelvollzug sei bisher durch das zuständige Gericht noch nicht getroffen worden. Bisher sei lediglich eine Beurlaubung von dem Maßregelvollzug erfolgt. Die zu Unrecht erhaltenen Leistungen i. H. v. 522,00 EUR seien nach § 50 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu erstatten. Gegen diese Entscheidung legte der Kläger Widerspruch ein und führte aus, er würde dem Arbeitsmarkt durchaus zur Verfügung stehen. Die Tatsache, dass er alle vier Wochen zum Gespräch nach P. zum Q. fahren müsse, stehe dem nicht entgegen. Zudem bekomme er keine Leistungen mehr von dem Q., insbesondere kein Taschengeld. Die Beurlaubung aus dem Maßregelvollzug diene der Resozialisierung und der Wiedereingliederung in das soziale Umfeld. Sach- oder Geldleistungen der Maßregelvollzugseinrichtung würden nicht mehr erbracht.
Mit Bescheid vom 16. Januar 2013 bewilligte der Beklagte dem Kläger im Hinblick auf den Aussetzungsbeschluss des LG Hildesheim vom 9. Januar 2013 Leistungen nach dem SGB II beginnend am 9. Januar 2013 bis 31. Juli 2013.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2013 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück und führte zur Begründung aus, die ablehnende Entscheidung vom 3. Dezember 2012 sei nicht zu beanstanden, denn nach § 7 Abs. 4 SGB II könne der Kläger im streitigen Zeitraum keine SGB II-Leistungen beanspruchen. Die Unterbringung in einer stationären Einrichtung i. S. d. § 7 Abs. 4 SGB II sei als gesetzliche Fiktion der Erwerbsunfähigkeit ausgestaltet worden, welche nach Satz 3 Nr. 2 der Vorschrift nur mit Aufnahme einer mindestens 15 Wochenstunden umfassenden Erwerbstätigkeit widerlegt werden könne. Bei der Beurteilung, ob es sich um eine stationäre Einrichtung handele, komme es ausschließlich auf die objektive Struktur und Art der Einrichtung an. Sofern eine Strafe im offenen Vollzug abgeleistet werde und ein Freigängerstatus zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit bestehe, sei der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II nicht einschlägig. Hierzu sei jedoch ein Freigängerstatus erforderlich. Allgemeine Vollzugslockerungen, wie Ausgänge und Urlaub für Behördengänge, Arbeitssuche und andere private Erledigungen, insbesondere Wohnungssuche und Vorbereitung eines Umzuges, ließen jedoch die Aufnahme einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zu und seien daher nicht der Erlaubnis zur Durchführung einer Erwerbstätigkeit außerhalb der Anstalt gleichzusetzen. Dem Kläger seien vorliegend lediglich Lockerungen in Form eines Urlaubs gewährt worden, zunächst vom 29. Oktober bis 25. November 2012 und dann vom 26. November bis 6. Dezember 2012. Die Beurlaubung beende jedoch nicht den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II. Erst durch Beschluss des Landgerichts Hildesheim vom 9. Januar 2013 sei die Vollstreckung der Maßregel ab diesem Tag zur Bewährung ausgesetzt worden. Ab diesem Zeitpunkt habe sich der Kläger nicht mehr im Vollzug einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung befunden, so dass der Leistungsausschluss nicht mehr gegeben gewesen sei.
Der Kläger hat am 8. Februar 2013 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Stade erhoben und Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 30. Oktober 2012 bis 8. Januar 2013 geltend gemacht. Zur Begründung hat er darauf hingewiesen, dass die Beurlaubung von dem Maßregelvollzug der Resozialisierung gedient habe. Während dieser Beurlaubung kehre der Betroffene nicht jeden Abend in die Klinik zurück, wie es beim offenen Vollzug der Fall sei. Es handele sich auch nicht um eine allgemeine Vollzugslockerung für Behördengänge und andere Erledigungen, sondern um eine dauerhafte Beurlaubung, die dem Freigängerstatus zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichzusetzen sei. Bei der dauerhaften Beurlaubung müsse der Betroffene selbst für eine eigene Unterkunft, einen Arbeitsplatz und ein soziales Umfeld sorgen. Leistungen würden vom Maßregelvollzugsträger nicht erbracht.
