Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 11.02.2004, Az.: 6 A 193/03
Aufklärung; Ermittlung; Ermittlungsaufwand; Ermittlungsunmöglichkeit; Fahrtenbuch; Fahrtenbuchanordnung; Fahrtenbuchanordnungsdauer; Fahrtenbuchauflage; Fahrtenbuchauflagendauer; Fahrzeugführerfeststellung; Fahrzeughalter; Fahrzeugnutzung; Frontfoto; Geschwindigkeitsverstoß; Geschwindigkeitsüberschreitung; Geschwindigkeitsübertretung; Halter; Kraftfahrzeug; Lichtbild; Lichtbildvergleich; Mitwirkung; Mitwirkungshandlung; Probefahrt; Punkt; Punktebewertung; Punkteeintrag; Punktsystem; Straßenverkehr; Tataufklärung; Verkehrsverstoß; Verkehrszentralregister; Zuwiderhandlung
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 11.02.2004
- Aktenzeichen
- 6 A 193/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 50933
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 31a StVZO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Wenn der Halter sein Kraftfahrzeug (zur Probefahrt) einem ihm Unbekanntem überlässt, der damit einen erheblichen Verkehrsverstoß begeht, schafft er in besonderem Maße die Voraussetzungen dafür, dass der Bußgeldbehörde die Ermittlung des verantwortlichen Fahrzeugführers im Sinne des § 31a StVZO unmöglich ist.
2. Ein Geschwindigkeitsverstoß von mehr als 30 km/h (hier 36 km/h) rechtfertigt eine Fahrtenbuchanordnung für die Dauer von 12 Monaten, zumal wenn er innerorts begangen wird (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung).
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Anordnung, für die Dauer von zwölf Monaten ein Fahrtenbuch zu führen.
Der Kläger war Halter eines Personenkraftwagens der Marke Volvo mit dem amtlichen Kennzeichen B. 10.
Nach einem vom Landkreis Celle eingeleiteten Bußgeldverfahren soll mit diesem Fahrzeug am 27.06.2002 um 10:09 Uhr innerhalb der Ortschaft von Offen auf der B 3 bei km 18,98 in Richtung Bergen die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h abzüglich der Toleranz um 36 km/h überschritten worden sein. Die Ordnungswidrigkeit wurde durch ein geeichtes Geschwindigkeitsmessgerät und ein Frontfoto dokumentiert. Auf dem ihm übersandten Anhörungsbogen zum Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit führte der Kläger unter dem 05.07.2002 aus: "Während eines Campingaufenthaltes meiner Frau kam es zu Verkaufsgesprächen und Verhandlungen mit Probefahrt mit mehreren Interessenten. Die Probefahrt fand am o.g. Datum statt. Wer das Fahrzeug fuhr, ist nicht nachvollziehbar." Nachdem auch ein Abgleich des Passfotos des Klägers mit dem undeutlichen Frontfoto eine Identifizierung des Fahrers nicht zuließ, und der Kläger gegenüber der Bußgeldbehörde am 23.07.2002 telefonisch mitgeteilt hatte, er wisse nicht, wer zum Tatzeitpunkt das Fahrzeug geführt habe, das für Probefahrten benutzt worden sei, stellte die Behörde das Ordnungswidrigkeitenverfahren ein und unterrichtete die Beklagte.
Nach vorheriger Anhörung des Klägers gab ihm die Beklagte mit Bescheid vom 21.11.2002 auf, für die Dauer von zwölf Monaten für das o.g. Fahrzeug - auch für ein Ersatzfahrzeug - ein Fahrtenbuch zu führen.
Der Kläger erhob hiergegen Widerspruch, den die Bezirksregierung Braunschweig mit Widerspruchsbescheid vom 07.04.2003 - zugestellt am 09.04.2003 - zurückwies.