Der Beklagte hat vorgetragen, der Kläger habe sich im streitigen Zeitraum noch im Maßregelvollzug nach den §§ 63, 64 StGB befunden, so dass er von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen sei. Grundsätzlich unterfielen der Ausschlussregelung in § 7 Abs. 4 Satz 1,2 SGB II auch Zeiten der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Rahmen des Maßregelvollzugs nach §§ 63, 64 StGB. Nach § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II sei ausnahmsweise leistungsberechtigt nach dem SGB II, wer stationär untergebracht sei, aber unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig sei. Nach dem eindeutigen Wortlaut greife diese Ausnahmeregelung nur bei Personen, die tatsächlich in diesem Maße erwerbstätig seien, nicht jedoch bei denjenigen, die erwerbstätig sein könnten, aber keine Erwerbstätigkeit ausübten. Anders als nach der bis 2006 geltenden Regelung, auf die sich auch zunächst ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bezöge, komme es nunmehr nicht mehr auf die Frage an, ob es dem Betreffenden objektiv möglich gewesen sei, aus der Einrichtung heraus einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Der Kläger sei im streitigen Zeittraum nicht erwerbstätig gewesen.
Mit Urteil vom 22. August 2013 hat das SG Stade den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verpflichtet, dem Kläger für den Zeitraum 1. Oktober 2012 bis 8. Januar 2013 Leistungen nach dem SGB II unter Anrechnung des bereits Geleisteten und des vorhandenen Einkommens in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, der Kläger habe grundsätzlich, da er sich im Maßregelvollzug nach § 64 StGB in dem L. befunden habe, die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB II erfüllt. Es habe jedoch die Voraussetzung für die Ausnahme vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II vorgelegen, auch wenn der Kläger tatsächlich keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. Nach der Rechtsprechung des BSG sei weiterhin davon auszugehen, dass es nicht darauf ankomme, ob der Betroffene eine Erwerbstätigkeit tatsächlich ausgeübt habe, ausreichend sei vielmehr, wenn der Betroffene trotz der formal stationären Unterbringung zum einem objektiv in der Lage gewesen sei, einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von mindestens 15 Stunden in der Woche nachzugehen, und wenn ihm dies andererseits auch ausdrücklich erlaubt sei. Das SG Stade hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Gegen das ihm am 13. September 2013 zugestellte Urteil hat der Beklagte am Montag, den 14. Oktober 2013, Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er vorgetragen, der Auffassung des SG Stade könne schon deshalb nicht gefolgt werden, weil der eindeutige Wortlaut der im Jahre 2006 neu gefassten Vorschrift des § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II dem entgegenstehe. Nach dieser Vorschrift greife die Ausnahmeregelung nur bei Personen, die tatsächlich mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig seien. Entgegen der Rechtsauffassung des SG Stade stehe weder das Urteil des BSG vom 7. Mai 2009 (B 14 AS 16/08 R) noch das Urteil vom 24. Februar 2011 (B 14 AS 81/09 R) dem entgegen. Das BSG habe in letzterer Entscheidung vielmehr klargestellt, dass es vor dem Hintergrund der Rechtslage nach dem Fortentwicklungsgesetz für die Frage, ob SGB II-Leistungen bezogen werden könnten, auch nicht darauf ankomme, ob Vollzugslockerungen gewährt würden. Aus der Entscheidung des BSG vom 6. September 2007 (B 14/7b AS 16/07 R) folge vielmehr, dass auch das BSG davon ausgehe, dass es für die Ausnahmeregelung nach § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II darauf ankomme, ob tatsächlich eine Erwerbstätigkeit ausgeübt werde. Auf Hinweis des Berichterstatters hat der Beklagte erklärt, auch unter Berücksichtigung des Urteils des BSG vom 5. Juni 2014 (B 4 AS 32/13 R) bleibe er bei seiner Auffassung. Diese Entscheidung befasse sich mit der Frage, wann der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II greife. Der Kläger habe sich im streitigen Zeitraum jedoch im Maßregelvollzug befunden und damit nicht in einer stationären Einrichtung nach Abs. 4 Satz 1 der genannten Vorschrift. Die Ausführungen des BSG zu "stationären Einrichtungen" seien nicht ohne weiteres übertragbar auf die hier einschlägige Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung nach Abs. 4 Satz 2 der Norm.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 22. August 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er nimmt Bezug auf die seiner Auffassung nach zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Stade.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie die vorgelegten Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet, soweit das SG Stade den Beklagten verurteilt hat, Leistungen nach dem SGB II auch für den Zeitraum 1. Oktober bis 29. Oktober 2012 zu erbringen. Gegenstand des Klageverfahrens waren nach dem ausdrücklich mit der Klagschrift vom 8. Februar 2013 formulierten Antrag nur Ansprüche für die Zeit ab 30. Oktober 2012, d.h. ab Antragstellung des Klägers bei dem Beklagten. Weitergehende Leistungen, insbesondere für den Zeitraum 1. bis 29. Oktober 2012, durfte das SG dem Kläger schon aus diesem Grund nicht zusprechen. Das Urteil des SG war daher teilweise aufzuheben.