Mit der am 09.05.2003 erhobenen Klage macht der Kläger im Wesentlichen geltend:
Er habe sich nicht geweigert an der Aufklärung des Verkehrsverstosses mitzuwirken. Er habe sich am 27.06.2002 beim Campingaufenthalt in der Heide befunden und dabei mit mehreren Interessenten über den Verkauf seines PKW gesprochen. Einer davon habe eine Probefahrt unternommen. Er habe sich zwar kurz die Fahrerlaubnis zeigen lassen, sich jedoch Namen und Adresse nicht notiert, da ein Kaufvertrag schließlich nicht geschlossen worden sei. Auch über die Campingplatzverwaltung sei es ihm nicht gelungen, den Namen des Interessenten ausfindig zu machen. Es handele sich um einen einmaligen Fall, der sich nicht wiederholen werde, da er sein Fahrzeug nicht verleihe und zukünftig auch im Falle einer Probefahrt Name und Adresse des Fahrzeugführers notieren werde. Der Bescheid sei im Übrigen auch deshalb unverhältnismäßig, weil er bislang nicht auffällig geworden sei.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 21.11.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung Braunschweig vom 07.04.2003 aufzuheben.
Die Beklagte hält an der Entscheidung fest und beantragt,
die Klage zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten.
Rechtsgrundlage für die gegenüber dem Kläger als Fahrzeughalter angeordnete Maßnahme der Beklagten ist § 31a Satz 1 StVZO. Nach dieser Vorschrift kann die Verwaltungsbehörde einem Fahrzeughalter für ein oder mehrere Fahrzeuge das Führen eines Fahrtenbuches auferlegen, wenn die Feststellung des Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war. Das ist hier der Fall.
Eine Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften in dem genannten Sinne ist darin zu sehen, dass mit dem Kraftfahrzeug des Klägers am 27.06.2002 um 10:09 Uhr innerhalb der Ortschaft von Offen auf der B 3 bei km 18,98 in Richtung Bergen die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h abzüglich der Toleranz um 36 km/h überschritten wurde. In einer Geschwindigkeitsübertretung dieser Größenordnung liegt ein erheblicher Verkehrsverstoß, der bereits nach einem erstmaligen Vorfall die Anordnung rechtfertigt, ein Fahrtenbuch zu führen (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.12.1982 - Bay.VBl. 1983, 310; Urt. vom 17.05.1995 - 11 C 12.94 -, BVerwGE 98, 227; Beschl. vom 09.09.1999 - 3 B 94.99 -, NZV 2000, 386; Nds. OVG, Urt. vom 26.06.1980 - 12 OVG A 45/80; Beschl. vom 27.06.00 - 12 L 2377/00). Des Nachweises einer konkreten Gefährdung durch diesen Verkehrsverstoß bedarf es nicht.
Die Feststellung des Fahrzeugführers, der bei dem Verkehrsverstoß das Fahrzeug gefahren hat, war der zuständigen Ordnungsbehörde darüber hinaus i.S.d. § 31a StVZO nicht möglich. Eine solche Sachlage ist gegeben, wenn die Behörde nach den Umständen des Einzelfalles nicht in der Lage war, den Täter zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat. Ob die Aufklärung angemessen war, richtet sich insoweit danach, ob die Behörde in sachgerechtem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen getroffen hat, die der Bedeutung des aufzuklärenden Verkehrsverstoßes gerecht werden und erfahrungsgemäß Erfolg haben können. Dabei kann sich Art und Umfang der Tätigkeit der Behörde, den Fahrzeugführer nach einem Verkehrsverstoß zu ermitteln, an der Erklärung des Fahrzeughalters ausrichten. Lehnt dieser erkennbar die Mitwirkung einer Aufklärung des Verkehrsverstoßes ab oder erklärt er, dazu nicht im Stande zu sein, so ist es der Behörde regelmäßig nicht zuzumuten, wahllos zeitraubende und kaum Aussicht auf Erfolg bietende Ermittlungen zu betreiben (BVerwG, Urt. vom 17.12.1982 - Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 11 m. w. N.; Beschl. vom 21.10.1987 - Buchholz, a.a.O., Nr. 18 m. w. N.; Beschl. vom 23.12.1996 - 11 B 84/96 -; Nds. OVG, Beschl. vom 17.02.1999 - 12 L 669/99 -, Beschl. vom 27.06.00 - 12 L 2377/00).
Ausgehend von diesen Grundsätzen war der Ermittlungsaufwand der Behörde angemessen. Sie durfte auf Grund der Erklärungen des Klägers, dass nicht er, sondern ein anderer ihm namentlich nicht Bekannter gefahren sei, annehmen, dass es ihr nicht möglich sein wird, den Fahrer zu ermitteln. Indem sie noch anhand eines Lichtbildvergleichs versucht hat abzuklären, ob der Kläger auf dem undeutlichen Frontfoto abgebildet ist, hat sie das ihr Mögliche und Zumutbare zur Fahrerfeststellung getan. Dies bestreitet auch der Kläger nicht, der ja gerade selbst behauptet, er sei nicht gefahren und habe den Fahrer trotz eigener Ermittlungen nicht ausfindig machen können. Umso weniger konnte dies der Behörde gelingen, zumal der Kläger weder eine Täterbeschreibung gegeben noch die Behörde über den Kreis der für weitere Ermittlungsansätze in Betracht kommenden Auskunftspersonen (etwa den Campingplatzbesitzer) informiert hat.
Entgegen der Auffassung des Klägers hat die Beklagte ihr Ermessen nicht fehlerhaft ausgeübt. Die getroffene Maßnahme ist insbesondere nicht unverhältnismäßig.
In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass bereits eine einmalige Geschwindigkeitsüberschreitung von mehr als 20 km/h regelmäßig eine so erhebliche Verkehrsübertretung darstellt, dass eine Androhung nicht ausreichend, sondern die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage geboten ist, selbst wenn durch die Geschwindigkeitsübertretung, die eine der hauptsächlichen Unfallursachen ist, eine konkrete Gefährdung nicht eingetreten ist (st. Rspr., vgl. BVerwG, Urt. vom 17.05.1995, BVerwGE 98, 227 = NZV 1995, 460 m.w.Nw.; Beschl. v. 12.07.1995, NJW 1995, 3402; Beschl. vom 09.09.1999, NZV 2000, 386 [BVerwG 18.10.1999 - BVerwG 3 B 105.99]; Nds. OVG, Urt. vom 08.05.1995 - 12 L 7501/94 -; Beschl. vom 20.04.1998 - 12 L 1886/98 -; Nds. OVG, Beschl. vom 27.06.2000 - 12 L 2377/00 -; VG Braunschweig, Urt. vom 10.10.2000 - 322/99 - und 19.12.2003 - 6 A 738/02 -).
Als Maßnahme der Gefahrenabwehr ergänzt die Fahrtenbuchanordnung die für das fragliche Fahrzeug bestehende Kennzeichnungspflicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 2a StVG i.V.m. den §§ 18, 23 StVZO. Um die hiernach gebotene Überwachung der Fahrzeugbenutzung durchführen und den Fahrzeughalter zur zukünftigen Mitwirkung bei der Feststellung des Fahrzeugführers im Falle eines erneuten Verkehrsverstoßes anhalten zu können, ist eine gewisse, nicht zu geringe Dauer der Fahrtenbuchauflage erforderlich. Bereits ein Geschwindigkeitsverstoß, der zu einer Eintragung in das Verkehrszentralregister von einem Punkt führt, rechtfertigt eine Anordnung zur Führung eines Fahrtenbuches von sechs Monaten (vgl. dazu etwa BVerwG, Urt. vom 17.05.1995, aaO; Nds. OVG Beschl. vom 08.03.1999 - 12 L 976/99 -, Beschl. vom 27.06.00 - 12 L 2377/00 - m. w. Nw.). Bei einem Verstoß, der - wie hier - gemäß Nr. 5.4 der Anlage 13 ("Punktebewertung nach dem Punktsystem") zu § 40 der Fahrerlaubnis-Verordnung zu einer Eintragung von drei Punkten im Verkehrszentralregister geführt hätte und mit Rücksicht auf die erheblich erhöhte Gefährlichkeit eines innerhalb der geschlossenen Ortschaft begangenen Geschwindigkeitsverstoßes der hier gegebenen Größenordnung übersteigt eine Anordnung, die sich auf zwölf Monate erstreckt, das zulässige Maß der gebotenen effektiven Kontrolle nicht und stellt auch keine übermäßige Belastung dar (vgl. dazu bereits BVerwG, Urt. vom 13.10.1978 - VII C 49.77 - VkBl. 1979, 209 - zitiert nach Juris; BVerwG, Beschl. vom 23.06.1989 - 7 B 90/89 - Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 20; VGH Bad.-Württ., Urt. vom 18.06.1991 - 10 S 938/91 - NZV 1991, 445; VG Berlin, Urt. vom 28.05.1998 - 25 A 172.97 -, NZV 1999, 104 [OVG Nordrhein-Westfalen 12.08.1998 - 25 B 3118/97]; VG Braunschweig, Urt. vom 02.04.2003 - 6 A 602/02 m. w. Nw.; ebenso Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. A., § 31a StVZO, Rn 8).