Im Übrigen erweist sich die Berufung als unbegründet. Der angefochtene Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 3. Dezember 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat dem Grunde nach einen Anspruch auf SGB II-Leistungen im Zeitraum 30. Oktober 2012 bis 8. Januar 2013. Das SG hat den Beklagten insoweit im Ergebnis zu Recht verurteilt, Leistungen in gesetzlicher Höhe unter Anrechnung der bereits erbrachten Leistungen zu erbringen.
Der Kläger erfüllt im streitgegenständlichen Zeitpunkt sämtliche Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 SGB II. Er fällt nicht unter die Ausschlusskriterien des § 7 Abs. 1 Satz 2, 3 SGB II, und insbesondere war er hilfebedürftig i. S. des § 9 Abs. 1 SGB II. Dies gilt auch, soweit man davon ausgehen würde, dass der Kläger und seine Lebensgefährtin O. im streitigen Zeitraum eine Bedarfsgemeinschaft gebildet haben, da diese nach dem vorliegenden Bewilligungsbescheid vom 9. Juli 2012 zu dieser Zeit Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch bezogen hat.
Der Kläger war - entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten - in der Zeit vom 30. Oktober 2012 bis 8. Januar 2013 nicht vom SGB II-Leistungsbezug nach § 7 Abs. 4 SGB II ausgeschlossen. Nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhält Leistungen nach diesem Buch nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistungen oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Nach Satz 2 wird dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Nach § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II erhält abweichend von diesen Regelungen Leistungen nach dem SGB II, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist. Die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II lagen hier zwar zunächst vor. Der Kläger war auf Grund des Urteils des AG Zeven vom 21. Februar 2011 - Az.: 9 Ds 2570 Js 25751/10 - in dem L. im Rahmen des Maßregelvollzugs nach § 64 StGB untergebracht und damit ab stationärer Aufnahme am 20. Juli 2011 vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Ein Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung i. S. v. § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II liegt insbesondere vor bei dem Vollzug von Strafhaft, Untersuchungshaft, Maßregeln der Besserung und Sicherung, einstweiliger Unterbringung, der Absonderung nach dem Bundesseuchengesetz, Geschlechtskrankheitengesetz, der Unterbringung psychisch Kranker und Suchtkranker nach den Unterbringungsgesetzen der Länder sowie dann, wenn nach § 1666 BGB das Vormundschaftsgericht die erforderlichen Maßnahmen zum Wohle des Kindes trifft (vgl. BT-Drucks 16/1410, S. 20 zu Nr. 7 Buchst. c). Der Kläger hielt sich jedoch seit dem 29. Oktober 2012, d.h. während seiner "Dauerbeurlaubung" aus dem Maßregelvollzug, nicht mehr in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung i. S. d. genannten Norm auf. In seiner neueren Rechtsprechung zur Regelung des § 7 Abs. 4 SGB II hat das BSG festgestellt, dass der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung nach der seit 1. August 2006 geltenden Gesetzesfassung Leistungen nach dem SGB II dann ausschließt, wenn der Träger der Einrichtung nach Maßgabe seines Konzepts die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration des Hilfebedürftigen übernimmt (Urteile vom 5. Juni 2014 - B 4 AS 32/13 R - und vom 2. Dezember 2014 - B 14 AS 35/13 R). Diese Rechtsprechung des BSG, der eine Fallkonstellation des § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II zugrunde lag, ist - entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten - zu übertragen auf Fälle des Aufenthalts in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung, da nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II diese Fälle denen des Aufenthalts in einer stationären Einrichtung nach § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II ausdrücklich gleichgestellt sind. Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung des BSG an. Das BSG hat in der genannten Entscheidung vom 5. Juni 2014 klargestellt, dass an der früheren Rechtsprechung, die zur bis 31. Juli 2006 geltenden Gesetzesfassung ergangen ist, vor allem an dem darin entwickelten funktionalen Einrichtungsbegriff nicht mehr festgehalten werden könne. Insbesondere § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II in der nunmehr geltenden Fassung, wonach eine ausdrückliche Rücknahme vom Leistungsausschluss lediglich für den Fall einer tatsächlichen Erwerbstätigkeit vorgesehen sei, gebe Anlass zu einer Modifizierung des bisherigen Einrichtungsbegriffs in Zusammenschau mit dem sozialhilferechtlichen Begriffsverständnisses aus § 13 SGB XII. Aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II, der Gesetzesbegründung, dem Sinn und Zweck und der Systematik folgert das BSG, dass für das Eingreifen eines Leistungsausschlusses drei Voraussetzungen vorliegen müssen, 1. eine in einer Einrichtung erfolgende Leistungserbringung, 2. eine stationär erfolgende Leistungserbringung, 3. eine Unterbringung in einer Einrichtung. Dabei hat das BSG hinsichtlich des Einrichtungsbegriffs ausdrücklich auf § 13 SGB XII Bezug genommen in der Absicht, das in der Kommentarliteratur kritisierte Auseinanderfallen der Einrichtungsbegriffe nach dem SGB II und dem SGB XII aufzuheben und sich für die Frage der Zuordnung zu einem der beiden Leistungssysteme für einen einheitlichen Einrichtungsbegriff entschieden (ebenso Bayerisches LSG, Urteil vom 17. September 2014 - L 16 AS 813/13). Das BSG hat weiter ausgeführt, dass von einer stationären Leistungserbringung nur ausgegangen werden könne, wenn der Leistungsempfänger nach formaler Aufnahme in der Institution lebe und die Unterbringung Teil der Leistungserbringung sei. Das Erfordernis der Unterbringung sei von § 7 Abs. 4 SGB II - insoweit differenziert das BSG nicht zwischen S. 1 und S. 2 der Norm (vgl. juris Rn. 28) - ausdrücklich zum Tatbestandsmerkmal erhoben worden. Von einer Unterbringung im Sinne der Vorschrift sei nur auszugehen, wenn der Träger der Einrichtung nach Maßgabe seines Konzeptes die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration des Hilfebedürftigen übernehme; ein geringes Maß an Unterbringung im Sinne einer formalen Aufnahme genüge hingegen nicht. Insbesondere die Voraussetzungen einer stationären Unterbringung in einer Einrichtung waren nach Erteilung der dauerhaften Beurlaubung des Klägers und damit während des dauerhaften Aufenthaltes in der Wohnung seiner Lebensgefährtin in M. nicht mehr gegeben. Der Kläger hat in dieser Zeit auch keine stationären Leistungen mehr erhalten, sondern ist nur zur Durchführung ambulanter Gespräche im Monatsrhythmus im Q. erschienen. Der Kläger hat zumindest ab 29. Oktober 2012 vom Maßregelträger keine Gesamtleistung erhalten, insbesondere keine Leistungen im Sinne von Unterkunft und Verpflegung. Damit hat der Träger die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung nahezu vollständig an den Kläger abgegeben (vgl. i. E. ebenso Bayerisches LSG, a.a.O.; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 24. März 2015 - L 7 AS 1504/13; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 3. Dezember 2014 - L 19 AS 1600/11; SG Landshut, Teilurteil vom 23. Oktober 2013 - S 10 AS 905/12). Auch die Tatsache, dass der Kläger im streitigen Zeitraum seinen Lebensunterhalt außerhalb der Einrichtung selbständig sicherstellen musste, spricht für diese Auslegung. Gleiches gilt für die Zielrichtung der erfolgten Dauerbeurlaubung, die im Sinne der Resozialisierung und zur Vorbereitung auf ein selbstbestimmtes Leben und zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erfolgt (vgl. Bayerisches LSG, a.a.O.). Dagegen führt nach obigen Ausführungen die Tatsache, dass eine förmliche Entlassung aus dem Maßregelvollzug durch das LG im streitigen Zeitraum noch nicht erfolgt ist, sondern die Unterbringung im maßregelvollzugsrechtlichen Sinne fortdauerte, zu keinem anderen Ergebnis. Nach alledem hat das SG den Beklagten im Ergebnis zu Recht verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum 30. Oktober 2012 bis 8. Januar 2013 Leistungen nach dem SGB II zu erbringen. Dabei sind die bereits erbrachten Leistungen in Höhe von 522 EUR anzurechnen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Bei dieser nach billigem Ermessen zu treffenden Entscheidung hat der Senat berücksichtigt, dass der Kläger mit seinem Klagebegehren in vollem Umfang obsiegt hat.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.