Die angegriffene Fahrtenbuchanordnung widerspricht auch nicht dem Zweck der Bestimmungen in § 31a StVZO. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Gefahr besteht, dass der Kläger künftig als Fahrzeugführer gegen straßenverkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen wird. Die Fahrtenbuchanordnung soll nicht nur Verkehrszuwiderhandlungen durch den Fahrzeughalter vorbeugen, sondern hat eine umfassendere Aufgabe. Mit ihr soll sichergestellt werden, dass bei künftigen Verkehrsverstößen mit dem Fahrzeug die Feststellung des Fahrers anders als in dem Anlassfall ohne Schwierigkeiten möglich ist. Sie richtet sich an den Fahrzeughalter, weil dieser die Verfügungsbefugnis und die Möglichkeit der Kontrolle über sein Fahrzeug besitzt. Auch wenn von dem Fahrzeughalter selbst keine Verkehrszuwiderhandlungen zu befürchten wären, stünde dies der Fahrtenbuchanordnung nicht entgegen.
Die Erklärung des Klägers, er werde alles dafür tun, bei künftigen Verkehrsordnungswidrigkeiten den verantwortlichen Fahrer festzustellen, steht der Fahrtenbuchanordnung nicht entgegen. Die Anordnung bleibt erforderlich, weil sie den Halter zu einer dokumentierten und damit nachprüfbaren Überwachung der Fahrzeugnutzung verpflichtet und daher die Feststellung des Fahrzeugführers im Falle einer erneuten Verkehrsordnungswidrigkeit effektiver gewährleistet als die bloße Ankündigung künftiger Mitwirkungshandlungen. Im Übrigen kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kläger schon einmal besonders unsorgfältig gewesen ist, als er einem anderen, den er nach eigenem Vorbringen namentlich und auch sonst nicht näher kannte, sein Fahrzeug anvertraut hat.
Frei von Ermessensfehlern ist die Fahrtenbuchanordnung auch, soweit sie sich auf ein Ersatzfahrzeug für das Kraftfahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen BS-CJ 10 erstreckt, das der Kläger nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung im November 2003 veräußert hat. Die Anordnung eines Fahrtenbuchs für ein Ersatzfahrzeug, die ihre Rechtsgrundlage ebenfalls in § 31a Abs. 1 Satz 2 StVZO findet, ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in aller Regel vereinbar. Nur so kann bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens sichergestellt werden, dass die Regelungen in § 31a StVZO nicht leer laufen und der Halter sich seiner Verpflichtung nicht durch den Verkauf des von der Fahrtenbuchanordnung unmittelbar erfassten Fahrzeugs entzieht. Anhaltspunkte, die für den vorliegenden Fall eine Ausnahme rechtfertigen würden, sind nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus der Anwendung der §§ 167 VwGO, 711 und 708 Nr. 11 ZPO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG und berücksichtigt für jeden Monat der Dauer der streitigen Anordnung einen Betrag in Höhe von 250,00 Euro (vgl. dazu Nr. 45.6 der Empfehlungen im Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung vom Januar 1996, DVBl. 1996, 605, 610).